Essay

Terra X antwortet nicht

Von Daniele Dell'Agli
01.10.2020. Es gibt hervorragende Tier-, Natur- und Georeportagen in den öffentlich-rechtlichen Sendern. Aber warum muss jede Landschaft mit aufgedonnerten Streichertapeten zugekleistert, jede Spannungslücke mit psychagogischen Klangmodulen gefüllt und jedes Beute schlagende Tier von gezupften Bässen in einen Mörder verwandelt werden? Das entwertet nicht nur die Reportagen, sondern derealisiert auch unser Bild vom nichtmenschlichen Leben auf der Erde. Und es verschenkt die einzigartige Chance des virtuellen Tourismus.
"Die Menschen sehen so viel, aber sie hören der Natur nicht zu: die Erde singt! Die Bäume an ihrem Rauschen unterscheiden, die acht Winde an ihren Melodien erkennen." Hans-Jürgen von der Wense, Epidot (1946)

Es gehört zu den Ironien eines pandemisch erzwungenen Hausarrests, dass die menschenleere Welt draußen endlich so aussieht, wie man sie gern auf Reisen erlebt hätte: frei von Menschen-, Autos- und Schiffsgedränge; in eine Stille getaucht, die die allermeisten Verursacher ihrer sonstigen Verhinderung unisono "paradiesisch" taufen. Und zu den Ironien einer Mediengesellschaft gehört, dass sie just diese menschenleere Welt ins Wohnzimmer holt, zum einen durch aktuelle Berichte von der dystopischen Front, die allerdings statt Beklemmung eher befremdliches Staunen auslösen. Unvergessen aus "Die Corona-Geisterstädte" (Arte) die hyperrealen Venedig-Veduten mit der tiefempfundenen Entzückung des Reporters: "Die Stadt ist jetzt so, wie sie sein sollte." "Unglaublich, wie schön die Stadt jetzt ist." Und Millionen sitzen daheim vor dem Fernseher und erkennen, warum sie überhaupt jemals den Wunsch gehabt haben, dorthin zu fahren - und warum sie vor Ort nur enttäuscht werden konnten. Und ahnen, dass das Venedig, das eine Reise wert wäre, nur unter Bedingungen einer pandemischen Entvölkerung existiert und nur televisuell besichtigt werden kann.

Zum anderen fallen die in zunehmender Häufung ausgestrahlten Tier-, Natur- und Georeportagen auf, die mit so vielversprechenden Titeln locken wie "Geheimnisse der Ozeane" (engl.: "Magic of the Big Blue", hier der Teil über Asien), "Wilder Planet", "Faszination Arktis", "Naturwunder Okawango", usw. usf.:  Dokumentarfilme und -serien aus den entlegensten Winkeln der Erde, atemberaubend schön fotografiert, von fachkundigen Kommentaren begleitet: Sternstunden des Fernsehens. Sollte man meinen. Wären sie nicht größtenteils und durchgehend mit einer reißerisch-plumpen bis anheimelnd kitschigen Musik durchzogen, die verrät, das die verantwortlichen Produzenten und Redakteure nicht den geringsten Respekt vor der Qualität der fotografischen Arbeit und keine Ahnung von der Bedeutung des Gezeigten haben. Schlimmer noch: während die Kameraeinstellungen den Zuschauern die Gnade menschenleerer Landschaften gewähren, setzen die tosenden, perkussiv und mit Bläserfanfaren aufgedonnerten Streichertapeten alles daran, das Fehlen der ungefiederten Zweibeiner wenigstens akustisch in der gewohnten Aufdringlichkeit gegenwärtig zu halten. Selbst vor pyroklastischen Strömen, wahrlich das furchterregendste Naturschauspiel, macht das anmaßende Gedröhn des homo strepitus nicht halt und stellt damit nur umso entlarvender den Ungeist unter Beweis, der neben der Profitgier den Planeten zerstört: das Fehlen jeglicher Ehrfurcht vor dem Erhabenen einer alles menschliche Maß übersteigenden Macht.

