Efeu - Die Kulturrundschau

Warm und weit in den Momenten des Friedens

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2024. Die Theaterwelt ist schockiert über den unerwarteten Tod René Polleschs: Die FAZ betrauert ihn als Liebhaber des "boulevardesken Ungefähren". Die Berliner Zeitung weiß, wie sehr er mit Vorurteilen zu kämpfen hatte. Heftig diskutiert wird weiter über den Berlinale-Eklat: die SZ staunt, wie gerade jene aus der Kultur- und Queerszene für die applaudieren, die ihnen bei der nächstbesten Gelegenheit an die Gurgel gingen. Die FAZ schmerzt immer noch vor allem der Jubel des Publikums. Die taz fragt sich, warum ausgerechnet Israels Beitrag für den ESC auf politische Inhalte geprüft wird. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2024 finden Sie hier

Bühne

Die Feuilletons trauern um René Pollesch: Der Autor, Regisseur und Intendant ist gestern morgen völlig unerwartet verstorben: Ein "typischer Indentant war er nie", schreibt Simon Strauss in der FAZ: "Pollesch war als Theaterautor in erster Linie ein fulminanter Abbrecher von Dialogen und Sinnzusammenhängen. Kein Mann der Ausdeutungen und Schlusserklärungen. Viel eher liebte er das boulevardeske Ungefähr, das Überblenden von Gesellschaftsspiel und Gesellschaftstheorie." Ulrich Seidler betont in der Berliner Zeitung, die Schwierigkeiten, denen sich Pollesch immer wieder ausgesetzt sah: "Wenn man ihn traf, ob mitten im Flow oder im tiefsten Schlamassel, lächelte er einen an und wollte wissen, was man zu sagen hatte. Er schien wirklich interessiert an dem, was andere dachten und sahen und vielleicht zu wissen glaubten. Er ging davon aus, dass alle so klug und so wohlgesonnen waren wie er. Dabei hat er in seiner Laufbahn mit heftigsten Widerständen und mit Zweifeln kämpfen müssen. Schon als er 2001 an der Volksbühne anfing, traf er bei der Belegschaft und bei dem eher desinteressierten Intendanten des Hauses auf eine Wand der gepflegten Vorurteile. Wen hat denn die Dramaturgie da wieder angeschleppt? Einen aus dem Westen und aus Gießen zumal, der Kaderschmiede der selbstbezogenen und abgehobenen Postdramatik."

In der SZ erinnert Peter Laudenbach an Polleschs Fähigkeit, Unterhaltung und Gesellschaftskritik zu verbinden: "René Pollesch hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten mit verblüffender Leichtigkeit und innerer Unabhängigkeit vorgeführt, dass Theater gleichzeitig extrem unterhaltsam und auf der Höhe avancierter soziologischer Debatten sein kann. Das war schauspielerisch virtuos, umwerfend lässig, fast immer überraschend und nie langweilig, schon weil in Polleschs Stücken pro Minute mehr interessante Gedanken aufblitzten als woanders in der ganzen Spielzeit: Kapitalismuskritik mit Spaß und Entertainment-Raffinesse."

Mehr bei Nachtkritik, wo wir auch ein Video finden, in dem Pollesch über sein Theater spricht:



Das Märchen hat es schwer auf deutschen Bühnen, seufzt FAZ-Kritiker Jan Brachmann: "Aus Dvořáks Nixe Rusalka wird verlässlich eine Nutte gemacht, Hänsel und Gretel werden entweder im Kinderheim missbraucht oder durch den Kapitalismus zum hemmungslosen Konsum auf Kosten gesunder Wälder verführt." Um so schöner, dass Alexander Zemlinskys Oper "Der Traumgörge" in der Inszenierung von Tilmann Köhler an der Oper Frankfurt ein Märchen bleiben darf, wenn auch eines für Erwachsene, freut sich der Kritiker: "Köhlers Inszenierung kommt das sagenhaft schöne Licht von Jan Hartmann zur Hilfe. Die Bühne von Karoly Risz ... wird von Hartmann immer neu ausgeleuchtet: warm und weit in den Momenten des Friedens, grell und eng bei drohender Gewalt, mit flimmernd tanzenden Flecken an der Decke beim Lauschen auf das Rauschen des Baches, dessen spiegelndes Wasser die Flöten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters unter der Leitung von Markus Poschner so verlockend und unheimlich zugleich malen wie in den späten Märchen von Antonín Dvořák. Gleich im ersten Akt, wenn Görge seiner Grete wider besseres Wissen doch noch einmal ein Märchen erzählt, wirft das Licht beider Schattenrisse groß an die Wand: eine Hommage an die Scherenschnitt-Märchenfilme von Lotte Reiniger. Die ganze Inszenierung ist ein Lichtgedicht."

