Essay

Ein Pionier der Aufklärung

Von Frederik Stjernfelt
26.04.2022. Übermorgen vor 250 Jahren wurde der Altonaer Arzt und Aufklärer Johann Friedrich Struensee in Kopenhagen hingerichtet. Zunächst wurde ihm die Hand abgehackt. Drei Beilhiebe brauchte der Henker anschließend, um ihm den Kopf abzutrennen. Struensee hatte in Dänemark als Regent unter Christian VII. die erste totale Pressefreiheit der Welt erlassen. Er reformierte Dänemark in vielen Bereichen und revolutionierte die Öffentlichkeit und das Privatleben. Was hat ihn aufs Schafott gebracht?
Stadtphysikus Johann Friedrich Struensee. Residenzmuseum Celle
Zunächst wurde ihm die Hand abgehackt. Drei Beilhiebe brauchte der Henker anschließend, um ihm dem Kopf abzutrennen. Der Henker nahm den Kopf bei den Haaren und präsentierte ihn der Menge. Anschließend wurde der Körper gevierteilt.

Am 28. April 1772 - vor 250 Jahren - wurde der Arzt und radikale deutsche Aufklärer Johann Friedrich Struensee vor den Toren Kopenhagens in Anwesenheit von mehr als 40.000 Kopenhagenern hingerichtet. 16 intensive Monate lang war er quasi der Diktator Dänemarks gewesen und hatte eine Reihe radikaler Reformen eingeführt, angefangen mit dem Erlass der ersten vollständigen Pressefreiheit der Welt im Jahr 1770. Er führte die Meritokratie in öffentlichen Ämtern ein, schaffte die Folter ab, rationalisierte die öffentliche Verwaltung, reduzierte Zwangsarbeit der Bauern und vieles mehr.

Wie kam es, dass er an einem schönen Frühlingsmorgen auf dem Schafott landete? Ursprünglich war er Stadtarzt in Altona, der damals zweitgrößten Stadt Dänemarks, heute nur noch ein Stadtteil Hamburgs. Er wurde eingestellt, um den jungen, psychisch labilen dänischen König Christian VII. zu begleiten, als dieser 1768 zu einer ehrgeizigen internationalen Reise aufbrach, die ihn durch Deutschland, Holland, Frankreich und England führte. Der König war brillant, als er gegen seine Berater ein großes Treffen mit französischen Aufklärern in Paris organisierte, an der Spitze die Herausgeber der Encyclopédie, Diderot und d'Alembert. Er wurde jedoch auch zunehmend paranoid und litt wahrscheinlich an Schizophrenie. Aber er fand Gefallen an seinem neuen deutschen Arzt, der sein Liebling wurde.

Dies eröffnete ihm politische Möglichkeiten. Seit seiner Altonaer Zeit war Struensee mit reformorientierten Offizieren in der Spitze der dänischen Armee wie Rantzau und Gähler befreundet, mit denen er im September 1770 einen stillen Staatsstreich organisierte. Struensee und seine Gruppe wollten den Staatsrat aus Adligen loswerden, die nur mit Blick auf ihre eigenen Interessen regierten, und sie wollten Dänemark von dem Joch Russlands befreien, dem es zunehmend erlegen war. Jetzt war ihre Chance gekommen. Sie hoben die Herrschaft des Staatsrats auf und begannen, direkt vom Kabinett des Königs aus zu regieren.

Die Pressefreiheit war ihr erstes großes Gesetz, und sofort lief alles gut. Eine Flut neuer Gesetze ging aus dem Kabinett hervor, und ein Sturm von Pamphleten begann sich zu ergießen, die oft die Initiativen der neuen Regierung Struensee unterstützten. Es war ein "Goldenes Zeitalter der Presse", wie ein Pamphletist sagte, und es entbrannten rasch Debatten, in denen Priester, Juristen und Grundbesitzer angegriffen wurden, in denen über Religion, Aberglauben, Wirtschaft, Zwangsarbeit, Vetternwirtschaft, Bestechung, Stadtherrschaft, hohe Preise, Straßenfegen und vieles mehr gestritten wurde, oft in frechen, originellen Pamphleten. Es herrschte totale Pressefreiheit - die seit der Reformation herrschende Vorzensur, durchgeführt von Theologieprofessoren, war einfach abgeschafft worden. In den kurzen drei Jahren der Pressefreiheit erschienen mehr als tausend Flugschriften, die durch ihr kleines Format und ihre niedrigen Preise eine neue Leserschaft ansprachen, die sich aus einfachen Leuten, Handwerkern, Zimmermädchen, Fischhändlern, Soldaten, Seeleuten und so weiter zusammensetzte. Aus offensichtlichen Gründen gefiel es wichtigen Teilen des Adels, des Klerus und des Hofes nicht, was sie sagten, aber sie blieben still - vorerst.

