Efeu - Die Kulturrundschau

Hoffnung klingt richtig gut

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2024. Die Berlinale schlägt Alarm: Die iranischen Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha dürfen nicht mehr ausreisen. Die FR lässt sich von Aïda Muluneh erklären, wie man ihre Bilder auf äthiopische - und das heißt hier: politische - Art betrachtet. In der SZ erklärt die Sopranistin Asmik Gregorian, warum sie auf der Bühne nie versucht, eine Turandot oder Salome zu sein. Mit dem Niedergang von Pitchfork zeigt sich auch die handfeste Krise des Kulturjournalismus, der dem Effizienzdiktat geopfert werden soll, schreibt 54books.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2024 finden Sie hier

Film

Iran hat den beiden Filmemachern Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha verboten, das Land zu verlassen und im Februar die Berlinale zu besuchen, wo ihr Film "My Favourite Cake" im Wettbewerb läuft. Laut Pressemitteilung des Festivals droht den beiden zudem "in Bezug auf ihre Arbeit ... ein Gerichtsverfahren". Die beiden Filmschaffenden "hatten bereits 2021 auf dem Festival ihr Drama 'Ballad of the White Cow' gezeigt, das vom Justizsystem im Iran und von der Todesstrafe handelt", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. "'My Favourite Cake' ist ein leichterer Film, mit komödiantischen Elementen, wie Chatrian bei der Vorstellung des Programms sagte. Die Gegenwart in Teheran ist gleichwohl präsent: Im Zentrum des Films steht eine Frau, die ihren Wünschen nicht ganz regelkonform nachgehen möchte."

Strauchelnder Verweigerer: Voodoo Jürgens in "Rickerl"

Adrian Goigingers in Wien spielende Austropop-Komödie "Rickerl - Musik is höchstens a Hobby" mit Voodoo Jürgens ist "eine der lustigsten deutschsprachigen Komödien der letzten Jahre", verspricht Kamil Moll auf Filmstarts. "In entspanntem Erzähltempo erzählt Adrian Goiginger Rickerls Geschichte mit viel Gespür und sichtbarer Liebe für Kneipenpalaver und vermeidet es dabei gekonnt, in sozialmelodramatische Klischees zu verfallen. Der herumstrauchelnde Verweigerer wird nicht als tragischer Fall gezeichnet, sondern als ein moderner Antiheld, der sich mit Schnauze und Schmelz dem Kampf gegen die Zumutungen des Alltags und Arbeitslebens, einem falschen Leben, stellt. 'Wann wirst du endlich in der Gegenwart ankommen?', fragt ihn mal jemand. Seine Antwort darauf: 'Auf die Gegenwart ist g'schissen.'" Auch Artechock-Kritker Axel Timo Purr schließt den Film in sein Herz, der der "herrschenden Moral ein Schnippchen" schlägt. "Dazu gehört dann auch, dass die Menschen hier unverantwortlich handeln, alle rauchen und saufen, auf alles folkloristisch Aufgesetzte scheißen" und "sich dennoch irgendwie alle lieben. Das ist schrecklich, aber auch schön. Das ist grausam, aber auch herzzerreißend."

Außerdem: Florian Weigl resümiert für critic.de die "White Nights"-Ausgabe des Fantasy Filmfests. Leonie C. Wagner porträtiert für die NZZ die Schweizer Schauspielerin Dominique Devenport. Chris Schinke schreibt für den Filmdienst einen Nachruf auf den Regisseur Norman Jewison.

Besprochen werden Agnieszka Hollands "Green Border" (Perlentaucher, Artechock, mehr dazu bereits hier), "Eine Million Minuten" mit Tom Schilling und Karoline Herfurth (Welt), Leiv Igor Devolds "Norwegian Dream" (Artechock), die von Steven Spielberg und Tom Hanks produzierte Serie "Masters of the Air" (NZZ) und Matthew Vaughns Actionkomödie "Argylle" (taz, FD).
Archiv: Film