AJ Glueckert (Görge) und Magdalena Hinterdobler (Grete). Foto: Barbara Aumüller

Auch Judith von Sternburg ist in der FR gänzlich überzeugt von dieser "zarten, dezenten" Inszenierung. Christoph Becher hebt in der nmz vor allem die Musik hervor: "die nach-wagnerische Harmonik irrlichtert, süße Gesänge schlagen blitzschnell in gezackte Linien um, ein gutes Dutzend Leitmotive wird in zahllosen Varianten immer wieder neu beleuchtet, eine schöner als die andere."

Weiteres: Torben Ibs berichtet in der taz von der 16. Tanzplattform in Freiburg, die auf Diversität setzte.

Besprochen werden außerdem Felicia Zellers Stück "Die gläserne Stadt" am Hamburger Schauspielhaus (SZ), Oliver Reeses Inszenierung von Marius von Mayenburgs Stück "Ellen Babic" am Berliner Ensemble (SZ), Sandra Cerviks Inszenierung von Yasmina Rezas Stück "James Brown trug Lockenwickler" am St. Pauli Theater in Hamburg (taz) und Stefan Bachmanns Inszenierung von Akin Emanuel Şipals "Traum vom Osmanischen Reich" am Schauspiel Köln (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Besprochen werden eine Mark Rothko-Retrospektive in der Fondation Louis Vuitton in Paris (SZ) und eine Performance des Tattoo-Künstlers Monty Richthofen in der Galerie Dittrich & Schlechtriem in Berlin (taz), die Ausstellung "Das Gewicht der Zeit. Menschenbilder 1927-37" mit Werken von Werner Scholz im Ernst Barlach Haus in Hamburg (FAZ) und die Ausstellung "Otto Piene. Wege zum Paradies" im Museum Tinguely Basel (tsp).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Piene, Otto

Film

Das Feuilleton diskutiert weiter über die Berlinale-Abschlussgala, bei der es auf der Bühne zahlreiche propalästinensische und israelkritische Statements gab. Nils Minkmar kommt in der SZ aus dem Staunen nicht heraus, dass gerade Menschen aus Kultur und queerer Szene mit nichts als besten Absichten zumindest implizit das Geschäft derer betreiben, die ihnen bei der nächstbesten Gelegenheit an die Gurgel gehen würden: "Als bedrohe diese Hamas nicht auch ihr Lebensmodell, also auch das derer, die sich in Berlin gerne Filme aus einer freien Welt ansehen. ... Man kann das alles nicht mehr sehen: Diese entsetzlich falschen Slogans und Symbole, die mangelnde Vorbereitung, die hilflosen Aufarbeitungsversuche danach in Arbeitsgruppen. Es ist beschämend, wie jede Großveranstaltung größte Sorgfalt auf Antidiskriminierungsprogramme legt, wie Großfirmen und Institutionen ihre Achtsamkeiten pflegen und täglich öffentlich durchdeklinieren, wie auf jedem Großkonzert Anlaufstellen für Awareness eingerichtet werden - aber der Hass auf Juden all diesen Institutionen und Initiativen vollkommen egal zu sein scheint. Da sitzen die Honoratioren im Berlinale-Palast, staunen, lachen, klatschen."

Forderungen, wie sie etwa Berlins Bürgermeister Kai Wegner auf Twitter aufgestellt hat, dass die Berlinale künftig alles daran setzen müsse, um solche Szenen wie am Samstag zu vermeiden, hält Claudius Seidl im FAZ-Kommentar, bei allem Verständnis, für unrealistisch und naiv: Wegner müsse sich dann auch "fragen lassen, ob ihn jemand daran gehindert hätte, unter Protest den Saal zu verlassen." Was will man Roth oder Berlinale-Leitung vorwerfen? "Dass sie mit den Filmen auch deren Schöpfer einladen? Dass internationale Jurys hier internationale Filme bewerten und internationale Künstler auszeichnen, ohne dass man vorher deren Gesinnungen genau durchleuchtet hätte? Die bösen Sprüche waren das Risiko, das so ein Festival wohl eingehen muss, sie waren der Preis einer Freiheit, die mit sich die Erkenntnis bringt, dass Teile (es waren ja nicht alle) des Filmbetriebs in Israel den Schurkenstaat sehen wollen. Das Schmerzlichste an jenem Abend war der Jubel eines Publikums, das zu opportunistisch ist, als dass sich jemand getraut hätte, buh zu rufen."