Schwimmt auch ohne dramatisierende Filmmusik: Walross in der Arktis. Screenshot aus der Doku "Faszinierende Arktis"


Naturreportagen stellen einen Sonderfall der Gattung Dokumentarfilm dar, um den seit der Einführung des Begriffs documentary durch John Grierson 1926 (anlässlich einer Besprechung von Robert Flahertys "Moana") die Debatte um seinen Wirklichkeitsbezug periodisch aufflackert, also die Frage, ob sie realistisch oder konstruktivistisch zu verstehen seien, von deren Antwort letztlich abhängt, welche Rolle man der Musik zuweist: ob sie der Illustration oder der Dramatisierung des Materials dienen soll. Einen Sonderfall bilden Naturdokumentationen deshalb, weil erstens die Besonderheiten des Gegenstands nur Aufnahmetechniken zulassen, die seinen Wirklichkeitseindruck verstärken oder abschwächen, aber nicht verfälschen und schon gar nicht "konstruieren" können. Ein Nordlicht kann ebenso wenig inszeniert werden wie die Geburt eines Blauwals oder eine Dürrekatastrophe in der Subsahara. Und zweitens, weil das, was die Kamera einfängt, keinem Handlungsmuster folgt, es ist einfach da, breitet sich dem Anblick aus oder "passiert", allerdings nach biologischen, chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Als Zuschauer werden wir - zeitversetzt und sozusagen zweiter Hand - Zeugen von Geschehnissen, die von sich aus genug Präsenz, Dynamik, neuerdings auch tragische Aktualität entfalten, um unsere Neugier zu fesseln. Für derlei unpersönliches, menschenfernes "Geschehen" hat das filmmusikalische Repertoire weder Archive noch Konventionen.

Was das in der Konsequenz für die musikalische Gestaltung des Soundtracks bedeutet, ist von den Akteuren am Mischpult bis heute noch nicht begriffen worden. Ihr Verständnis von synästhetischer Dramaturgie hält an der Irrmeinung fest, Musik müsse die Spannungslücke füllen, die durch das angebliche Fehlen der dramatis personae und ihrer Handlungen entsteht. Also wird sie darauf zugeschnitten, jede Form von Bewegung vor der Kamera zur Action zu stilisieren, um beim Zuschauer Adrenalinkicks statt Aufmerksamkeit oder Nachdenklichkeit zu befördern. Der sachlich registrierende Kamerablick wird von den psychagogischen Klangmodulen in den Sog einer vermeintlichen Teilhabe an den gefilmten Ereignissen gerissen, die subjektivierte Einstellung macht aus Geschehnissen Handlungen, aus einer unpersönlichen Bestandsaufnahme eine Doku-Fiction, schlimmstenfalls eine Serie von Minidokudramen.

Solche Musikdramaturgie zeugt von der Verkennung der elementaren Genreregel, die besagt, dass es zum Mitfühlen, Mitfiebern, Mittrauern Protagonisten braucht, mit denen wir uns identifizieren können. Daher ist es Unfug, mit gezupften Bässen einen hinterhältigen Mord anzukündigen, wenn eine Löwin sich an eine Gazelle heranpirscht. Warum tut man es dann? Aus Angst, die Endverbraucher würden auf der Couch einschlafen oder gar umschalten, wenn man sie nicht permanent mit kinetischen Vitalitätssignalen in Alarmbereitschaft versetzten würde? Dabei kann von einer Spannungslosigkeit des Themas, die zur Rechtfertigung der akustischen Stimulantia beschworen wird, keine Rede sein. Naturdokumentationen haben sich längst vom Image exotischer Reiseführer für Besserverdienende oder putziger Fernsehzoos zur Kleinkindbespaßung emanzipiert. Niemand kommt mehr auf die Idee, Wildnis als Disneyland anzupreisen. Niemand außer Filmkomponisten, die sich immer noch aus dem Fundus der vor hundert Jahren von Giuseppe Becce für alle beliebigen Atmosphären und Situationen gesammelten 1001 Tonkonserven zu bedienen scheinen.

Naturphänomene musikalisch zu Actionsequenzen umzudeuten läuft letztlich darauf hinaus, das dokumentarische Material zu fiktionalisieren - Geparden und Wanderfalken, Sandstürme und Lavaströme werden zu Darstellern ihrer selbst auf einer gigantischen Bühne, als wären sie von der Regie selbst einbestellt worden. Keine Raubtierjagd ohne rituelles Getrommel, keine Gefahrensituation ohne pulsierende Zweitonostinati in den tiefen Streichern, die sogleich flächig in höhere Lagen entschweben, wenn die Situation aus der Panoramaoptik sich friedlich entspannt. Die chromatisch sägenden Celli sind gleichermaßen gut für herannahende Haie wie für Tornados und spätestens wenn über blubbernden Orgelbässen Triangel und Harfenarpeggi lieblich zappelnde Motivreste streuen, ist klar: nicht im Wasser schwimmen die Fische, Flüssigklang ist das Medium ihrer Wahl.
 
