Essay

Ithaka gab dir die schöne Reise

Von Najem Wali
02.12.2021. Ist Reisen nur eine andere Form von Flucht? Als ich im Sommer 2016 nach Idomeni fuhr, um dort ehrenamtlich beim Dolmetschen für die Geflüchteten zu helfen, da erinnerte ich mich, dass ich schon einmal, nämlich im September 1976, auf dieser Route mit dem Bus unterwegs war. Die Fluchtroute war auch eine klassische Route des Reisens und Handels. Aber auch des Krieges. Hommage auf die Fortbewegung.
Bevor Grenzen gezogen und Staaten gegründet wurden, gab es das Reisen. Das Aufbrechen und Abfahren, das Vertriebenwerden und das Fliehen. Reisen ist so alt wie der Schmerz, wie das Alles-loslassen-wollen und Alles-Verlassen-müssen, geboren aus dem Bewusstsein des Schmerzes im Dasein.

Das wussten selbst diejenigen, die nie geneigt waren, ihren angestammten Ort zu verlassen, wie der Alexandriner Konstantinos Kavafis, "der weise alte Mann", wie ihn Lawrence Durrell in seinem Alexandria-Quartett nannte. Kavafis, der bis zu seinem Tod siebzig Jahre in seiner kosmopolitischen Stadt Alexandria lebte, war ein Reise-Skeptiker, weil er das Wohin-Reisen nicht als Notwendigkeit ansah. Er schrieb: "Wenn du in einem kleinen Winkel der Welt zerstört wirst, wirst du ihn überall in Trümmern finden." Dennoch blieb er nicht immer am selben Ort sitzen und wartete auf seine Trümmer. Er machte immerhin zwei Reisen nach Paris, Kurz-Trips nach Athen und Konstantinopel und hinterließ uns sein wunderbares Gedicht "Ithaka", das uns die Bedeutung des Weges, den wir zu einem Ziel beschreiten, vor Augen führt.

Der Beginn jeder Reise fordert, sich dem Ruf der Ferne zu unterwerfen, denn die Ferne ist unendlich wie das Herz. Es gibt kein Gesetz und keine Regeln, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, die uns vorschreiben, wann und wo, und wie wir reisen sollen. Reisen ist eine Versuchung, die Bereitschaft, sich dem Ruf des Herzens auszuliefern und zu einem neuen Ort aufzubrechen, um dort etwas Unbekanntes zu entdecken.

Reisen ist die Quelle der Weisheit und die Heimat des Staunens. Wer nicht direkt an den Ort reisen kann, reist in die Zeit, in die Vergangenheit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" wie Marcel Proust, in die Gegenwart Amerika wie Kafka, oder in die Zukunft, wie H.G. Wells in "Die Zeitmaschine" oder in "Unsichtbare Städte" wie Italo Calvino, oder gen Übersee auf dem Deck eines großen Schiffes, um den legendären Fisch namens Moby-Dick zu fangen, oder er erklimmt den höchsten Berg Afrikas, den verschneiten Kilimanjaro. Und wer aus Bitterkeit oder Bösartigkeit nicht schlafen kann, begibt sich auf eine "Reise ans Ende der Nacht" wie Céline.

Wer von einem Ort nicht abreisen kann, reist in das Erzählen. Wer sich eine Zelle von zwanzig Quadratmetern mit sechzig Gefangenen teilt und anfällig für Motten, Läuse, Verzweiflung und Henkerslaune ist, wie wir es im Winter des Jahres 1980 in der Zelle des Militärischen Geheimdienstes im Gebäude des Verteidigungsministeriums in Bagdad waren, wird keinen anderen Weg finden, seine Gefangenschaft zu verlassen, als seinen Mitstreitern in Schmerz und Verzweiflung Geschichten zu erzählen. Unsere Geschichten sind ein Weg, das Bewusstsein des Schmerzes zu überwinden und der Sehnsucht nach dem Tod zu widerstehen.

