Essay

Gespenster hinter Milchglas

Von Thierry Chervel
10.04.2023. Reinhard Bingener und Markus Wehner zeigen in ihrem Buch "Die Moskau-Connection", wie moralische Taubheit, maßgeblich verkörpert von der SPD, in die politische Katastrophe führte. Kumpanei mit einem Unrechtsregime trug dazu bei, es zur schlimmsten Diktatur in Europa seit Hitler und Stalin zu machen, das seine Nachbarn mit Krieg überzieht. Eine Aufarbeitung findet nicht statt. Zu breit war der gesellschaftliche Konsens für diese Politik. Heutige Koalitionspartner sind zu höflich, um einen Untersuchungsausschuss zuzulassen. Und die Opposition erst recht.
"Nie wieder", ruft die SPD seit bald achtzig Jahren. Und doch arbeitete kein Akteur in der deutschen Nachkriegsgeschichte intensiver daran, einem neuen Totalitarismus den Boden zu bereiten als die SPD. Sie agierte bei weitem nicht allein, sondern in einem breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens, der eine Aufarbeitung ihrer bewussten Anbiederungen an eine Diktatur noch erschwert. Keine politische Kraft ist zur Zeit daran interessiert. Zu tief ist die CDU selbst verstrickt. Die Grünen wollen in einer Ampel mit der SPD regieren. Linkspartei und AfD lecken Putin die Stiefel.

Wir sind sehend in die Katastrophe gelaufen. Keiner hat die historische Heuchelei der Deutschen früher und hellsichtiger benannt als André Glucksmann, der schon in den achtziger Jahren die Widersprüche der Friedensbewegung offenlegte, der nicht erst gegen den zweiten, sondern schon gegen den ersten Tschetschenienkrieg seine isolierte Stimme erhob, der Putin 2005 (auch im Perlentaucher) als jenen Petro-Zar benannte, dem sich Deutschland zu unterwerfen drohte. Glucksmanns letzte Bücher wurden in Deutschland nicht mal mehr übersetzt.

Reinhard Bingener und Markus Wehner erzählen in ihrem Buch "Die Moskau-Connection", wie die legendäre Ostpolitik Willy Brandts über Jahrzehnte zu einer Politik der Gasrente verkam, einer von allen moralischen Skrupeln freien Interessenpolitik, die der SPD doppelt nützte - in Form von lukrativen Stellen für ehemalige Funktionäre und in der Erhaltung ihrer Wählerklientel. Bingener und Wehner erzählen, wie sich unter Gerhard Schröder, der auch als Ex-Kanzler eine maßgebliche Kraft in der SPD blieb, ein immer engeres Netzwerk von ehemaligen Politikern, ehemaligen Stasi-Leuten, aktiven Wirtschaftsmagnaten und russischen Oligarchen etablierte, das jahrzehntelang daran arbeitete, Deutschland gewissermaßen als Brautgeschenk an Wladimir Putin zu übergeben.

Man lese als Beispiel diesen Absatz: "Auffällig ist die hohe Zahl der Wechselbeziehungen, die finanziell unterlegt sind, teils unter Verwendung von Steuergeldern. Innerhalb von Schröders Netz könnte man so vielfältige Ketten beschreiben. Ein Beispiel, allein aus den bisher beschriebenen Verflechtungen gebildet: Heino Wiese fädelt den Einstieg des Oligarchen Mordaschow bei Frenzels TUI ein, die wiederum die Arena von Papenburg sponsort; Papenburg hält Anteile an dem Stahlunternehmen Salzgitter AG, das Schröder einst als Ministerpräsident mit Steuergeldern Frenzels TUI-Vorläufer Preussag abkaufte und das später Röhren für das von Schröder beaufsichtigte Unternehmen Nord Stream 2 sowie andere Pipeline-Projekte des Kremls liefert, dessen diplomatischer Vertreter in Hannover wiederum Wiese ist."

Foto: Thierry Chervel.