"Die Berlinale wurde von propalästinensischen Aktivisten gekapert", stellt Jonathan Guggenberger in der taz fest, fordert aber das Aushalten von Ambivalenzen: "Wer Israels Offensive fälschlicherweise als Genozid bezeichnet, wer sich Kulturveranstaltungen wünscht, die nach starrer Agenda laufen, der hält keine Ambivalenzen aus - dem sind Diskussionen egal. . ... Wenn jetzt die einzig ableitbare Forderung ist, Israel-Hassern imperativ zu verordnen, noch mal an die Geiseln und die Hamas zu erinnern, zeigt das, wo wir in der Debatte stehen: am Ende. Für einen Ausweg aus der Sackgasse bräuchte es politische Entschlossenheit und eine Kultur, die weiß, was Ambivalenzen sind - und was nicht."

Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage und nach einem israelsolidarischen Posting nach dem 7. Oktober heftigen Rücktrittsforderungen ausgesetzt, beobachtet auf Seiten derjenigen, die die israelische Perspektive bei all dem zu kurz gekommen sehen, zusehends ein Klima der Angst, sagt er im Gespräch mit der Berliner Zeitung. "Das soll ja erreicht werden. Mit Angst aber kann man ganz schlecht kommunizieren. Und mit Regungslosigkeit kann man auch keine gesellschaftlichen Konflikte lösen. ... Schon vor den jüngsten Kampagnen, die zu regressiven und repressiven Formen des politischen Protests geführt haben, abweichende Meinungen einfach niederzuschreien, wurde der universalistische Anspruch großer internationaler Kunstausstellungen und Festivals angegriffen."

"Glühende Antisemiten" hat Andreas Busche vom Tagesspiegel auf der Bühne zwar keine gesehen, "aber es stimmt bedenklich, und da hat sich seit dem 7. Oktober leider wenig verbessert, wenn auf deutschen Kulturveranstaltungen der Solidarität mit den Menschen in Gaza inzwischen lauter Ausdruck verliehen wird als der mit Israel." Bert Rebhandl wünscht sich im Standard eine entschlossene Aufarbeitung, "sonst steckt die Berlinale demnächst in der gleichen Sackgasse wie die Documenta".

In der SZ arbeitet ein ganzes Autorenteam den letzten Berlinale-Samstag und den Niederschlag in den Medien auf. Die Tagesschau etwa verbreitete am Sonntagabend gute Stimmung in ihrer Berichterstattung und beließ es beim braven Vermelden der Bärengewinner: "Dass die Begriffe 'Genozid' und 'Apartheid' fielen, wurde verschwiegen - obwohl Chialo, Wegner, Notz und andere zu diesem Zeitpunkt schon deutlich geworden waren. Wie kam es zu diesem Totalausfall bei Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung? Die ARD teilt mit, aufgrund der Nachrichtenlage sei lediglich Platz für eine 26-sekündige Meldung gewesen."

Auf Zeit online gehen Julia Lorenz die Propalästina-Bekundungen ebenso auf die Nerven wie die Behauptung, die Berlinale habe einen "Skandal" erlebt: "Mittlerweile hat sich eine elende Routine eingespielt, nicht nur in Deutschland, aber vor allem hier: Kulturschaffende protestieren lauthals und oft antiisraelisch gegen den Krieg im Gazastreifen, Politikerinnen und Politiker protestieren empört gegen diese Proteste, Kulturschaffende protestieren gegen die Proteste gegen ihre Proteste, indem sie mitunter zum Beispiel in Deutschland einen neuen McCarthyismus oder noch Schlimmeres politisch am Werk wähnen. Beide Seiten fühlen sich offenkundig mindestens moralisch im Recht. Miteinander geredet aber wird nicht." Ähnlich sieht es Hannah Pilarczyk bei Spon.

Außerdem: Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat die einseitige Parteinahme auf der Gala für Palästina in einer am Montag nachgereichten Pressemitteilung zwar verurteilt, schweigt aber zu ihrem eigenen Applaus nach einer Rede, bei der Israel Apartheid vorgeworfen wurde, merkt Daniel Friedrich Sturm im Tagesspiegel an. Der Filmemacher RP Kahl ärgert sich in einem Facebook-Posting, dass niemand aus der deutschen Filmbranche im Gala-Saal protestiert oder wenigstens den Versuch einer Gegenrede gewagt hat.

