Essay

Mitnichten antidemokratisch

Von Anna Huber
21.09.2020. Die Anschuldigung, dass die Linke den öffentlichen Diskurs mithilfe ihrer "Cancel-Kultur" strategisch zu ihren Gunsten formen wolle, entlarvt sich bei genauem Betrachten selbst als versuchtes Cancelling: Wer Kritik an Einzelentscheidungen von Veranstalter*innen oder Redakteur*innen zum Beleg für eine neulinke Diktatur aufbauscht, möchte vor allem linke Identitätspolitik diskreditieren.
In Deutschland wird zur Zeit ein Geist beschworen, der die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzen soll. Sein Name: neulinke "Cancel Culture". Das Gruselkabinett, in dem das Gespenst sein Unwesen treibt, wurde kürzlich vom "Appell für freie Debattenräume" in die Kulturlandschaft gestellt. Dieser von Gunnar Kaiser und Milosz Matuscheck initiierte Aufruf ist an "Harper's Letter" angelehnt, einen offenen Brief, der Anfang Juli fast zeitgleich im Harper's Magazine, in La Repubblica, der Zeit und Le Monde veröffentlicht wurde und in dem 153 Intellektuelle, darunter internationale Größen wie Salman Rushdie und Margaret Atwood, mehr Liberalismus in den öffentlichen Debatten forderten - ein gefundenes Fressen für jene, die sich schon länger als Bewahrer*innen der angeblich bedrohten Meinungsfreiheit im deutschsprachigen Raum gerieren.

Auffällig ist, dass sich hierzulande vor allem jene um den Tisch versammeln, die schon lange daran arbeiten, eine Debattendebatte gegen die neue Linke zu etablieren. Ihre Wortführer*innen schießen dabei traditionell gegen die linke Identitätspolitik: Wahlweise wird sie als politisch irrelevanter Ausdruck einer hypersensiblen "Generation Snowflake" abgetan, als Propaganda-Selbstzweck angeprangert, über verkürzte Darstellung auf lächerliche oder akademisch-abgehobene Rhetorik reduziert und vor allem als antidemokratische Gefährdung der Sprech- und Meinungsfreiheit ausgelegt.

Der "Harper's Letter" ist für diese Ankläger*innen nun hochwillkommener Anlass, mit dunklen Farben das Horrorbild einer neulinken Cancel Culture zu zeichnen, die angeblich auch in Deutschland gerade massiv um sich schlägt. Was sie beschreiben, ist tatsächlich zum Fürchten: Die Linke entledige sich unliebsamer Meinungen, indem sie deren Urheber*innen im öffentlichen Diskurs als amoralisch herabwürdige. Der moralisierende Mob sorge im schlimmsten Fall dafür, dass alle Äußerungen der Person, um deren Meinung es ursprünglich geht, aus den Medien verbannt werden. Das Opfer des Cancellings verliere dabei nicht nur sein Gesicht, sondern oft auch den Arbeitsplatz und letztlich jegliche Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern. Langfristig wolle die Linke mit diesen Mechanismen so viel Angst und Schrecken verbreiten, dass sie den öffentlichen Diskurs in ihrem Sinne formen könne.

Der "Appell für freie Debattenräume" beklagt unter anderem "von Veranstaltern ausgeladene Kabarettisten", "zensierte Karikaturisten", "pauschal verbotene Demonstrationen" und "Schriftsteller, deren Bücher aus dem Sortiment genommen werden oder von Bestsellerlisten getilgt werden".Wer sich nun  fragt, wo das neulinke Cancel-Gespenst gerade herumspukt, der wird dennoch lange suchen müssen. Für die dramatischen Anschuldigungen aus dem deutschen Aufruf gibt es jedenfalls wenig bis gar keinen Anlass: Dass es sich bei den Einzelvorfällen, auf die der Brief sich vermutlich bezieht, um Resultate einer linken Cancel-Wut handelt, ist nicht nachzuweisen.