Ethisch bedenklicher noch ist es, wenn Action-Musik die falsche Dramatik etwa einer Bedrohung durch Monsterwellen, Tornados oder Vulkaneruptionen suggeriert und die Bedrohungskulisse zur unmittelbar bevorstehenden Katastrophe steigert: für alle, die sich das vom heimischen Sessel aus angucken, stellt sich die Gewöhnung an eine räumlich weit entfernte und daher harmlose Apokalypse ein: der Weltuntergang findet am pazifischen Feuerring statt. Also gar nicht. Instinktiv übersetzt man die räumliche Entfernung sogleich in eine zeitliche: 20 Grad in der Westantarktis? Sieben Meter Anstieg des Meeresspiegels bis zum Jahrhundertende? Nach mir die Sintflut!

Die mit Vivaldis "Jahreszeiten" und Beethovens "Pastorale" inaugurierte Tradition der tönenden Landschaftsmalerei als Ausdruck von Empfindungen - filmtechnisch als Underscoring bekannt - ist im heutigen Naturfilm genauso fehl am Platze wie die spätromantischen Allmachtsphantasien, mit denen Strauss' Alpensinfonie mittlerweile den Sonnenaufgang über jeden Berggipfel von den Kordilleren bis zur Eiger Nordwand überlärmt. Mood-Technik nennt man dieses Verfahren, was soviel bedeutet, dass man innere Zustände, die musikalisch zu manipulieren wären, gar nicht mehr voraussetzt, sondern direkt im Synchronstudio erzeugt. In der Praxis läuft dieses veritable Overscoring darauf hinaus, jede sach- und darstellungsbezogene Gefühlsbildung zu verhindern oder eine solche, so schon vorhanden - etwa die Neugier, die überhaupt erst zum Einschalten bewegt - zu überlagern und ihres Kontexts zu berauben. Sosehr sich Dokumentarfilmer bemühen, vom Einzelfall ausgehend die globalen Zusammenhänge und die Rückkopplungsschleifen menschlicher Eingriffe einsichtig zu machen: die Musiksurrogate wissen alles besser, sie bestimmen Stimmungslage und Rezeptionshaltung und lenken von jeder noch so eindringlichen Botschaft ab.

Dazu gehört auch das konsequente Übertönen oder Ersetzen der atmosphärischen Qualitäten vor Ort: so etwas wie O-Ton, ansonsten omnipräsent in Rundfunk und Fernsehen, wenn es darum geht, die Sprechblasen öffentlicher Statements als "authentisch" zu beglaubigen, darf es in den Dokumentationen zu den wundersamsten Schauplätzen und Phänomenen unserer Erde nicht geben: es könnten die Klänge und Geräusche von Tieren, Wind und Meer, von Wasserfällen, Gletschern und Vulkanen die bequeme visuelle Distanz einziehen, uns die menschenferne Welt anders näher bringen, als den Musikpanschern und ihren Auftraggebern vorschwebt. In "Faszinierende Orcas" geht die widersinnige Einmischung soweit, dass ein Forscher explizit auf die Geräusche hinweist, die entstehen, wenn die Tiere sich am Kiesbett vor dem Ufer reiben, während man dazu ein abgestandenes, selbstredend lustiges Walzermotiv hört! So macht die gedankenlose Vertonung (in diesem Fall einer internationalen Produktion aus Vancouver), die den Zuschauern jede Chance nimmt, sich von der Eigenart des Gezeigten berühren zu lassen, den dokumentarischen Auftrag zunichte. Eine Derealisierung unseres Bildes vom nichtmenschlichen Leben auf der Erde ist die Folge.