Im Laufe des Jahres 1771 begann sich die Stimmung jedoch zu ändern. Struensee nahm nun ein ehrgeiziges Programm in Angriff: die Privatisierung der Moral. In kurzer Folge wurde eine Reihe von Gesetzen, die das Privatleben der Dänen einschränkten, aufgehoben. Frauen konnten nun ohne polizeiliche Kontrolle allein leben, was von einigen als Förderung der Prostitution angesehen wurde. Alle Eheschließungen, die nicht ausdrücklich von der Bibel verboten waren, wurden erlaubt. Untreue sollte nur noch von der beleidigten Seite geahndet werden können. Und nicht zuletzt: Sex außerhalb der Ehe wurde entkriminalisiert. Gleichzeitig öffnete Struensee den Königsgarten im Zentrum Kopenhagens für die Kopenhagener. Hier fanden nun öffentliche Diskussionen, Glücksspiele, Trinkgelage und nächtlicher Erotik im Gebüsch statt. Zu allem Überfluss verbreitete sich das - wahre - Gerücht, dass Struensee ein intimes Verhältnis mit der jungen Königin Caroline Mathilde hatte. Es erschienen immer mehr Flugblätter, die diese drei unsittlichen Ereignisse miteinander in Verbindung brachten - und ihre gemeinsame Ursache am Hof lokalisierten. Als die Königin im Juli ihre Tochter Louisa Augusta zur Welt brachte, gab es Gerüchte, dass es sich um sein Kind handelte, was wahrscheinlich auch zutraf. Die Wut in den Flugblättern kochte hoch und gipfelte in direkten Angriffen auf König, Königin und Minister mit Aufrufen zum Aufstand. Struensee reagierte mit einer Einschränkung der Pressefreiheit, verbot Verleumdungen und verlangte eine Druckgenehmigung für alle Veröffentlichungen.

Zu spät. In Kopenhagen brodelte nun die Wut über den deutschen Emporkömmling, der die Macht und die Königin in Kopenhagen übernommen hatte, und es verbreiteten sich Gerüchte, dass er nun plante, den König zu töten und den Thron für die Königin zu übernehmen - oder für sich selbst. Im Herbst 1771 versammelte sich eine Gruppe von Putschisten, angeführt von zwei widerspenstigen Adligen, Beringskiold und Struensees altem Freund Rantzau. Sie erhielten Unterstützung von zwei hohen Offizieren, Eickstedt und Köller. Vor allem aber gelang es ihnen, die königliche Unterstützung der Königinwitwe Juliana, ihres Sohnes Erbprinz Friedrich und ihres Sekretärs, des Theologen Guldberg, zu gewinnen. Am 16. Januar schlugen sie bei einem Maskenball am Hof zu. Alle Darsteller waren im Hoftheater anwesend, tanzten und spielten miteinander, doch als die Feierlichkeiten am 17. Januar gegen zwei Uhr morgens endeten, versammelten sich die Putschisten. Sie begaben sich in das Schlafgemach des Königs und weckten ihn auf. Er geriet in Panik, als sie ihm eine Reihe von Dokumenten vorlegten, die er unterschreiben sollte. Gleichzeitig begab sich Oberst Köller in das Gemach von Struensee und verhaftete ihn, während sich einige andere um seinen Freund Graf Brandt kümmerten. Etwa 15 ihrer engen Mitarbeiter wurden ebenfalls verhaftet. Das zentrale Thema war natürlich die Königin. Hier war Rantzau als hochrangiger Adliger gefordert, aber er bereute seine Intervention und versuchte, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Die Verschwörer mussten ihn zum Schloss zwingen, um die Königin zu verhaften, die ins Gefängnis von Kronborg in Helsingör gebracht wurde.

Nun wurden gerichtliche Kommissionen eingesetzt, die sich mit den Fällen gegen Struensee und Brandt befassen und eine rasche Scheidung der Königin vom König erwirken sollten. Das schwerste Verbrechen, die Majestätsbeleidigung durch die unerlaubte Beziehung zwischen Struensee und der Königin, konnte nicht geleugnet werden, und die Gerichtsverfahren wurden in großer Eile fortgesetzt. Das Hauptproblem bestand darin, dass Königin Mathilde eine englische Prinzessin war, die Schwester von Georg III., der sofort damit drohte, die königliche Marine zu schicken, um sie aus dem Gefängnis zu befreien. Der dänische Hof fand, einen Kompromiss: die Auslieferung der Königin an das von England regierte Hannover. Im April war alles geklärt. Ein hölzernes Schafott wurde im Norden Kopenhagens errichtet, ungefähr dort, wo heute das nationale Fußballstadion steht.