Beispielhaft sei hier der Klage über die gecancelten Kabarettist*innen auf den Grund gegangen: Von allen Vorwürfen ruft dieser am deutlichsten zwei aktuelle Beispiele für etwas ins Gedächtnis, das böswillig als Cancelling ausgelegt werden kann - die Betroffenen wären dann Dieter Nuhr und Lisa Eckhart. In beiden Fällen lohnt sich ein Blick hinter die agitatorische Gruselfassade: Gegen Eckhart hatte es in jüngster Zeit Antisemitismus- und Rassismus-Vorwürfe gegeben, kurz darauf war sie vom Hamburger Literaturfestival "Harbour Front" ausgeladen worden. Ein direkter Zusammenhang zwischen der Kritik und der Absage ist jedoch nicht belegt: Der Veranstalter gab als Grund für seine Entscheidung Sicherheitsbedenken an, obgleich es keine Drohungen gab. Zeitgleich wurde bekannt, dass zwei geladene Künstler*innen sich weigerten, mit Eckhart aufzutreten - eine individuelle Entscheidung, die ebenfalls zu nichts zwingt und mit der auch anders hätte umgegangen werden können.

Nachdem wiederum Eckharts Ausladung kritisiert wurde, wurde die Kabarettistin erneut eingeladen, woraufhin sie selbst absagte.
Der Aufschrei war also groß, der Schaden beschränkte sich aber auf kleine Kratzer am Image des Veranstalters. Eckhart wurde nach dem Vorfall keineswegs zur Unperson, die ihrer öffentlichen Stimme beraubt worden wäre. Im Gegenteil rückten die Ereignisse sie in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit und die Verkaufszahlen ihres Buches stiegen - von erfolgreichem Cancelling kann also keine Rede sein. Bei genauer Betrachtung fällt außerdem auf, dass diejenigen, die sich selbst als  Streiter*innen für die Freiheit stilisieren, hier genau das getan haben, was sie der neuen Linken vorwerfen: Sie haben gezielt Druck ausgeübt, um die Entscheidung der Verantwortlichen für das Festival zu beeinflussen.

Etwas anders liegen die Dinge bei Dieter Nuhr: Nachdem die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dafür kritisiert worden war, im Rahmen ihrer Kampagne "#fürdasWissen" ein Videostatement des Kabarettisten veröffentlicht zu haben, wurde sein Beitrag von der DFG gelöscht. Hier hatte es also tatsächlich laute Kritik an dem Verein gegeben, weil er Nuhr seine Plattform zur Verfügung gestellt hatte. Die Kritiker*innen stießen sich daran, dass gerade Nuhr als Botschafter für die Wissenschaft ausgewählt wurde: Da er die Gefahr durch den Klimawandel ebenso herunterspiele wie die durch Corona, eigne er sich denkbar schlecht zum Wissenschaftsmissionar. Dass dieses Gepolter jedoch systematisch von neulinks gekommen sei, lässt sich ebenso wenig bestätigen wie ein Zwang, der aus der Kritik gefolgt sein soll: Die Entscheidung, das Video zu löschen, lag ausschließlich bei der DFG. Auch hier folgte auf die ursprüngliche Kritik eine peinliche Dramödie in drei Akten: Löschen des Videos, ein Aufschrei gegen angebliches Cancelling und erneutes Hochladen.

Bei all dem Tohuwabohu wird etwas Wesentliches leicht übersehen: Hätten Kritiker*innen die Macht, andere zum Ausladen, Löschen oder Bereitstellen von Beiträgen zu zwingen, dann hätten wir eine echte Zensur. Das ist aber unbestreitbar nicht der Fall, weshalb die Ereignisse im deutschen Sprachraum viel eher als Symptom für die Entwicklung der Kulturlandschaft betrachtet werden sollten: Blieben Herausgeber*innen, Redakteur*innen und Veranstalter*innen früher weitestgehend im Hintergrund, so sind sie heute im Netz klar identifizier- und adressierbar - und damit, genau wie Politiker*innen und Kulturschaffende, unweigerlich mögliche Zielscheiben für Kritik. Da diese Entwicklung aber zugleich größere Transparenz und bessere Teilhabemöglichkeiten mit sich gebracht hat, wäre es im Sinne der Demokratie, dass die Bereitsteller*innen von Kulturräumen lernen, souverän mit ihrer Erreichbarkeit umzugehen. Dass öffentlichkeitsrelevante Entscheidungen kritisiert werden können, ist nämlich eine der Bedingungen für eine funktionierende Demokratie.