Was wären die Geschichten von "Tausendundeine Nacht" ohne Reisen? Die begnadete Erzählerin Scheherazade webte, um zu überleben, einen Teppich aus Geschichten und lockte damit den mordsüchtigen König Shahryar aus seiner Welt hinaus an einen neuen Ort: in ihre Geschichten. Und wie es jedem Reisenden ergeht, wenn er an den Ort, von dem er abfuhr, zurückkehrt und sich mit ihm versöhnt, so fand auch Shahryar sich in der tausendundersten Nacht verändert in seinem Land wieder und begrub den Frauenmörder hinter sich.

Auf den Spuren ungezählter Tage und Nächte entstehen Reisen aus dem Geist des Erzählens, sorgen für Erstaunen beim Hören oder Lesen und ebnen den Weg in eine neue Welt. "Don Quijote" wurde von Cervantes nach langen Reisen, Entführungen und Gefängnisaufenthalten geschrieben. Dieser "Don Quijote", der die Grundlagen des modernen Romans lieferte, ist also nicht nur ein Roman, der die Reise eines Ritters erzählt, der mit seinem Sancho Panza durch die Castilla de la Mancha streift und gegen Windmühlen kämpft, er ist das Ergebnis einer neugeborenen Tradition: der Leidenschaft der Romanciers zu reisen.

Dostojewski floh vor seinen Gläubigern von einer Stadt in die andere, und ohne diese Flucht hätten wir einige seiner unsterblichen Werke nicht gelesen: "Der Spieler" in Baden-Baden, "Die Dämonen" in Dresden; Heinrich Heine schrieb "Wintermärchen" in Paris; in Paris schrieb auch Turgenev "Väter und Söhne", Gogol arbeitete an den "Toten Seelen" in Rom; Georges Büchner schrieb "Dantons Tod" und "Woyzeck" in Zürich; Roman Rolland schrieb in der Schweiz über Frankreich; Rilke schrieb "Briefe an einen jungen Autor" in Viareggio, Rom, Paris und Schweden und vollendete die Klagelieder der "Duineser Elegien" in der Schweiz; Henrik Ibsen schrieb über Norwegen in Deutschland; Strindberg schrieb über Schweden in Frankreich; James Joyce schrieb über Dublin und seine Menschen in Triest und García Márquez "Hundert Jahre Einsamkeit" in Mexiko-Stadt.

Ich bin mir sicher, dass all diese Verwandten im Geiste ihre unsterblichen Titel nicht hätten schaffen können, ohne sich den Versuchungen des Reisens im Kopf und in der Realität hinzugeben und dieses Abenteuer in all seinen Formen auszukosten. Man muss abreisen, um anzukommen. Das wussten und wissen alle Schreibenden. Egal, wo wir landen, wann und wie, wir ankommen und was wir letztendlich tun, um den Ort zu finden, an dem wir einen goldenen Schlüssel für uns entdecken, der vielleicht schon immer vor unseren Augen am Rand eines leuchtenden Regenbogens lag. Wann immer wir etwas finden, das uns einen neuen Horizont eröffnet, ist das der Schüssel, der uns zu vor unseren Augen vergrabenen Schätzen führt.

Als Kind habe ich meinen Schatz in Bagdad gefunden. 360 Kilometer war die Entfernung zwischen Bagdad und Amara im Südirak, wo wir lebten, doch immer, wenn mein Vater in die Hauptstadt reiste, was häufig vorkam, stellte ich mir beim Einschlafen vor, dass ich mit ihm getragen von zwei kleinen Flügeln durch die Straßen und Viertel von Bagdad spazierte. In den Sommernächten - wir schliefen auf dem Dach unseres Hauses - blickte ich auf die unzähligen Sterne am Himmel und stellte mir ihn als Leinwand vor.

