Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen Wohlstandsaufhellern und Elendsbetäubern

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09.02.2024. Nachdem die Berlinale Vertreter der AFD wieder ausgeladen hat, fragen SZ und Tagesspiegel, wie künftig mit der Partei umgegangen werden soll. Am Zürcher Schauspielhaus lernt die NZZ dank Trajal Harrell tänzerischen Gemeinschaftssinn kennen. Wie Museumsmitarbeiter Willy Kurth wichtige Kunstwerke der Moderne gerettet hat, lernt die Berliner Zeitung im Berliner Kupferstichkabinett. Van denkt sich in die kompositorisch-musikalische Wut von Olena Ilnytska auf Russland ein. Die FAZ bewundert die avantgardistische spanische Architektur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.02.2024 finden Sie hier

Film

Nach anhaltender Kritik hat die Berlinale Vertreter der AfD nun explizit von ihrer Eröffungsgala ausgeladen - hier das Statement des Festivals auf Instagram. Auf den ersten Blick findet SZ-Kritiker David Steinitz das zwar einleuchtend. Denn: Die Berlinale ist das politischste unter den A-Festivals, gibt sich weltoffen, zeigt Weltkino, lädt Filme und Journalisten aus aller Welt ein und hat als Publikumsfestival ein sehr diverses Publikum. "AfD-Politiker einzuladen, steht dieser Programmatik diametral entgegen". Doch "die Sache hat trotzdem das Potenzial, sich als Eigentor zu erweisen. Denn AfD-Politiker sitzen nun mal als gewählte Vertreter in politischen Institutionen, die traditionell zur Berlinale eingeladen werden, unabhängig von ihrer Ideologie. Jetzt geht garantiert ein neues Gezeter von rechts los, dass eine quasi-staatliche Institution wie die Berlinale alle gewählten Volksvertreter gleich behandeln müsse. Zumindest bislang hat man den Eindruck, dass die Diskussion um die Einladung vor allem jenen Defätisten und AfD-Sympathisanten in die Hände spielen könnte, die die ganze Veranstaltung tendenziell ohnehin für abschaffenswert halten."

Die Forderungen des sich eben in der deutschen Filmbranche gegründeten "Netzwerk Film & Demokratie", das vehement gegen die AfD auf dem Festival protestiert hatte, sind damit zwar erfüllt, schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. Doch "die Frage des Umgangs mit der Haltung der Partei zu Kunst und Kultur ist damit aber noch nicht vom Tisch. 'Filmpolitisch ist die AfD bisher lediglich durch Anfeindungen von Filmschaffenden und Anwürfen gegen Brancheninstitutionen aufgefallen', heißt es in der Protestnote des Netzwerks. 'Aus ihren Anträgen und ihrer Programmatik spricht der unverhohlene Wunsch nach einer staatlich in ihrem Sinne regulierten Kunst.'"

Weiteres: Frédéric Jaeger resümiert für critic.de das Filmfestival Rotterdam. Während Apple und Amazon das Kino als Plattform fǘr ihre Filme umwerben, knausert Netflix und schade damit sich selber, schreibt Jörg Taszman im Filmdienst. Schade findet es Michèle Binswanger im Tagesanzeiger, dass Biopics ihre Figuren nicht mehr als Helden zeigen wollen. Bidhan Rebeiro berichtet für Artechock vom 22. Dhaka International Film Festival. Artechock bringt verstreute Notizen von Rüdiger Suchsland zum Film- und Mediengeschehen. Christiane Peitz schlüsselt im Tagesspiegel die Berlinale nach Zahlen auf. Besprochen werden Andrew Haighs "All of Us Strangers" (Presse, Welt, Standard, mehr dazu hier), Blitz Bazawules Neuverfilmug von Alice Walkers Roman "Die Farbe Lila" als Musical (NZZ) und die ARD-Serie "Die Notärztin" (Tsp).
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Stichwörter: Berlinale, Berlinale 2024, AfD, Netflix, ARD