Dennoch ist nicht zu leugnen, dass die neuen Möglichkeiten auch das unliebsame Phänomen des Shitstorms mit sich gebracht haben. Damit kommen wir zu dem Punkt, der dem "Harper's Letter" seine fraglose Relevanz verschafft: Der ursprüngliche Aufruf warnt vor einer Radikalisierung von Kritik, die zunehmend persönlich attackiert und die Tilgung des Kritisierten fordert. Solche Reaktionen kann man durchaus als undemokratisch einstufen, stellen sie doch nicht mehr die diskutierten Sachverhalte, sondern die Existenzberechtigung der Kritisierten selbst infrage. Als Urheber*innen für solche Cancel-Versuche aber allein die neue Linke ausmachen zu wollen, ist schlicht falsch: Wer einmal einen Blick in die Social-Media-Kommentarspalten unter Artikeln von großen Tageszeitungen oder international bekannten Magazinen geworfen hat, weiß, dass die persönlichen Angriffe und die Verunglimpfung der freien Medien dort mehrheitlich von Rechtspopulisten kommen. Darüber hinaus hat der Cancel-Geist in Deutschland bisher eindeutig keine nachhaltigen Erfolge zu verzeichnen.

Die Anschuldigung, dass die Linke den öffentlichen Diskurs mithilfe ihrer Cancel-Kultur strategisch zu ihren Gunsten formen wolle, entlarvt sich deshalb bei genauem Betrachten selbst als versuchtes Cancelling: Wer Kritik an Einzelentscheidungen von Veranstalter*innen oder Redakteur*innen zum Beleg für eine neulinke Diktatur aufbauscht, außer Acht lässt, dass Absagen auch linke Akteur*innen auf dem kulturellen Feld treffen und dass Shitstorms von Vertreter*innen jeglicher Gesinnung getragen werden können, wischt selbst quer mit dem Cancel-Lappen über die linke Tafelhälfte. Das Ziel: linke Identitätspolitik zu verunglimpfen.
So ist es kein Zufall, dass der "Appell für freie Debattenräume" in einem entscheidenden Punkt vom "Harper's Letter" abweicht: Während letzterer explizit die "demokratische Inklusion" zum Ziel erklärt, ergehen sich die deutschen Trittbrettfahrer*innen in Beschwerden über den "Würgegriff", in dem "lautstarke Minderheiten von Aktivisten" die freie Meinungsäußerung angeblich halten.

Wer aber LGBTQ- und #BlackLivesMatter-Aktivismus oder Gendern als Meinungs- und Sprechdiktate darstellt, verschleiert die Tatsache, dass neulinke Politik sich die größtmögliche Inklusion zum Ziel gesetzt hat. Die Reizworte, die von den Empörer*innen zu Beweisen für einen linken Dogmatismus stilisiert werden, sind Ausdruck eines Versuchs, auch marginalisierten Gruppen die Sichtbarkeit und Würde zukommen zu lassen, die jedem Menschen grundsätzlich zustehen. Das ist ein berechtigtes politisches Anliegen, das mitnichten antidemokratische Züge aufweist: Die identitätspolitischen Forderungen, die mit ihm einhergehen, werden ohne mehrheitlichen Beschluss genauso wenig durchgesetzt wie alle anderen politischen Entscheidungen. Formuliert werden dürfen sie aber genauso wie jedes andere Politikum.