Dieses Zitat zeigt schlaglichthaft, dass sich die Sphären in der SPD gar nicht trennen lassen: Was gut ist für mich, ist auch gut für das Land Niedersachsen, ist auch gut für die Salzgitter AG ist auch gut für die Arbeiter dort, ist auch gut für die SPD, die sie dann wählen. Dies Amalgam aus privaten und politischen Interessen, das am Ende nur zu einer Oligarchenschaft führen kann, die ein Land in der Hand hält, ist es wohl, das die SPD trotz aller anderen Mittäter zum moralisch am tiefsten kompromittierten Akteur macht. Das "Nie wieder" wurde zu Schröders Zeiten zu einem postmodernen Fassadenblendwerk in einer Struktur, die allein wirtschaftlichen, parteipolitischen und privaten Zwecken diente.

Soll man tatsächlich glauben, dass scharfe Intelligenzen wie Frank-Walter Steinmeier naiv handelten, wenn sie die Parole "Wandel durch Verflechtung" ausgaben? Die Naivität bestand allenfalls darin, nicht zu erkennen, dass man selbst es war, der sich wandelte, um sich für den Mafioso, um den man warb, schön zu machen.

Das Buch erzählt in wesentlichen Passagen diese Geschichte des Ausverkaufs deutscher Infrastrukturen an den sowjetischen, später russischen "Partner". Es ist eine lange Geschichte, die weit in die alte Bundesrepublik zurückgreift:

- Erste Röhrengeschäfte werden schon in den Fünfzigern unter Einfluss des mächtigen Ostausschusses der deutschen Wirtschaft angebahnt. "Die Geopolitik durchkreuzt das Geschäft jedoch. Angesichts der Kuba-Krise drängt der amerikanische Präsident Kennedy den deutschen Kanzler Adenauer zu einem Stopp der Röhrengeschäfte."

- Es folgt der "Erdgas-Röhren-Vertrag" von 1970, "das bis dahin größte Geschäft zwischen Ost und West seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs… Die beiden Architekten dieser Politik, Willy Brandt und Egon Bahr, hatten schon seit Jahren im Kopf, dass eine verstärkte Kooperation in der Energiepolitik einen Schlüssel für verbesserte Beziehungen zur Sowjetunion bilden kann. Das Schlagwort lautet 'Wandel durch Annäherung' oder auch 'Wandel durch Handel'."

- Mit der Wiedervereinigung steigt die deutsche Abhängigkeit von Gazprom, da die ehemalige DDR fast gänzlich an russischen Infrastrukturen hängt.

- Als Gerhard Schröder ins Amt kommt, hat er zunächst ein eher distanziertes Verhältnis zu Moskau. Die Autoren schildern allerdings eindringlich das intensive Werben Putins um Schröder, das eine private Einladung zu Weihnachten einschließt.

- Ein entscheidender Moment ist die Fusion von Eon und Ruhrgas im Jahr 2002. Schröder und sein Wirtschaftsministers Erwin Müller setzen sie mit einer äußerst windigen Ministererlaubnis gegen schwerste Bedenken der Kartellbehörden durch. Der Volkswirt Martin Hellwig, damals Vorsitzender der unabhängigen Monopolkommission, die die Bundesregierung berät, erinnerte 2022 in einem denkwürdigen FAZ-Artikel an die brutale Durchsetzung der Fusion durch Schröder und Müller. Unternehmen, die geklagt hatten, beschwichtigte das neue Unternehmen mit Geld: "Als ein Kläger, das finnische Unternehmen Fortum, nicht mitmachen wollte, rief ein Mitglied der Bundesregierung bei der finnischen Regierung an, und am nächsten Tag, dem letzten vor der angekündigten Urteilsverkündigung, ließ auch Fortum sich auskaufen. Wernhard Möschel, mein Vorgänger als Vorsitzender der Monopolkommission, kommentierte in der FAZ, das Wort 'Stamokap' gewinne da eine neue Bedeutung."

- 2004 "schenkt" Putin dem Ehepaar Schröder zwei Kinder zur Adoption.

- 2005, direkt nach seiner Kanzlerschaft, tritt Schröder in den Aufsichtsrat von Gazprom ein

- Nach der Fusion von Eon und Ruhrgas und unter der Beteiligung der sehr aktiven BASF mit ihrer Tochter Wintershall wird in der Folge Nord Stream 1 in Angriff genommen. Schon im Kanzleramt hatte Schröder dieses Projekt betrieben.

- Mit der Inbetriebnahme von Nord Stream 1 2011 gerät die Regel, dass Deutschland nicht mehr als 30 Prozent seines Gases von einem Anbieter beziehen soll, zusehends aus dem Blick.