Kunst

Erich Büttner: Porträt Willy Kurth, 1917. Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.
In der Berliner Zeitung freut sich Ingeborg Ruthe, mit der Ausstellung "Die gerettete Moderne" im Berliner Kupferstichkabinett nicht nur wichtige von den Nazis als "entartet" gebrandmarkte Werke der Moderne zu sehen, sondern auch die Geschichte ihrer Rettung kennenzulernen. Willy Kurth war 1937 der zuständige Mitarbeiter für Druckgrafiken: "700 Blätter des Kupferstichkabinetts wurden beschlagnahmt. Der Museumsmann Kurth versuchte, noch Schlimmeres zu verhindern. Er selbst hatte (gegen den Willen seines den Nazis willfährigen Direktors Friedrich Winkler, der die Moderne ablehnte) noch Anfang 1937 Grafiken von Otto Mueller, Wassili Kandinsky, Otto Dix, George Grosz und auch Ernst Barlachs 'Totentanz' erworben. Kurth riskierte Kopf und Kragen, als er klammheimlich aus den Sammlungsbeständen solche vom Stigma bedrohten, meist farbgrafischen Meisterblätter und kostbaren Mappenwerke herausnahm. Er schaffte sie trickreich beiseite, versteckte sie raffiniert in Schüben mit alten, unbedeutenden, vergessenen Grafiken, die eh nie hervorgeholt wurden. Wer von den NS-Inquisitoren hätte schon die zumeist von Kurths Vorgänger Curt Glaser angeschafften Holzschnitte Kirchners und seiner Gefährten Heckel, Schmidt-Rottluff, Pechstein, die auf Blatt 4 den Rosa-Luxemburg-Mord darstellende 'Höllen'-Mappe Max Beckmanns (...) von 1904 unter Stapeln von uninteressanten Drucken vermutet?"


Frans Hals: Malle Babbe, um 1640. Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie.
Nach 35 Jahren gibt es endlich wieder eine Frans Hals-Retrospektive, freut sich Bernhard Schulz für monopol, in der Londoner National Gallery wurde sie zuerst gezeigt, jetzt im Amsterdamer Rijksmuseum, ab dem Sommer ist sie in der Berliner Gemäldegalerie zu sehen. Hals hatte insbesondere um 1900 einen Hype erfahren: "Warum gerade Hals?", fragt er sich. "Frans Hals war vor allem Porträtmaler, (...) Hals malte alle: beileibe nicht nur die wohlhabenden Bürger der Handelsnation Holland, die sich mit teurer Kleidung und rosigen Wangen im Zenit ihres Erfolgs abbilden ließen. Sondern ebenso Kinder, Trinker, Musikanten und eine ganze Anzahl von Außenseitern, Ausgestoßenen, mental Geschädigten. Berlin besitzt das berühmteste dieser Porträts, die Hals ohne Auftrag, aber mit größtem künstlerischen Einsatz gemalt hat, die 'Malle Babbe' von 1640, eine in eine Anstalt eingewiesene, gleichwohl lebensfrohe Frau mit Bierkrug und Eule auf der Schulter." Die Begeisterung für ihn hing auch mit seiner Malweise zusammen: "Die Berliner 'Malle Babbe' ist auch in dieser Hinsicht ein absolutes Meisterwerk. Der Kopf ist mit wenigen Pinselstrichen umrissen, die Kleidung aber ist mit Pinselhieben von links und rechts, oben und unten buchstäblich hingehauen. Die Pinselstriche vermitteln, was der Moderne so wichtig wurde: Unmittelbarkeit, Bewegung, Augenblick. Und sind im Augenblick zugleich zeitlos gültig."

Besprochen werden: Die Ausstellungen "Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit" in der Hamburger Kunsthalle (FR) und "Faszination Höhle" im Paula-Modersohn-Becker-Museum Bremen (taz).
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Architektur

Unió de Cooperadors in Gavá. Foto: Adrià Goula.

Die avantgardistische spanische Architekturgruppe GATCPAC um Josep Lluís Sert und Josep Torres Clavé hatte in einer kurzen Blütezeit der Dreißigerjahre in Gavá nahe Barcelona für einige herausragende Gemeinschaftsbauten verantwortlich gezeichnet, weiß Klaus Englert in der FAZ. Der Franquismus hatte der sozialen Aufbruchstimmung ein jähes Ende bereitet, nach langer Durststrecke hat sich die Architektin Meritxell Inaraja der rekonstruktiven Renovation eines Genossenschaftszentrums angenommen: "Die rationale Raumorganisation, von der sich einst Josep Sert und Josep Torres Clavé inspirieren ließen, ist heute, nachdem alle störenden Elemente beseitigt worden sind, wieder in neuer Frische zu spüren. Die renovierte Fassade, mit vorspringender, offener Terrasse, gitterförmiger Fensterrasterung und Grafik in Primärfarben aus der De-Stijl-Werkstatt machen den Geist der Anfangsjahre wieder lebendig, wie er Josep Torres Clavé einst vorgeschwebt haben muss. Behutsam hat Inaraja an der Rückseite, mit freiem Blick auf den Park, ein Stiegenhaus angefügt und damit die Lichtverhältnisse verbessert. Ansonsten dominieren raumgliedernde Pfosten und Stahlträger, verkleidete Gewölbeformationen und sorgsam ausgewählte Bodenfliesen."