Besonders wirksam spukte das Phantom der neulinken Meinungsdiktatur etwa bei der Darstellung der Transgenderphobie-Vorwürfe gegenüber Joanne K. Rowling durch die Medien: Am 17. Juni titelte die FAZ, die berühmte Autorin der Harry-Potter-Bücher werde von der "Transgender-Lobby" unter Druck gesetzt, weil sie sich dagegen gewehrt habe, Frauen als "Menschen, die menstruieren" zu bezeichnen. In Wahrheit wurde Rowling aber nicht einfach aus heiterem Himmel aufgefordert, das Wort "Frauen" nicht mehr zu benutzen, wie der Aufsatz es andeutet: Im Gegenteil hatte sie aus freien Stücken auf Twitter eine Überschrift der Plattform Devex ironisiert, in der die Formulierung "Menschen, die menstruieren" vorkam. Erst daraufhin wurde sie dafür kritisiert, nicht anerkennen zu wollen, dass nicht alle Menschen, die menstruieren, sich als Frauen begreifen.

Die Autorin reagierte mit einem Essay auf die Vorwürfe und erklärte, sich vorrangig gegen die Benachteiligung von Frauen einzusetzen. Sie befürchte eine Verabsolutierung der Transgender-Forderungen, die diesem feministischen Anliegen entgegenstehe: Indem Transgender-Aktivist*innen das biologische Geschlecht anzweifeln, können sie in ihren Augen die Schutzräume für Frauen bedrohen. Wenn es etwa ausreiche, dass ein Mann behaupte, eine Frau zu sein, um in eine Frauentoilette gehen zu dürfen, dann bange sie um die Sicherheit der Frauen. Außerdem halte sie es für wahrscheinlich, dass Geschlechtsumwandlungen sich im Nachhinein häufig als Fehler herausstellen: Wenn in der Öffentlichkeit viel über das Wechseln des Geschlechts gesprochen werde, könne es sein, dass junge Menschen, die mit ihrer Sexualität noch nicht im Reinen sind, fälschlicherweise glauben, darin die Lösung für ihr Unbehagen zu finden. Eventuell würden Frauen gar dazu verführt, zu Männern zu werden, um ihrer Diskriminierung zu entfliehen.

Unter den negativen Reaktionen, die Rowling daraufhin entgegenschlugen, waren mit Sicherheit einige, die dem versuchten Cancelling zuzurechnen sind. Sachlich betrachtet ist die Kritik an ihren Äußerungen aber durchaus angebracht: Im Vergleich zu Cisgender-Menschen - also jenen, die das ihnen bei der Geburt attestierte Geschlecht als für sich passend empfinden - stellen Transgender-Menschen nach wie vor eine verschwindend kleine Minderheit. Damit ist durch Transgender-Aktivismus weder ein Modetrend der Geschlechtsumwandlungen noch eine Verminderung des Engagements für Frauen zu befürchten. Darüber hinaus geht es bei LGBTQ-Politik nicht darum, andere diskriminierte Gruppierungen zu schwächen: Diejenigen, die sich als Frauen identifizieren, sollten idealerweise ebenso wenig benachteiligt sein wie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle oder anderweitig Queere. Feministische, Gender- und Queer-Theorien schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern können einander stützen.

Rowling dafür zu kritisieren, Transmenschen ihre Identität abzusprechen und die Ausdrücke ihrer Politik zu verunglimpfen, hat mit Cancelling nichts gemein: Weder wird die Autorin daran gehindert, ihre Meinung auch weiterhin zu äußern, noch werden ihre Beiträge zum öffentlichen Diskurs gelöscht oder ihre Bücher nicht mehr verkauft. Stattdessen handelt es sich um das Aufzeigen von Fakten und das Hinterfragen einer Position, die eine benachteiligte Gruppe gegen die andere ausspielen will: Die Verteidigung von Frauen durch die Negierung einer anderen, marginalisierten Interessengruppe ist mit Sicherheit nicht im Sinne der demokratischen Inklusion, die die Unterzeichnenden des "Harper's Letter" sich wünschen. Wer hingegen wie die FAZ ausschließlich fokussiert, dass in Debatten wie der um Rowling Reizworte wie Transgender fallen, und das Engagement für eine Minderheit dabei als Dogma ausgibt, macht sich genau dessen schuldig, was der neuen Linken zum Vorwurf gemacht wird: Es handelt sich um den Versuch, eine bestimmte Meinung im öffentlichen Diskurs zu tabuisieren. Aber wenn der Poltergeist der neulinken Cancel Culture nur laut genug ist, wird das schon niemandem auffallen.

Anna Huber