Besprochen werden Axel Danielsons und Maximilien Van Aertrycks Essayfilm "And the King Said, What a Fantastic Machine" (taz), Ferdinand von Schirachs neuer ZDF-Film "Sie sagt. Er sagt" (Welt), die Apple-SF-Serie "Constellation" (ZeitOnline), die Serie "The Ones Who Live", die die Zombie-Serie "The Walking Dead" fortsetzt (FAZ) und eine Arte-Doku über Elon Musk (Tsp).
Archiv: Film

Literatur

Leonie C. Wagner blickt für die NZZ auf die überarbeitete Fassung von Michael Endes "Jim Knopf"-Büchern und erinnert daran, dass der Autor selbst einige Jahre nach der Erstveröffentlichung in seinem Text aus dem klischiert exotisierten China das Fantasieland Mandala gemacht hat. Mladen Gladic tauscht sich in der Welt mit dem Medienwissenschaftler Heiko Christians über Ernst Jünger aus, über den Christians vor kurzem ein Buch veröffentlicht hat. Lennart Laberenz porträtiert für die FAZ die finnische Autorin Terhi Kokkonen.

Besprochen werden unter anderem Jon Fosses "Ein neuer Name. Heptalogie VI-VII" (NZZ), Barbara Kingsolvers "Demon Copperhead" (FR), Franz Doblers "Ein Sohn von zwei Müttern" (FR), Yosano Akikos Lyrikband "Wirres Haar" (FAZ) und Nicole Hennebergs Biografie über die Schriftstellerin Gabriele Tergit (SZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Dobler, Franz

Musik

Jan Feddersen wirft in der taz einen Blick auf die Kontroverse um den israelischen ESC-Beitrag "October Rain", dessen Text aktuell geprüft wird, ob er politische Aussagen enthält. Solche sind laut Statuten des Wettbewerbs verboten. "Andererseits war es der Ukraine 2007 erlaubt, das Lied der Orangen Revolution darzubieten - niemand erhob Protest. Israel selbst präsentierte mehrfach Lieder mit politischem Gehalt, die queere Hymne von Dana International 1998 ('Diva') - oder zwei Jahre darauf ein Auftritt einer israelischen Formation, die sich wie BDS anhörte, syrische Sympathieflaggen inklusive. 'October Rain' als Lied ist verstehbar als vage politisches Statement zur Thematisierung der Atmosphäre in Israel nach dem 7. Oktober, dem terroristischen Hamas-Überfall auf Israel - doch kein Wort, kein Schnipsel der direkten Agitation pro Krieg gegen die Hamas." Mehr dazu auch in Tagesanzeiger und Standard.

Beim im Exil in Gera untergebrachten Kiewer Symphonieorchester geht die Angst um, berichtet Michael Ernst in der FAZ. Zum einen hat die Ukraine bereits vergangenes Jahr die Honorarzahlungen eingestellt, derzeit leben die Musiker in einem Wohnblock von Bürgergeld und Auftrittseinnahmen. "Die Gelder allerdings seien spärlich, würden nur unregelmäßig gezahlt und müssten dem Jobcenter gemeldet werden. Das geht aus einem nicht namentlich gezeichneten Schreiben hervor, das 'eine Gruppe von Musikern des Orchesters' an Polizei und Finanzamt in Gera verschickt hat. Die darin enthaltenen Vorwürfe richten sich gegen den Orchesterdirektor Oleksandr Zaitsev." Dieser soll "damit gedroht haben, jeden Musiker als Deserteur zu melden, der nicht zu erklären bereit sei, nur in 50 oder gar 25 Prozent Teilzeit zu arbeiten. Hintergrund dürfte eine geringere Steuerlast sein, zudem würden die Schulden gegenüber den Musikern reduziert, wenn 'nicht bezahlte' Beträge nur ein Viertel des regulären Gehalts ausmachten."

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner blickt in der FAZ (online nachgereicht) auf Wolfgang Dauners Nachlass, der von der Württembergischen Landesbibliothek erworben wurde. Nick Joyce berichtet im Tagesanzeiger vom Treffen mit der britischen Band The Last Dinner Party, die derzeit größte Erfolge feiert. Für die taz porträtiert Anke Lübbert die Berliner Sängerin Dota. Kathleen Hildebrand schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Filmkomponisten Georg Riedel.

Besprochen werden ein Mahler-Konzert der Wiener Symphoniker unter Alain Altinoglu (Standard), ein Konzert mit Knocked Loose und Deafheaven in Frankfurt (FR) und das Abschlusskonzert der "Cresc ..."-Biennale in Frankfurt (FR).
Archiv: Musik