Kunst


Aida Muluneh, Memory of Libya, 2016 © Aida Muluneh


Filmisch, aber ganz anders, arbeitet auch die äthiopische Fotografin Aïda Muluneh, mit starken Farben, die von der oft dahinterliegenden Grausamkeit ablenken können - wenn man das will, erklärt in der FR Lisa Berins, die Mulunehs Arbeiten im Fotografie Forum Frankfurt gesehen hat: "Eine Gruppe Äthiopier, die auf dem Weg zum Sehnsuchtsziel Europa gewesen sei, wurde von Islamisten gekidnappt und am Strand enthauptet - Videos davon kursierten im Netz. Das Werk 'Memory of Libya' von 2016 erzählt von diesem Massaker. Allerdings, sagt Muluneh, spreche es auf äthiopische Art, und das bedeute: nicht auf direkte, konfrontative Weise, sondern verpackt, mit doppeltem Boden. Zu sehen sind vor einem gelben Hintergrund einige Frauenköpfe, die über die Kante eines komplett über die Breite des Bildes gespannten, roten (blutroten) Tuchs hervorschauen. Die ästhetische Ebene, sagt Muluneh, spreche die europäischen Betrachtenden an, während die äthiopischen genau wüssten, was mit einer solchen Bildsprache gemeint sei." (Mehr über Muluneh bei lens culture)

Weiteres: Im Dresdner Hygienemuseum wurde ein altes Wandbild des damaligen Studenten Gerhard Richter freigelegt, "Lebensfreude" von 1956: "heitere, gesunde Menschen" bei Tanz und Picknick, wie Peter Richter in der SZ spöttisch bemerkt. In der Zeit berichtet darüber Linda Tutmann. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Jurte jetzt! Nomadisches Design neu gelebt" im Hamburger Markk (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Susann Thiede in "Alles" von Alistair McDowall am Theater Cottbus. Foto: Bernd Schönberger


Dramatiker wissen auch nicht immer, was am besten für ihre Texte ist, denkt sich FAZ-Kritiker Christoph Weissermel bei der Aufführung von Alistair McDowalls "Alles" am Theater Cottbus: Das Stück "führt als Monolog durch das unspektakuläre Leben einer betont durchschnittlichen Frau der Gegenwart. Nur zwei Regieanweisungen sieht der Originaltext vor: Eine einzelne Person soll den Text sprechen, und sie soll dies zügig tun. Im Gegensatz zur Uraufführung am Londoner Royal Court Theatre 2020 ignoriert in Cottbus Regisseur Rafael Ossami Saidy gleich beide - zum Glück. Denn dadurch, dass vier Schauspielerinnen die namenlose Protagonistin in unterschiedlichen Lebensphasen geben, gelingt es, Stimmungsverschiebungen des Textes besser zur Geltung kommen zu lassen. Anstelle den Text herunterzurasen, gibt ihm Saidy auch im wörtlichen Sinne Raum: 'Alles' wird als Theaterrundgang inszeniert".

Die Sopranistin Asmik Gregorian hat gerade zwei Aufnahmen der "Vier letzten Lieder" von Richard Strauss vorgelegt, die SZ-Kritiker Helmut Mauro beide empfehlen kann (vor allem aber die Aufnahme mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France unter Leitung von Mikko Franck). Außerdem ist sie am Sonntag in München als Lisa in Tschaikowskys "Pique Dame" zu hören. Spielen tut sie aber nicht, erklärt sie Egbert Tholl im SZ-Interview: "Ich bringe mich selbst in der Situation zum Ausdruck. ... Ein Beispiel: Ich machte gerade Turandot. Davor gab es viele Gespräche, warum macht Turandot dies oder das, überlebt sie oder nicht. Danach kommen die Kommentare dazu: Sie ist keine Turandot oder keine Salome oder was auch immer. Da denke ich mir: Ich habe nie versucht, eine Turandot zu sein oder eine Salome. Ich benutze die Rolle und die Musik, um mich selbst auszudrücken, meine Nöte, mein Leben. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was Puccini mit Turandot wollte oder Strauss mit der Salome."

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns "Das Portal" in der Inszenierung von Herbert Fritsch am Schauspiel Stuttgart (FR) und die Netflix-Serie "Stranger Things" als Bühnenspektakel in London (SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Christiane Schlötzer schreibt in der SZ zum Tod des türkischen Schriftstellers Mario Levi. Besprochen wird unter anderem Henning Ziebritzkis "Gar nicht viel" mit Essays über Poesie (FR).
Archiv: Literatur