- Nach Fukushima 2011 beschließt Angela Merkel den deutschen Atomausstieg und erhöht damit die Abhängigkeit von russischem Gas noch weiter.

- Die Außenminister Steinmeier und Gabriel, enge Freunde Schröders, setzen seine Politik fort.

- "Gabriels Amtszeit von 2013 bis 2017 nimmt auf dem Weg in die Abhängigkeit von russischem Gas eine Schlüsselstellung ein... Liegt der Anteil Russlands an den deutschen Gasimporten vor dem Amtsantritt Gabriels im Jahr 2012 bei 34,6 Prozent, steigt er bis zum Jahr 2018, im Jahr nach seinem Ausscheiden, auf 54,9 Prozent und verringert sich bis zu Russlands Überfall auf die Ukraine 2022 nicht mehr wesentlich."
 
- In die Amtszeit Gabriels fällt auch der Verkauf der größten deutschen Gasspeicher an Gazprom. Auf eine Anfrage der Grünen antwortet er, es handele sich um "unternehmerische Entscheidungen!" Gazprom bündelt alle Funktionen und ist zugleich Produzent, Lieferant, Lagerbetreiber und maßgeblicher Eigentümer von Infrastrukturen.

Warum fordert niemand einen Untersuchungsausschuss des Bundestags, der diese Verfehlungen aufarbeitet?
 
Einer der Gründe könnte sein, dass wir uns über Jahrzehnte an diese Politik gewöhnt haben. Der berühmte "Gesprächsfaden mit Moskau", der nicht abreißen darf, war immer schon zähler als alle moralischen Bedenken. Gerhard Schröder gehört mit Genossen wie Oskar Lafontaine oder Rudolf Scharping zur sogenannten "Enkelgeneration" der SPD. Die Großväter hießen Brandt und Schmidt, Wehner war vielleicht der Urgroßvater. Der Zynismus von Schröders Politik kam nicht aus dem Nichts. Die Grundlagen hierfür wurden bereits in der zweiten Phase der Entspannungspolitik gelegt. Vom Beginn des Kriegs gegen die Ukraine her gesehen erscheint der Mauerfall plötzlich gar nicht mehr so sehr als Zäsur.

Timothy Garton Ash beschreibt in seinem Buch "Im Namen Europas" die ursprüngliche Idee der Entspannungspolitik als eine subtil dialektische "Liberalisierung durch Stabilisierung". Die zunächst bloß instrumentelle Anerkennung der kommunistischen Regimes als Gesprächspartner sollte es ihnen gestatten, die Faust, in der sie ihre Populationen hielt, etwas zu lockern. Es war wahrlich eine Politik der kleinen Schritte, die dennoch große Erleichterungsgefühle auslösten. Es ging um Verwandtenbesuche, Reiseerleichterungen, "kleinen Grenzverkehr". Um 1970 schien die Möglichkeit einer Wiedervereinigung längst in weite Ferne gerückt. Die Aufteilung der Welt in Blöcke wirkte solide wie Beton. Es ging um Durchlässe im Eisernen Vorhang, und es war richtig, nach Erleichterungen zu suchen.

Niemand verinnerlichte allerdings in der Folge die anfangs bloß taktische Anerkennung der totalitären Regimes intensiver als die Sozialdemokratie. Man war stolz auf das Erreichte und wollte es bewahren. Man wollte zwar Erleichterungen für "die Menschen", schreibt Timothy Garton Ash, aber die entstehenden Zivilgesellschaften in osteuropäischen Ländern wollten die sozialdemokratischen Granden fast mit der gleichen Entschiedenheit verhindern wie die Gesprächspartner in den Regimes. Sie störten das intrikate und zugleich die eigene Bedeutung so vorteilhaft spiegelnde Arrangement mit den Machthabern. Die SPD war ebenso sehr eine Kraft des Status Quo wie die Sowjetunion, über die das heute gern gesagt wird.

Es raubt einem fast den Atem, bei Bingener und Wehner nochmal zu lesen, was man eigentlich wusste. Im Herbst 1981, als die Solidarnosc mit ihren Streiks die polnische Regierung in Bedrängis bringt, "wird Bahr gefragt, ob die Sowjetunion das Recht habe, in Polen einzuschreiten. 'Aber selbstverständlich', antwortet er. Und Herbert Wehner, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, fordert schon im August 1981 gegenüber einem Vertrauten Honeckers, man müsse 'entschlossene Maßnahmen gegen Polen' einleiten, 'je eher, desto besser'. Es gehe 'nicht ohne innere Gewalt, leider', so Wehner. Der SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt ist Ende 1981 der Ansicht, dass die Verhängung des Kriegsrechts 'nun notwendig war'."