Dabei hatte die Geschichte kritischer Naturfilme im Fernsehen vor einem halben Jahrhundert mit den ästhetisch und pädagogisch mustergültigen "Tierstunden" von Horst Stern begonnen, die sich nach anfänglichen Friktionen bald größter Beliebtheit erfreuen sollten und mit allen nur erdenklichen Preisen bedacht wurden. Und das obwohl seine legendären (und schwerverdaulichen) "Bemerkungen über das Hausschwein" oder über den Rothirsch ohne (!) Musik auskommen und die Originaltöne der Rotwildjagd oder eingepferchter Schweine einem heute wie damals einen Schauer über den Rücken jagen. Konsequent war Stern auch darin, uns andererseits die lautlose Welt der Spinnen mit Hilfe der damals (1975) noch unverbrauchten hypnotischen Synthesizerklänge Klaus Schulzes und Tangerine Dreams in ihrer abgründigen Fremdheit zu erschließen. Filme, die gerade wegen ihres kompromisslosen Realismus nichts von ihrer Aktualität verloren haben und unvermindert Kultstatus genießen.



Die heute praktizierte Derealisierung bedeutet demgegenüber im Klartext: Nichts Fremdes darf am Gegenstand möglicher Faszination haften bleiben, Expeditionen zu den terrae incognitae werden trotz geduldiger Beobachtung und listiger Annäherung, trotz akrobatischer Kameraarbeit und kompetenter Einführung durch musikalische Wiedererkennungswerte - etwas anderes zählt in der Branche nicht - in ihr Gegenteil verkehrt: in pastose Übermalungen der letzten unerschlossenen Nischen des Planeten durch die dröhnend aufgeschäumte Innerlichkeit eines Subjekts, das so eroberungsselig nur in den Lagern der stock music überdauert. Das Problem verschärft sich noch seit einigen Jahren durch den Einsatz von Kameradrohnen, deren Vogelperspektive - in BBC-Serien wie "Faszinierende Erde" oder "Entstehung der Erde" kaum noch von Animationen zu unterscheiden - gern vom repetitiven Wummern des soundsovielten Aufgusses von Philipp Glass' "Koyaanisqatsi" (1981) aufgespreizt wird.

Derealisierung gebärdet sich aber auch als eine besonders telegene Form der Exploitation: wenn vor allem Tiere durch die musikalische Porträtierung auf ihren puren Unterhaltungscharakter reduziert, ihre Bewegungsabläufe durch albernes  Mickeymousing zu Disney-Choreografien degradiert werden. So zuletzt in der "Geisterkatzen"-Trilogie der ARD (Luchs, Puma, Schneeleopard), wo man die Dudelpausen pro Sendung nach Sekunden zählen konnte. Wie weit diese Boulevardisierung bereits auf die Wahrnehmung der Großfauna abgefärbt hat, erkennt man leicht daran, dass ihre Exemplare als "Stars" der Savanne oder des Dschungels apostrophiert werden, als ob irgend jemand seine unerfüllten Wünsche oder Größenphantasien auf sie projizieren könnte; oder denen gar - Tiefpunkt des vulgären Anthropomorphismus - "charismatische" Qualitäten zugesprochen werden. So perpetuiert man ein Verständnis von Wildnis als Freilandzirkus, dessen Areale wir seiner Attraktionswerte wegen alimentieren, andernfalls sie zur Abholzung für den Anbau von so unverzichtbaren Kulturgütern wie Futtermais oder Palmöl freigegeben würden. Die ganze Ambivalenz solchen Naturverhältnisses verrät sich in der beliebten Formel von den "letzten Paradiesen", die unbedingt gerettet werden müssen, zu denen aber jeder erlösungsbedürftige Egoist am liebsten sofort aufbrechen würde. Mit dem bekannten Ergebnis, dass mittlerweile selbst die abgeschiedensten Pazifikinseln an den Müllbergen ersticken, die die Touristenströme hinterlassen.

Dabei wird mit den immergleichen Versatzstücken jongliert, eine fallbezogene Differenzialdiagnose ist praktisch nicht möglich, alles klingt, als ob die Öffentlich-Rechtlichen diesseits und jenseits des Ärmelkanals gar keine Orchester oder Filmkomponisten, sondern nur einen Hans Zimmer in Gestalt zahlloser Klone beschäftigten, die seine altbekannten Samples hin und herschieben. Hans Zimmer, der bekanntlich seine Partituren schon vor Beginn der Dreharbeiten anfertigt, um sicher zu stellen, dass man später auf der Leinwand nur das sieht, was seine musikalischen Marschbefehle diktieren. Theoretisch sind allein schon im temperierten Notensystem mehr Klangkombinationen möglich als die Erde an morphologischer Vielfalt aufzubieten hat. Trotzdem kann man die in den allermeisten Naturdokus eingesetzten Arrangements auf ein knappes Dutzend Mixturen von großflächigen synth pads, treibenden Ostinato-Bässen und Percussionseffekten beziffern, die Orchestersounds ebenso imitieren wie Naturgeräusche und die immergleichen Assoziationsfelder und Gefühle ansteuern, unabhängig davon in welcher Weltgegend Kamera und Erzählerstimme unterwegs sind: Berg ist gleich Berg, Küste gleich Küste, Wald gleich Wald. So höhlen Klischees sowohl die Wahrnehmung von Differenzen als auch die referentielle Glaubwürdigkeit des Dokumentargenres aus.
 