Dorthin zeichnete ich mir meine eigene Karte von Bagdad, eine kleine Karte im Spazierradius des Kindes, das ich damals war. Wie lange meine Fantasiereise dauerten, weiß ich nicht mehr, denn meist schlief ich rasch ein. Meine Augen ermüdeten sommers auf ihrer Reise von Stern zu Stern, während sie winters kreuz und quer über die Decke des Zimmers durch die Straßen von Bagdad wanderten. Wie nahe meine Fantasiestadt der Stadt kam, in die ich damals noch nie einen Fuß gesetzt hatte, weiß ich nicht. Nur eines weiß ich, nun schon so lange in Berlin, von jenen Nächten, die inzwischen so fern sind wie Bagdad, immer noch: dass ich wie ein Architekt Luftstraßen im leeren Raum anlegte und die Geschichten, die ich über Bagdad hörte, meine Reisen mit immer neuen Phantasien nährten.

Als ich erwachsen und noch keine zwanzig Jahre alt war, stieg ich am 14. Juli 1976 die Treppe eines Flugzeugs der Iraqi Airways am Flughafen Bagdad hinauf, um nach wenigen Stunden mit nur sechshundert Dollar in der Tasche in Paris zu landen, mit dem Ziel dort Filmregie zu studieren. Als ich wenige Wochen später pleite nach Bagdad zurückkehrte, war ich trotzdem glücklich, denn ich hatte zwar nicht meinen Kindheitstraum vom Filmstudium verwirklichen können, aber ich hatte Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir und andere ihrer Existenzialisten - Bande im Café du Fleur sitzen gesehen. Das allein reichte, um meine jungen intellektuellen Freunde in Bagdad zum Staunen zu bringen.

Meine wirkliche Beute dieser gescheiterten Reise, erkannte ich erst vierzig Jahre später, als ich im Sommer 2016 nach Idomeni fuhr, um dort ehrenamtlich beim Dolmetschen für die Geflüchteten zu helfen. Da erinnerte ich mich, dass ich schon einmal, nämlich im September 1976, auf dieser Route mit dem Bus unterwegs war. Damals war ich allerdings nicht auf der Flucht, sondern auf der Rückreise von Paris, und hatte nicht mehr als einen gescheiterten Kindheitstraum in der Tasche. Träume kann man aber leicht über Grenzen schmuggeln, egal aus welchem Land man sich auf den Weg macht.

Im April 2016 bin ich also aus Deutschland nach Idomeni gereist. Die Begegnungen mit vertriebenen und auf der Flucht dort gestrandeten Menschen, die Gespräche über ihre Träume, lenkten meinen Blick auf eine Epoche, als Europa, Kleinasien und der Nahe Osten neu geordnet wurden. Ich fand heraus, dass entlang der Westbalkanroute - von Kleinasien nach Europa - seit der babylonischen Zeit ein Austausch zwischen den Völkern stattfand. Solange sie Handel miteinander trieben, lebten sie in Frieden. Die Städte längs der Route fungierten als veritable Schmelztiegel und bildeten das Fundament der Region. Als das Miteinander in Frage gestellt und gewaltsam beendet wurde, verwandelte sich die Region in eine Zone des Todes und der Verwüstungen, bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein.

Die Fluchtrouten und Völkerwanderungen, Vertreibung und Migration, bringen Erinnerung und Gegenwart zusammen. 2016 war es für mich aufwühlend, zu sehen, wie sich die Geschichte scheinbar wiederholt. Fast neunhundert Jahre zuvor waren Tausende Kreuzzügler auf dieser Route marschiert, mit dem Ziel in Jerusalem das versprochene Eldorado zu finden. Manch reiche Ritter hatten sich eine andere Route mit demselben Ziel ausgesucht: sie fuhren über das Meer in das gelobte Land. Was für eine Ironie der Geschichte, dachte ich damals: Im Jahre 1095 sind die Glücksuchenden mit Waffen von Norden nach Süden aufgebrochen, während sich 2016 die Glücksuchenden aus dem Süden nach Norden unbewaffnet bewegten. Für viele von ihnen war Idomeni 2016 Endstation.

Auf diesem Weg reiste ich 1976 mit einem irakischen Pass zurück in Richtung Irak. 2016 kam ich mit meinem deutschen Pass und gehörte zu jenen aus dem wohltätigen Norden, die die Misere nicht lösen können, aber zumindest versuchen, sie zu lindern.

