Magazinrundschau

Die Vögel des Friedens weinen in Käfigen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.10.2023. Die London Review versucht den Konflikt um die Republik Arzach in Bergkarabach aufzudröseln. Himal hört, wie sich die alltägliche Entrechtung der Paschtunen in Pakistan in ihrer Lyrik niederschlägt. Die komische ungarische Gegenwart ist fantastischer literarischer Stoff, versichert Lajos Parti Nagy in HVG. Es wird niemals eine Entputinisierung in Russland geben, fürchtet Michail Schischkin in Desk Russie. In Quietus erklärt Thurston Moore von Sonic Youth, wie man stilvoll ausverkauft. Der New Yorker erforscht das äußerst lukrative Geschäft mit CO2-Kompensationen.

London Review of Books (UK), 16.10.2023

Tom Stevenson blickt auf die international nie anerkannte Republik Arzach in der kaukasischen Region Bergkarabach zurück, die seit der militärischen Eroberung durch das sie umgebende Aserbaidschan und die Vertreibung der armenischen Bevölkerungsmehrheit im September diesen Jahres nicht mehr existiert. Die armenische Enklave war seit dem Ende der Sowjetunion Gegenstand politischer und immer wieder auch militärischer Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Was also hatte es mit der der Republik Arzach auf sich? "Als Armenien die frühere Autonome Oblast Bergkarabach eroberte, vertrieben es Tausende Aserbaidschaner, zehntausende Zivilisten starben. Aus aserbaidschanischer Perspektive und vermutlich auch aus der des Völkerrechts war Arzach eine illegale Entität. In Armenien wurde es als wichtiger Teil des modernen armenischen Staats betrachtet. Zu verteidigen gelte es Arzach aus diesem Grund, aber auch, weil die Menschen, die damals dort wohnten, offensichtlich nicht unter aserbaidschanischer Herrschaft leben wollten. Die Republik Arzach war Folge eines historischen Trends: das Ende der ethnischen Durchmischung kaukasischer Städte, die sich in den letzten Jahren der Sowjetunion rapide beschleunigt hatte." Jetzt hat also Aliyevs Aserbaidschan die Kontrolle über die Region. Stevenson lässt keinen Zweifel daran, dass die Flucht der Armenier Teil des Plans Aliyevs war und dass es sich damit um einen erneuten Fall von ethnischer Säuberung handelt. Die alleinige Schuld an der Eskalation möchte er Aserbaidschan allerdings nicht zuweisen: "Arzach war immer eine eigene Krise mit eigenen, lokalen Zusammenhängen. Die aserbaidschanische Regierung stellte es so dar, als würde sie die Gunst der Stunde nutzen, als sie im September in der Gegend militärisch aktiv wurde. 'Wir hätten das nicht früher tun können und länger zu warten wäre auch keine gute Idee gewesen', meint der aserbaidschanische Botschafter in Großbritannien. 'Die Operation stand unter einem günstigen Stern'. Auch deshalb, weil Europa dabei ist, die Beziehungen zu Aserbaidschan zu verbessern. (...) Im Juli letzten Jahres reiste Ursula von der Leyen nach Baku, um Aliyev zu treffen und einen Vertrag zu unterschreiben, der den europäischen Bezug von Erdgas aus Aserbaidschan verdoppelt."