Das beschädigt zwangsläufig auch die Mission prominenter Frontkämpfer für die gute Sache. Hochverdiente Globetrotter wie Dirk Steffens oder Andreas Kieling beherrschen durchaus die Gratwanderung, die Schönheit entrückter Weltgegenden nicht als Tipp für die nächste Reisebuchung, sondern als zusätzlichen ästhetischen Reiz für die Bewahrung einer kostbaren Diversität vorzuführen, zu der essentiell ihre touristische Unberührtheit gehört. Aber sie sprechen live vor der Landschaft in Selfie-Pose, gleichsam um zu beglaubigen, dass sie wirklich in Kamtschatka oder in Patagonien waren - und kriegen sogar in den syntaktischen Mikropausen ihrer Ausführungen die Belästigungsmusik hochgepegelt. Sie sollen - ich bezweifle, dass das aus eigenem Antrieb geschieht - ihr Publikum "mitnehmen", es soll "dabei sein" - und bewirken unfreiwillig das Gegenteil von Aufklärung: eine Anstiftung zur Nachahmung. Nicht einmal Harald Lesch darf neuerdings Forschungsergebnisse  präsentieren, ohne dass eine sinnwidrige Ablenkungsdramaturgie seine täglich schrumpfenden Takes mit abgedroschenen Musiksignalen umspült: die Sendereihe "Terra X" wird inzwischen auch offiziell als das angepriesen, was sie schon immer war: eine "Show".

Dies ist wohlgemerkt eine relativ junge Entwicklung. Man kann noch bis 2014 etwa in der Reihe "Schätze der Welt" einen durchaus verhaltenen, dem Thema und der Lokalität angepassten Umgang mit musikalischer Untermalung konstatieren. Großspurige Akkordschichtungen für törichte Crescendi, die auf dem Höhepunkt von übergriffigen sweep sounds weggewischt werden, wären noch bis vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Gerade darum muss man unmissverständlich betonen: Klimawandel, Artensterben, Gletscherschmelze, Waldvernichtung sind Kataklysmen noch nie dagewesenen Ausmaßes, die nicht zum Vorwand für flapsiges Infotainment taugen. Schon deshalb nicht, weil dieses Format nur die Fortsetzung einer weiteren Plage des Planeten mit anderen Mitteln darstellt: des Tourismus. Da nützt es nichts, den Gegenstand groß, erhaben, schön, auch systemrelevant, auch unerreichbar zu präsentieren, wenn diese Attribute gleichzeitig weggeblasen, weggestrichen, weggetrommelt und die zivilisatorisch verschonten Landschaften vollgelärmt werden, weil eine Exotik, die jede subjektive Besetzung abweist, den Zuschauern nicht zumutbar erscheint. Die Agenten des horror vacui begreifen nicht, dass wir mit 1,5 Milliarden Touristen (2019) längst in die Epoche des horror pleni und seiner universellen Misanthropie eingetreten sind. Da ist man auch in den eigenen vier Wänden für jedes Weniger, jede Abwesenheit, jede Pause und Stille im Dauergedränge und -gedröhn dankbar.

So wird im Dienste eines Amüsements, auf den die anvisierten Zielgruppen keineswegs erpicht sind, die einzigartige Chance des virtuellen Tourismus verschenkt, das Publikum nicht nur für das komplexe Zusammenspiel von Geographie, Meteorologie, Fauna und Flora zu sensibilisieren, sondern vor allem für dessen Unverfügbarkeit: all das Unglaubliche, Seltsame, Wunderbare, was Sie auf dem Bildschirm sehen, gehört Ihnen nicht, uns nicht, niemandem. Und niemand hat das Recht, störend und zerstörend in die ohnehin prekären Gleichgewichtssysteme einzugreifen, nur um seinen Spaß zu haben oder seine Abenteuerlust zu befriedigen. Das könnte, das müsste die ultimative und durchgehende Botschaft von Naturdokumentationen sein. Statt dessen rast der musikalische Ungeist vorzugsweise im 5/8-Takt mit galoppierendem Schlagwerk, Bläserfanfaren und wogenden Streichern über Land und Meer und verkündet im Gestus maximalinvasiver Egos siegreich: Mir nach! Macht euch keine Sorgen, wir haben alles im Griff!  