Beide Grafen wurden nun der gleichen Prozedur unterzogen. Auf dem Schafott wurden ihre Adelswappen zerrissen, dann mussten sie rituelle Fragen ihres jeweiligen Priesters beantworten, der behauptete, sie in ihren Zellen zum Christentum bekehrt zu haben. Dann wurde ihnen die rechte Hand mit einem Axthieb abgetrennt, und schließlich der Kopf und die Vierteilung.

Erst Brandt, in Struensees Anwesenheit, dann Struensee. Doch dieser beantwortete die rituellen Fragen seltsam zweideutig. Sein Priester hatte ihn akribisch darauf vorbereitet, nicht stolz und ungebrochen zu erscheinen, anscheinend fürchtete er, dass er dort oben als Freidenker erscheint.

Die erste Zeile der Bildunterschrift dieses populären und  Blattes weist auf die entsetzliche Details der Hinrichtungen hin: "Oh, was für ein jämmerlicher Anblick von Leichen und Körpern". Auf dem Holzschnitt werden die Körperteile von Brandt und Struensee nach der Vierteilung vom Schafott auf einen Wagen herabgelassen, um abtransportiert und ausgestellt zu werden. Das Blatt befindet sich heute in der Dänischen Nationalbibliothek.


Die internationale Aufmerksamkeit war bereits durch den spektakulären Staatsstreich vom Januar erregt worden, und die dramatischen Einzelheiten der sich entwickelnden Struensee-Affäre sorgten in der europäischen Öffentlichkeit sofort für Aufregung. Zeitungen und Zeitschriften, vor allem in Norddeutschland und dem internationalen Publikationszentrum Holland, berichteten bis zum Frühjahr 1772 in deutscher und französischer Sprache ausführlich über die dramatischen Ereignisse in Kopenhagen. Das öffentliche Interesse der englischen Presse war durch die akute Beteiligung der  jungen englischen Prinzessin in einer Hauptrolle gegeben. Auch die Presse in Amerika wurde aufmerksam. Was von vielen als blutiger, grausamer und altmodischer, ja obsoleter Bestrafungsritus empfunden wurde, trug im April nur zur internationalen Aufmerksamkeit für die politischen Umwälzungen in Kopenhagen bei. Der Hamburgische Correspondent, eine der wichtigsten Zeitungen Europas, berichtete im Frühjahr 1772 sehr ausführlich über die Struensee-Affäre, und zwar in Form einer von einem lokalen Korrespondenten verfassten Serie auf der Titelseite, die dafür sorgte, dass die Struensee-Affäre und der Machtwechsel in Dänemark-Norwegen in den deutschsprachigen Ländern ein breites Publikum fand. Die Berichterstattung war gut informiert und ging weitaus mehr ins Detail als die zaghafte Kopenhagener Presse, die sich vor der neuen Putschregierung fürchtete. Das war professioneller Journalismus.

Die Presseberichterstattung war jedoch nur die erste Welle. Es folgte ein internationaler Krieg der Pamphlete. Die Putschregierung in Kopenhagen hatte eine gut geplante Werbekampagne gestartet und alle Pfarrer der lutherischen Staatskirche angewiesen, Gott für den Sturz von Struensee zu danken. Die populärsten Pfarrer mussten daraufhin ihre Predigten auf dem neuen, heißen Flugblattmarkt veröffentlichen. Dies hatte zur Folge, dass die meisten Putschisten unter dem Radar der Öffentlichkeit verschwanden - sie wollten nicht die nächsten Opfer einer Pressekampagne werden. Doch international begannen Gegenschriften zu erscheinen, um eine völlig andere Geschichte zu erzählen, die näher an der Wahrheit lag - auch wenn sie Königin-Witwe Juliana als eine allzu bösartige Drahtzieherin darstellten. Die dänische Regierung brachte anonyme Erwiderungen in Umlauf, drohte der Gazette de Leyde in den Niederlanden und schickte sogar einen Abgesandten zur Leipziger Buchmesse, um feindliche Flugblätter zur Vernichtung zu beschaffen - doch ohne Erfolg. Die Pressefreiheit, die sie in Dänemark-Norwegen zu ersticken versuchten, hat sich in Europa durchgesetzt, auch ohne Gesetz.

Es war nicht nur ein Sexskandal. Es ging auch um die Prinzipien der Aufklärung - um den Kampf zwischen dem altmodischen gottgegebenen und einem aufgeklärten Absolutismus. Und - qua Pressefreiheit - dem Absolutismus der öffentlichen Meinung.

Frederik Stjernfelt

Im Mai erscheint bei De Guyter Ulrik Langens und Frederik Stjernfelts ausführliche Studie "The World's First Full Press Freedom - The Radical Experiment of Denmark-Norway 1770-1773". 551 Seiten,  ISBN: 9783110771800, 59,95 Euro.