Judith Butler meldet sich zur aktuellen Nahostkrise zu Wort. Sie verurteilt die Massaker der Hamas und kritisiert auch Organisationen wie das Harvard Palestine Solidarity Committee, die die Terrororganisation von jeder Schuld freispricht und einzig das "Apartheidsregime" Israels für verantwortlich erklärt. Allerdings will sie es dabei nicht bewenden lassen und legt insbesondere Wert darauf, dass Hinweise auf den Ursprung des Konflikts nicht als Relativierung ausgelegt werden: "Einige Leute befürchten zurecht, dass jede Kontextualisierung der Gewalttaten der Hamas dazu genutzt werden wird, die Hamas zu entlasten, oder die Aufmerksamkeit von den Schrecken abzulenken, den sie hervorgerufen hat. Aber was, wenn dieser Schrecken selbst zur Kontextualisierung führt? Wo beginnt der Schrecken und wo endet er? ... Wenn entschieden wird, dass wir nicht wissen müssen, wie viele palästinensische Kinder und Jugendliche in der West Bank und in Gaza während der Besatzungszeit getötet wurden, wenn diese Information nicht als notwendig für die Beurteilung der Angriffe auf Israel und die Tötung von Israelis gehalten wird, dann haben wir uns entschieden, dass wir nicht die Geschichte der Gewalt, der Trauer und des Zorns kennen möchten, wie sie von Palästinensern gelebt wird." (Und das soll jetzt keine Relativierung sein?)

Himal (Nepal), 16.10.2023

"Die Vögel des Friedens weinen in Käfigen/Die Leben unserer Kinder wurden durch eure Entscheidungen ruiniert", so lautet eine Zeile des Lieds, das bei den Protesten des Pashtun Tahafuz Movement im Jahr 2018 gesungen wurde, erinnert sich Hurmat Ali Shah. Ausgelöst durch den Tod von Naqeebullah Mehsud, der von der Sindh-Polizei unter falschen Anschuldigungen gefoltert und erschossen wurde, protestierten die Paschtunen gegen ihre alltägliche Entrechtung in Pakistan und ihre Rolle als "Bauern in einem blutigen Spiel", das sie über Jahrzehnte hinweg immer wieder zwischen das pakistanische Militär und die militanten Islamisten treibt, die in Khyber Pakhtunkhwah, der mehrheitlich paschtunischen Provinz an der afghanisch-pakistanischen Grenze aktiv sind. "Wenn sie uns unsere Rechte nicht geben/werden wir uns in einer kühnen Rebellion erheben", so geht das Lied weiter, und Hurmat Ali Shah bemerkt: In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hat sich die Unterdrückung der Paschtunen in ihrer Lyrik niedergeschlagen. Eigentlich geprägt von Motiven wie Mystik, Liebe und Schönheit, haben sich "der Ton und das Timbre verändert, und die gemeinsamen Wörter und Themen waren nun jang (Krieg), aman (Frieden), zulm (Unterdrückung). Janan (Geliebte) wurde durch jang ersetzt, während die Sehnsucht nach masti (Ekstase) von der Sehnsucht nach aman (Frieden) abgelöst wurde. Früher war wajood (Existenz) das übergreifende Anliegen, doch jetzt verschmelzen wajood und zulm zu einem neuen Bewusstsein eines von Vernichtung bedrohten politischen Körpers. Diese Veränderungen prägen die paschtunische Poesie der heutigen Zeit. Wie der junge Dichter Ali Khan Umeed sagt:

Dalta da bal shante da sarru raaj dy
Dalta da ghatu topaku raaj dy
Pa hagha kaly ke dolay qaht shwe
Bas pa ogu da janazu raaj dy

Dieses Land wird von einer anderen Art von Lebewesen regiert
Dieses Land wird von großen Kanonen regiert
Hört zu! In dieser Stadt herrscht eine Hungersnot an Dolis
Die Schultern werden stattdessen zum Tragen von Leichenbahren benutzt.