Viel besser als mit Soldarnosc versteht man sich mit Erich Honecker. Die SPD ist zwar inzwischen in der Opposition, führt aber direkte Gespräche mit der SED: "Sie münden im August 1987, kurz vor dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik, im gemeinsamen Papier 'Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit'." Egon Bahr hatte Honecker schon 1986 versichert, "dass die SPD im Falle eines Wahlsiegs im Januar 1987 die Staatsbürgerschaft der DDR voll anerkennen werde. Das Gleiche hatte im Jahr zuvor der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine gefordert." Schröder nennt im Jahr 1987 die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung eine "Lebenslüge".

Wieder ist es 1989 Willy Brandt, der die Ehre der SPD rettet, als er konstatiert, dass "nun zusammenwächst, was zusammengehört". Eher vergessen ist, dass große Teile der SPD gegen eine Wiedervereinigung sind. Lafontaine führt damit im Jahr 1990 Wahlkampf und verliert. Gerhard Schröder gewinnt im Jahr 1990 mit 44,2 Prozent der Stimmen die Landtagswahl in Niedersachsen, "bildet eine Koalition mit den Grünen und wird im Landtag endlich zum Ministerpräsidenten gewählt. Eine seiner ersten Entscheidungen besteht darin, dass Niedersachsen im Bundesrat als einziges Land neben dem ebenfalls sozialdemokratisch geführten Saarland gegen die Ratifizierung des ersten Staatsvertrags auf dem Weg zur Wiedervereinigung stimmt."

Auch nach dem Mauerfall bleiben SPD-Politiker ihrer Verachtung für Osteuropa treu. Helmut Schmidt nennt die Annexion der Krim durch Putin verständlich, die Ukraine sei "kein Nationalstaat", zwischen Historikern sei umstritten, "ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt". Sanktionen hält er für dummes Zeug. Schmidts einstiger Gegner Erhard Eppler bezeichnet die Krim-Annexion 2014 und Putins Krieg im Donbass "als defensive Antwort auf den erkennbaren Versuch der Nato, sich bis nach Zentralrussland auszudehnen und damit die rote Linie Russlands zu überwinden". Schlimmer als Putin erscheint Eppler die Aussicht auf ein Europa, "das sich dauerhaft an die Rockschöße der Vereinigten Staaten klammern" müsste.

Ist es eigentlich eine bewusste Lüge, wenn eine sozialdemokratisch geprägte Gruppe um Willy Brandts Sohn Peter Brandt heute in ihrem Friedensappell behauptet, dass wir die deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung der Friedens- und Entspannungspolitik, also der SPD, verdanken? Die Zitate bei Ash und bei Bingener und Wehner zeigen, dass die Entspannungspolitiker den Status quo wollten, die Geschichte ist ihnen allenfalls entglitten, weil Gruppen wie Solidarnosc und die Charta 77 die Initiative ergriffen und die Regimes derart marode waren, dass sie trotz der westdeutschen Subventionen nicht weiter existieren konnten. Die Spaltung Europas hatten große Teile der SPD und der Friedensbewegung längst als "Strafe für Auschwitz" akzeptiert, die um so leichter zu verkraften war, als es die Osteuropäer waren, die sie absitzen mussten.

Heute hat man das Gefühl, auf eine unheimliche Szenerie zu blicken. Figuren wie Manuela Schwesig oder Frank-Walter Steinmeier bewegen sich wie Gespenster hinter Milchglas. Müssten sie nicht eigentlich vor Scham zerfließen? Aber der Eindruck trügt. Schwesig wurde jüngst mit 88,5 Prozent als Landesvorsitzende der SPD in Mecklenburg-Vorpommern wiedergewählt. Steinmeier empfängt mit Frack und Schärpe den neuen britischen König und zeichnet seine ehemalige Chefin mit einem unverdienten "Großkreuz in besonderer Ausfertigung" aus. Und die Bevölkerung ist zufrieden. Sie fühlt sich weiterhin gut verwaltet. Auch die Medien haben das Thema mehr oder weniger ad acta gelegt und widmen sich genüsslich den Kabbeleien in der Ampelkoalition.