Musik

Einfach nur noch bitter findet Johannes Franzen in einem großen Essay auf 54books das per Konzernbeschluss herbeigeführte Ende des für den Diskurs einst so wichtigen Online-Musikmagazins Pitchfork als Musiksparte im Männermagazin GQ: "Eine nackte Form der unternehmerischen Zerstörung" sieht er am Werk, sowie "die kalte Grausamkeit einer ökonomischen Kultur", welche "über Metaphern wie 'Umstrukturierungen' Jahrzehnte der Arbeit einfach zunichte machen kann. ... Der ganze Fall ist symptomatisch für den Niedergang der Geistesarbeit, für den Status des öffentlichen Nachdenkens über Kunst und Kultur", das "immer stärker ins Zwielicht der gesellschaftlichen Nutzlosigkeit gerückt" wird. "Es ist ein trauriges Schauspiel, dass sich liberale Überflussgesellschaften dazu entscheiden, auf das ernsthafte öffentliche Nachdenken über Kunst und Kultur zu verzichten. Wenn die Zerstörung der Medien, wo geistreich und mit intellektuellem Anspruch über Bücher, Musik, Kunst, Serien, Film, Theater geschrieben wird, in diesem Tempo weitergeht, wird Kulturjournalismus in wenigen Jahren wieder ein reines Privileg einer Elite von Amateuren sein. Mit jedem kulturjournalistischen Medium, das kaputt gemacht wird, verschwindet auch eine soziale Infrastruktur des Austauschs."

Das neue Album "Don't Play with the Rich Kids" der seit Jahren nach Berlin (Sänger und Gitarrist Andreas Spechtl lebt mittlerweile gar in Argentinien) ausgewanderten Wiener Gruppe Ja, Panik klingt mitunter "wie eine spät gehobene Blumfeld-Platte" und "nach einer Hommage an David Bowie", schreibt Karl Fluch im Standard. "Ja, Panik pflegen den Optimismus, glauben in 'Changes' (Bowie, erneut) an die Veränderbarkeit, singen forsch: 'Weil ich glaub' schon, dass man uns ändern kann.' ... Offen bleibt die Antwort, wer oder was die notwendige Änderung herbeiführen könnte, aber die Kunst muss keine Antworten bieten, ein paar gescheite Fragen und Gedanken reichen. ... Fast wirkt es, als wäre der Zustand des Haderns in eine neue Form des Selbstbewusstseins gekippt. Das macht das neue Album ungestüm und lebendig. Am Ende ist man bereit zu sagen: Die Hoffnung lebt nicht nur, sie klingt richtig gut." Für das Album hat Spechtl seine jugendliche Leidenschaft fürs Gitarrespiel wieder aufgewärmt, verrät er Marius Magaard im taz-Gespräch: "Was mich lange am Sound der Gitarre gestört hat, war, dass sie für mich immer so authentisch und handgemacht klingt. Dieses Klangbild wollten wir unterwandern: Gerade die Gitarren haben wir daher stark verfremdet. In Songs wie 'Dream 12059' ist sie digital verzerrt und die Bitrate heruntergerechnet, so wie man es eher in der elektronischen Musik macht. Das heißt: Die Synthesizer klingen hier eigentlich echter als die Gitarren."



Außerdem: In seinem Poptagebuch für den Rolling Stone erzählt Eric Pfeil von seiner neuen Leidenschaft für "Rockmusiker-Dokus mit deutschem Voice-over. Hui, das ist ein Spaß!" Hansjürgen Mai berichtet in der taz von neuen Verschwörungstheorien aus dem Trump-Milieu rund um Taylor Swift. Jakob Biazza wirft für die SZ einen Blick auf den neuesten Irrsinn im Auktionshandel rund um Devotionalien aus der Rockgeschichte. In der FAZ gratuliert Gina Thomas dem Dirigenten Andrew Davis zum 80. Geburtstag. Marcus Jung schreibt in der Frankfurter Pop-Anthologie über "Weak Become Heroes" von The Street.

Besprochen werden das Debütalbum von The Last Dinner Party (Presse, SZ), diverse Kammermusikkonzerte in Berlin (VAN), ein Konzert der Wiener Symphoniker unter Susanna Mälkki (Standard), Johny Marrs Buch über seine Lieblingsgitarren (FAZ) und neue Veröffentlichungen aus dem Berliner Underground, darunter Kara Deliks "All the Singularities I-IV" ("Zwischen nervösem Postpunk und Anadolu-Rock-Spezereien (...) stehen immer wieder entschleunigte Momente in Dub", schreibt tazlerin Stephanie Grimm).

Archiv: Musik