Hier verwendet Umeed starke kulturelle Symbole, um die neue Lebenswirklichkeit zu vermitteln. In den paschtunischen Ländern - einschließlich Swat, der Heimat des Dichters - war es Tradition, eine Braut auf einer Doli, einer mit Blumen, Spiegeln und Kristallen geschmückten Sänfte, vom Elternhaus in ihr neues Heim zu tragen. Heute benutzen paschtunische Männer ihre Schultern, um stattdessen die Leichenbahren zu den Friedhöfen zu tragen."
Archiv: Himal

HVG (Ungarn), 12.10.2023

Der Schriftsteller Lajos Parti Nagy unterhält sich anlässlich seines siebzigsten Geburtstages mit Zsuzsa Mátraházi über die politische Situation in Ungarn, die nervt, aber auch interessant ist: "Denn dieser Berg von Themen, diese tragische und komische ungarische Absurdität, die auf den Straßen, also in der Öffentlichkeit brodelt und stinkt, ist ein fantastischer literarischer Stoff. Es ist eine kontinuierliche, sich verdüsternde Dystopie, die unter die Haut geht, die gemeinsame Haut, denn die Zuschauer sind auch Darsteller. Ich schreibe regelmäßig, alle fünf Wochen, ein Richtung Publizistik neigendes Feuilleton. (...) Ich schreibe 'dokumentarisch', aber mit immer weniger Begeisterung. Ich mache mir keine Illusionen über die Wirkung. Die Handvoll Oppositionszeitungen befinden sich praktisch in einer Blase, abgeschnitten vom Großteil der Öffentlichkeit. Diese Regierung sollte gestürzt werden. Aber in Ungarn gibt es derzeit keine Kraft, die einen radikalen Wandel herbeiführen kann. Leider müssen wir zugucken, auch wenn es schwer zu akzeptieren ist. Ich glaube, dass dieser Mafiastaat nicht als innere Angelegenheit Ungarns zusammenbrechen wird und es wird dann nicht möglich sein, aus der Sache gut herauszukommen. Ich hätte keine Ahnung wie."
Archiv: HVG

Guardian (UK), 16.10.2023

Andreas Pabst besucht das Intercontinental Hotel in Kabul, das einst als erstes Luxushotel Afghanistans Teil am globalen Glamour hatte, nun aber, wie das ganze Land, in der Hand der Taliban ist. Die wollen das Hotel weiterbetreiben und haben eine ganze Reihe ihrer Kämpfer in der Verwaltung platziert. Die restlichen Angestellten sollen - soweit sie nicht ins Ausland geflohen sind - mit den Islamisten zusammenarbeiten und möglichst schnell möglichst viele Profite erwirtschaften. Einer, der dafür sorgen soll, dass dies geschieht, ist der Marketingexperte Samiullah Faqiri: "Alle Einnahmen gehen an den Staat, der seinerseits Gehälter zahlt und auch für Erhalt und Renovierung sorgen muss. Obwohl Faqiri für die Taliban arbeitet, ist er keiner von ihnen. Wenn er über die Taliban spricht, redet er von 'ihnen'. So sagt er zum Beispiel: 'Wenn ich die Zielvorgabe nicht erreiche, werde ich von ihnen nicht umgebracht', und lacht. Wenn Faqiri lacht, bewegt sich erst seine Nase, dann seine Schultern, sein Bauch - ein sehr physisches, ansteckendes Lachen, das meist dann hervorbricht, wenn er gerade Sätze gesagt hat, die sich ansonsten düster anhören würden." Ein anderer Protagonist der Reportage ist Mohammed Elyas Niazai, ein junger Taliban. Auch er arbeitet im Hotel. Vorläufig. "Niazai strampelt auf dem Hometrainer. Jede Nacht trainieren er und seine Freunde hier, sagt er. Die Freunde, das sind die Talibanwächter, die um das Hotel herum platziert sind. Aber heute ist er allein. Er hat seine traditionelle Kleidung abgelegt und trägt einen Trainingsanzug, von einer Marke, die einst bei amerikanischen Soldaten in Afghanistan beliebt war. Die Mülleimer sind voller leerer Red-Bull-Dosen. Einmal meinte Niazai zu mir: 'Frieden ist gut für Afghanistan. Aber für uns ist er langweilig.' Er hat Angst, dass er sich an dieses Leben gewöhnen könnte. Er hatte nie Angst davor zu kämpfen, und jetzt hat er Angst davor, dass er sich eines Tages vor dem Krieg fürchten könnte."
Archiv: Guardian