Wäre es übertrieben, von einer "zweiten Schuld" zu sprechen? Gewiss, wir haben nicht nochmals sechs Millionen Juden umgebracht, und wir haben nicht selbst einen Krieg angezettelt. Aber wir haben über Jahrzehnte in einer epochal fehlgeleiteten Politik - und immer fröhlich das "Nie wieder" auf den Lippen - ein Regime hochkommen lassen, beschützt und verteidigt, und mit ihm hingebungsvoll Geschäfte gemacht, das Autoren wie der Historiker Timothy Snyder heute mit guten Argumenten als faschistisch bezeichnen.

Seltsam, dass wir (West-)Deutsche seit der Entspannungspolitik immer wieder agieren, als könnten wir von Geschichte gar nicht mehr berührt werden. Was kümmerte uns der mörderische Krieg der Sowjets gegen Afghanistan, das hunderttausendfache Morden Putins in Tschetschenien, die Fassbomben in Syrien? Wir sind solidarisch mit "den Menschen" in der Ukraine, aber sind wir solidarisch mit der Idee, die sie verteidigen? Unsere Reflexe funktionieren wesentlich besser, wenn es gegen Amerika geht: Die größten Demos in der bundesdeutschen Geschichte richteten sich gegen die amerikanische Nachrüstung, gegen den ersten und den zweiten Irakkrieg.

René Pfister hat in einer sehr lesenswerten Spiegel-Kolumne das Gefühl der Derealisierung beschrieben, in dem wir heute leben. Was wäre, wenn in zwei Jahren ein republikanischer Kandidat die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt und sich aus dem Engagement in der Ukraine zurückzieht, fragt er. Deutschland sei ohne Amerika weit entfernt, sich gegen Russland verteidigen zu können, hat ihm ein Mitglied der Bundesregierung geantwortet: "Der Satz fiel ohne jede Aufregung, als nüchterne Feststellung der Tatsachen - und ganz offenkundig nicht in dem Gefühl, ein Staatsgeheimnis preiszugeben."

Als Willy Brandt seine Ostpolitik initiierte - das hat sein Sohn vielleicht vergessen -, tat er das im Rahmen einer festen Westbindung. Bei der Bundeswehr standen 500.000 Mann unter Waffen, sie war fest eingebunden in Nato-Strukturen. Der Verteidigungsetat lag bei 4 Prozent des Bruttosozialprodukts. Heute sind es 1,3 Prozent - dank einer Sozialdemokratie, die ihre Rentner versorgen will und sich weigert, der Bundeswehr das Nötige zu geben. Dass ausgerechnet Donald Trump diese Wahrheit aussprach, bestärkte die SPD und mit ihr die deutsche Öffentlichkeit nochmal in ihrer Selbstgerechtigkeit.

Wovor die Deutschen heute Angst haben, ist bekanntlich ein Atomangriff Wladimir Putins. Die FAZ hat darum mal nachgefragt, wie es mit Schutzvorkehrungen aussieht: "Vernünftige Möglichkeiten, sich im Falle eines drohenden gezielten nuklearen Angriffs auf das Berliner Regierungsviertel in Sicherheit zu bringen, gebe es so gut wie keine, heißt es aus Parlamentskreisen."

Diese deutsche Kombination von Sorglosigkeit - uns wird Putin schon nichts tun - und apokalyptischen Ängsten ist immer wieder verblüffend.

Die SPD sollte ihren historischen Stolz eigentlich aus der Tatsache ziehen, dass sie einst gegen beide Totalitarismen einstand. Statt dessen scheint sie sich ihres Bad Godesbergs zu schämen und treibt sich auf dem Schulhof lieber mit den bösen Jungs rum. Seit fünfzig Jahren hat sie sich entschlossen, die Schwächeren, die zwischen ihnen stehen, zu ignorieren - wissentlich, nicht aus Naivität. Dieser Artikel darf nicht enden, ohne dass der Name Anna Politkowskajas fällt, die Wladimir Putin im Jahr 2006 als Geburtstagsopfer dargebracht wurde. Sie starb für jene Wahrheit, die die deutsche Politik nicht wahrhaben wollte.

Thierry Chervel