Weiteres: Der Architekt Peter Kulka ist im Alter von 86 Jahren gestorben, melden FAZ und SZ.
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Bühne

Trajal Harrell: Tambourines. Foto: Orpheas Emirzas.
Dass die neue Leitung des Zürcher Schauspielhauses den Choreografen Trajal Harrell mit seinem Ensemble nicht übernehmen will, ist für Lilo Weber in der NZZ unbegreiflich. Sein letztes Stück "Tambourines" überzeugt, wie Harrell selbst deutlich macht, als Reaktion auf Nathaniel Hawthornes Roman "The Scarlet Letter", die aktueller nicht sein könnte: "Tatsächlich muss man Genderdiskussionen und postkoloniale Theorie nicht mögen, um diesen Tanz zu lieben. Trajal Harrell ist weit davon entfernt, sein Publikum in irgendeiner Art erziehen zu wollen. Seine bunte Truppe predigt nicht Diversität, sie lebt sie. Den Nerv unserer Zeit trifft sein Tanz auf einer anderen Ebene. In einer Gesellschaft lauter vereinzelter Menschen, die alle nach Einzigartigkeit streben, in einer Gesellschaft, in der jeder und jede für sich reklamieren kann, von irgendwoher und irgendwem diskriminiert zu werden, lebt dieser Tanz Gemeinsinn vor. Das ist das wirklich Subversive am Tanz des Trajal Harrell. Er setzt Gemeinsinn da, wo Worte und Rede Gemeinsinn zersetzen. Und das an einem Schauspielhaus."

Im Theater Basel sieht Nachtkritiker Jürgen Reuß die "Sommergäste": "Aus Maxim Gorkis bürgerlicher Intelligenzija ist in Dietmar Daths Überschreibung die gehobene Ebene von Digitalisierungswurschtlern samt Entourage geworden. Schlau genug, an der KI-getriebenen Ausbeutungsblase zu verdienen. Und stark genug von Verschwörungstheorien angefixt, um sich im Abglanz des Weltwirtschaftsforums zu sonnen, das der Stakeholderschamane Klaus Schwab jährlich in Davos veranstaltet." Die Inszenierung weiß mit digitalen Elementen zu spielen, kann den Kritiker zwischen "Wohlstandsaufhellern und Elendsbetäubern" aber nicht zu hundert Prozent überzeugen: "Man ist versucht, dasselbe Fazit zu ziehen, das Gorki 1904 nach seiner Uraufführung zog: 'Das Stück ist nicht besonders, aber ich habe getroffen, wohin ich gezielt habe.'"

Weiteres: Der Standard widmet sich österreichischen Theaterskandalen.

Besprochen wird: Antonín Dvořáks "Rusalka" an der Berliner Staatsoper (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Adelina Yefimenko spricht für VAN mit der ukrainischen Komponistin Olena Ilnytska. Unter anderem geht es um ihre von Frankreich aus unter den Eindrücken des Krieges in ihrer Heimat geschriebene Choralsinfonie "To Victory". In diese sind diverse ukrainische Lieder eingewoben, aber auch das russische Lied "Kalinka My" lässt sich erahnen: "Eigentlich sollte dieses Thema nicht zu hören sein - es ist da, aber es wird durch mikropolyphone Mittel verschleiert. Leider ist es in der Aufnahme stärker zu hören als in der Live-Aufführung. Nur der Rhythmus dieses frivolen, banalen Liedes hätte deutlicher zu hören sein müssen. So wollte ich meine Wut auf die Moskauer verewigen. Wenn Sie die Partitur im Detail analysieren, werden Sie weitere Zitate finden, darunter auch Gesänge aus unserer Nationalhymne. Ich habe versucht, eine Partitur zu schaffen, die so viele verschiedene Bedeutungen wie möglich enthält, so wie auch das musikalische Gewebe in der Barockmusik, insbesondere bei Bach, von rhetorischen Figuren durchdrungen ist. Ich möchte, dass die Bedeutung dieses Werks im Laufe der Zeit erhalten bleibt. Es geht nicht nur um irgendeinen Krieg, nicht nur um Gut und Böse, es geht um den Krieg der Ukraine gegen die russischen Invasoren. Alle musikalischen Mittel sprechen das direkt an."