Ist Reisen also nur eine andere Form von Flucht? Eine Bewegung, die wir unternehmen um Kenntnisse, Reichtümer und Menschen zu gewinnen? Vielleicht. Sicher ist, dass die sogenannte Balkanroute eine Zweibahnstraße ist, ein Weg für Austausch und Begegnung und somit - wie die Seidenstraße - eine der wesentlichen Kultur- und Handelsstraßen der Welt.

Meine Zeit Anfang zwanzig waren Jahre der Versuchung, genau wie Jahre des Suchens und Staunens über alles Neue. Wie beschenkt ist der Protagonist einer unruhigen Zeit, der sich schon früh der Leidenschaft des Reisens hingab, durch die Welt streifte und bis heute ein Marinero en tierra, ein Seemann auf Erden, ist. Er ist wie Sindbad, den nichts davon abhält einen Fuß auf gefährlichen Boden zu setzen. Einmal fand Sindbad sich auf einer kleinen Insel mitten auf hoher See wieder, er fühlte sich gerettet und machte Feuer, um sich zu erwärmen. In diesem Augenblick ahnte er nicht, dass er auf dem Rücken eines riesigen, schlafenden Hais saß, der durch die Hitze geweckt und ihn in Gefahr bringen würde.

Auch ich habe mit dem Feuer gespielt, als ich eine "Reise in das Herz des Feindes" unternahm. Ich besuchte Israel und schrieb über die Menschen, die mir dort begegneten, ein Buch, obwohl ich wusste, dass eine Reise nach Israel, in das Feindesland, für einen Araber zu jeder Zeit einem Spiel mit dem Feuer ähnelt. Außerdem ist es niemals erlaubt, den "Feind" als Menschen darzustellen, der sich genauso wie wir nach Frieden sehnt und den Krieg fürchtet.

Jemand, der solch eine Reise wagt, bringt sein Leben in Gefahr. Nicht nur in der Welt von heute. In seinem mir sehr am Herzen liegenden Werk "Die Welt von gestern" beschreibt Stefan Zweig seine Reise ins "Feindesland", nach Belgien, um Romain Rolland zu treffen und mit ihm eine Erklärung gegen den bevorstehenden Ersten Weltkrieg zu verfassen. Die Feindseligkeit, die ihm dafür von seinen Landsleuten entgegenschlug, hielt ihn jedoch nicht davon ab, Rolland ein zweites Mal zu treffen. Diesmal in einem Hotel in Zürich, das voller Spitzel war.

Das schönste Geschenk des Lebens ist für mich das Reisen, das uns mit uns selbst und dem Ort verbrüdert, wenn wir ihn verlassen oder wiederkehren. Der Weg, den wir von einem Ort zum nächsten nehmen, bereichert uns und verbindet uns mit unbekannten Menschen.

Gepriesen sei also jede seltsame Frucht, jede Eisenbahn, die glänzt, jeder Ballon in Form einer Kugel, jeder Atlas und jeder Koffer, der in einem Schaufenster ausgestellt ist, und uns in die Ferne lockt. Begrüßt sei auch jeder seltsame Tropfen Wein, jeder irritierende Zeitungsartikel, jedes unverständliche Buch und überhaupt alles, was noch sesshafte Reisenden provoziert und ihnen eine Begegnung mit dem Unbekannten in Aussicht stellt.

Lassen Sie es mich mit ein paar Zeilen aus Kavafis wunderbaren Gedicht Ithaka* sagen:

"Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse.
Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
(…)
Doch beeile nur nicht deine Reise.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und hoffe nicht, das Ithaka
 dir solchen Reichtum geben kann.
(…)
Ithaka gab dir die schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen.

Danke.
* Übersetzt von Wolfgang Josing

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Bei diesem Text handelt es sich um die Rede zur Eröffnung der Europäischen Literaturtage in Krems im November. Wir danken Najem Wali für die Abdruckgenehmigung.D.Red.