Wenn man dennoch, selten genug, im deutschen Fernsehen gelungene Naturdokumentationen mit überzeugenden Lösungen für flankierende Musik erlebt, kommen sie nicht aus Deutschland und sind grundsätzlich nicht Teil irgendeiner, oft von der BBC übernommenen Reihe. Angenehm überrascht wird man immer wieder von französischen Produktionen wie zuletzt dem arte-Dreiteiler "Wenn die Natur aufhorchen lässt" von Jacques Mitsch, der mit den Entdeckungen der Bioakustik vertraut macht, einer Disziplin, deren Studium zum Pflichtprogramm für alle einschlägig befassten Fernsehredakteure gemacht werden müsste. Oder dem bezwingend nüchternen Bericht über das weltweit ambitionierteste Projekt zur Renaturierung eines Flusses: "Die Rhône - Zurück zur Natur" von Claude-Julie Parisot.

Leider werden auch unabhängig produzierte, fotografisch und konzeptionell hervorragende Features in Spielfilmlänge immer häufiger Opfer musikalischer Überdosierungen, besonders schade ist es um "Faszination Arktis - Tauchgang unter dünnem Eis" (2019) und "Wildes Patagonien - Leben zwischen Feuer und Eis" (2016). Die Beiträge sollen trotzdem erwähnt werden, weil sie eine Ahnung von den Möglichkeiten des Genres vermitteln, an einem Gedächtnis des Erde zu arbeiten, um für die kommenden Generationen in Bild und Ton festzuhalten, was diese womöglich nicht mehr antreffen werden. Dadurch, dass sie eine große Fangemeinde erreichen, können sie eine Schlüsselrolle beim Schutz bedrohter Tierarten und der Erhaltung noch intakter Ökosysteme spielen, ihre Dokumente fügen sich unversehens zu einer virtuellen Arche Noah für Tiere und Pflanzen, Flüsse und Seen, Berge, Küsten und Meere. Vieles ist bereits in Hunderten aufwendig recherchierter und gefilmter Reportagen archiviert und müsste - auf der Basis des vorhandenen Textmaterials - nur musikalisch neu synchronisiert werden.

Anregungen hierzu kann man sich vor allem bei avancierter Ambient-Music holen, die sich vom jeweiligen Gegenstand inspirieren lässt und den Zuschauern einen Raum unkodierter Resonanzen eröffnet. Das muss nicht so düster ausfallen wie bei Thomas Köners arktischen Klangtopographien ("Permafrost" 1993, "Nuuk" 2004, "Novaya Zemlya" 2012), die gleichwohl als intuitive Vorwegnahme der heute erkennbaren  Zeitlupenkataklysmen dieser Weltregion anmuten. Genausogut kann Ambient Music die Gewaltsamkeit von Vulkanausbrüchen oder die Zerstörungskraft von Hurricans mit kaum merklichen Akzenten umso kontrastiver evozieren. Die Sammlung "Music for Films" von Brian Eno bietet hierzu eine Fundgrube spielerisch zwischen Gelassenheit, Melancholie und Heiterkeit changierender Modelle. Wie der gezielte filmische Einsatz von Ambient Music selbst einer illusionslosen Technikkritik geradezu magische Momente zu verleihen vermag, lässt sich an der ungemein differenzierten Arbeit von Pan Sonic für "Mission Atom" von Mika Taanila studieren.



Dass Filmmusik hierzulande und im angelsächsischen Raum immer aufdringlicher und obsessiver ihre Vorlagen plattwalzt, ihren akustischen Fußabdruck permanent vergrößert - und die hier formulierte Kritik kann man unterschiedslos auf alle Filmgenres übertragen - , darf abschließend als ein Aufbegehren gegen das Unvermeidliche gewertet werden: dass angesichts der Abermillionen Tonkonserven, die in den Sendern lagern, und aus denen man auch ohne Kompositionsstudium projektgenau die jeweils passenden Einspieler sampeln kann, die Vertreter dieser  Disziplin entbehrlich geworden sind.