Reinhard J. Brembeck wundert sich in der SZ angesichts der Turbulenzen bei den Wiener Festwochen - die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv hatte ihren Auftritt abgesagt, als ihr klar wurde, dass sie im Programm neben Teodor Currentzis stehen würde -, dass "ein sonst so politisch hellwacher Künstler" wie Intendant Milo Rau sich bei der Programmplanung so ungeschickt und vielleicht sogar naiv verhält. "Nun lohnt es darüber zu räsonieren, warum Milo Rau ebenso an Teodor Currentzis festhält wie Salzburgs Festspielchef Markus Hinterhäuser. Ob es um Kunstfreiheit geht, um die Möglichkeit eines Friedensdialogs, der mit einem schweigenden Currentzis aber nicht zu führen ist. Der Hauptgrund dürfte vielleicht ein künstlerischer sein: Es gibt schlicht keinen anderen Dirigenten, der derart mitreißend, visionär und eigenwillig die Musik von Mozart bis zur Moderne zu beleben weiß."

Im VAN-Gespräch blickt Stefan Lang, der jüngst pensionierte, langjährige Konzert-Redakteur von Dlf Kultur, auf seine Arbeit zurück. Im Programm machte er sich auch für die hidden gems in den Regionen stark: "So etwas im Radio abzubilden, sollte unbedingt beibehalten werden. Die öffentlich-rechtlichen Kulturradiosender stehen ja vor dem großen Dilemma, dass man von außen immer etwas fordert, was eigentlich nicht so richtig angebracht ist. Die sollen angeblich modernisieren, die sollen ihren Online-Bereich ausbauen und so weiter. Aber: Es braucht meiner Meinung nach doch vor allen Dingen Inhalt in Vielfalt und Geschick in der Vermittlung. Das ist und bleibt eine ganz zentrale Aufgabe. Und das ist doch eine Riesenchance, den Bestand zu untermauern. Irgendwelche beliebige Musik spielen: Das kann jede andere Station auch. Aber angeleitet auf die vielen individuellen Eigenheiten von Kulturregionen eingehen, mit Altem überraschen, das Entdeckte argumentativ präsentieren - das muss einfach Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Kultursender bleiben!"

Außerdem: Christian Wildhagen muss in der NZZ bekümmert feststellen, dass selbst bei einem von Paavo Järvi dirigiertem Konzert mit der Geigerin Vilde Frang der Saal in der Zürcher Tonhalle zu einem guten Drittel leer bleibt. Hannes Hintermeier liefert in der FAZ Hintergründe, warum die Münchner Musikhochschule keine Wagner-Feierlichkeiten in ihren Räumen haben möchte. Karl Fluch stellt im Standard die israelische ESC-Teilnehmerin Eden Golan vor, die Aktivisten am liebsten aus dem Wettbewerb mobben würden. Besprochen werden ein neues Album des Radiohead-Nebenprojekts The Smile (taz), Nachlass-Aufnahmen des Technoproduzenten Silent Servant (taz), Markus Kavkas und Elmar Giglingers Buch über die Geschichte des Musikfernsehens in Deutschland (online nachgereicht von der FAZ) und Helado Negros Album "Phasor" (Pitchfork).
    
Archiv: Musik

Literatur

Im Guardian verteidigt Bernardine Evaristo die Royal Society of Literature, der sie als Präsidentin vorsteht, gegen Anwürfe, es herrsche dort ein allgemeiner Niveauverfall und ein Klima von Zensur. Arno Widmann (FR) und Verena Lueken (FAZ) gratulieren der Schriftstellerin Alice Walker zum 80. Geburtstag. Judith von Sternburg berichtet in der FR von der Shortlistlesung für den Wortmeldungen-Literaturpreis in Frankfurt. Comiczeichner Jason gibt im Tagesspiegel-Fragebogen Auskunft über sich.

Besprochen werden unter anderem Joan Didions von Antje Rávik Strubel übersetzte Romane "Play it as it lays" und "Wie die Vögel unter dem Himmel" (taz), Vladimir Sorokins "Doktor Garin" (Welt, Standard), Bettina Görings Autobiografie "Der gute Onkel. Mein verdammtes deutsches Erbe" (online nachgereicht von der taz), Valerie Fritschs "Zitronen" (Tsp), Josephine Teys "Wie ein Hauch im Wind" (Presse) und Sandra Langereis Biografie über Erasmus von Rotterdam (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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