Desk Russie (Frankreich), 14.10.2023

Wer in Russland und auf Russisch aufgewachsen, trägt den Imperialismus und eine Sprache der Gewalt schon in sich, schreibt Michail Schischkin in einem verzweifelten und düsteren Text. Russland wird diese Tradition der Gewalt kaum abwerfen können. Eine "Entputinisierung" wird es nicht geben: "In abgelegenen russischen Städten werden die Büros der Nato-Kommandeure keine Plakate mit ermordeten ukrainischen Kindern aufhängen, Plakate, auf denen steht: 'Das ist eure Schuld, die Schuld eurer Stadt', wie es die Amerikaner in Deutschland nach dem Krieg getan haben. Auf der russischen Landkarte wird es kein Nürnberg geben. Es wird keine russische Reue geben. Diejenigen, die nach Putin kommen, werden nicht in Butscha, Mariupol, Prag, Budapest, Vilnius oder Tiflis niederknien. so etwas macht ein Zar nicht. Darum wird es auch keinen Marshallplan geben. Aber einen Handschlag mit dem ersten Kremlchef, der dem Westen verspricht, das rostige Atomwaffenarsenal Russlands zu kontrollieren."
Archiv: Desk Russie

Aktualne (Tschechien), 10.10.2023

Es gibt sie doch, die russischen Intellektuellen, die sich zu Wort melden. Anlässlich der Konferenz "Women in War" der Václav-Havel-Bibliothek warb die international ausgezeichnete russische Autorin und Filmemacherin mit tatarischen Wurzeln Gusel Jachina in Prag für die Aufrechterhaltung des Dialogs, wie Aktuálně.cz berichtet. "Der Dialog ist nötig und es gibt einen großen Bedarf", sagt Jachina. "Als ich zum ersten Mal 1995 nach Europa reiste, fragten mich französische Studenten ernsthaft, ob in Moskau wilde Bären lebten. Es kann nicht sein, dass wir so wenig voneinander wissen. Gegenwärtig lässt sich von Europa aus nicht nach Russland hineinsehen, und umgekehrt. Das ist der Nährboden für neue Stereotypen." Die Schriftstellerin, die wechselnd in Moskau und Almaty lebt, verurteilte letztes Jahr gleich zu Beginn öffentlich die russische Invasion in die Ukraine. "Es ist zu früh, heute von Versöhnung zu reden, solange der Konflikt noch andauert, aber für die Kunst ist es nicht zu früh. Die Kunst hat in Kriegszeiten noch mehr Aufgaben als in Friedenszeiten. Außer mit der Verarbeitung aktueller Traumata muss sie sich auch der Frage widmen, was morgen ist", glaubt Jachina. Nach dem russischen Angriff im Februar 2022 habe sie zunächst nicht arbeiten können, das Schreiben habe für sie jeden Sinn verloren. Erst später habe sie begriffen, dass es heute wichtiger denn je sei, den Spuren des Totalitarismus zu folgen. Dass das Gedenken an Josef Stalin in ihrem Land heute freundlicher ausfällt als früher, versucht Jachina sich durch den "Wunsch nach einem Leben in einem großen, respektierten Land und nach sozialer Gerechtigkeit" zu erklären. "Mein Verhältnis zu Stalin ist in meinen Büchern sehr klar. Auch auf einer legislativen Ebene muss er als Verbrecher bezeichnet werden. In den Neunzigerjahren war es ein Fehler, dass die Destalinisierung nicht auf politischer Ebene, sondern nur in der Kunst erfolgte."
Archiv: Aktualne

Quietus (UK), 10.10.2023

Bestellen bei eichendorff21.de
Thurston Moore, Gitarrist der legendären Noisepop-Band Sonic Youth, hat mit "Sonic Life" seine Autobiografie vorgelegt und tut es damit seiner Bandkollegin und Ex-Lebensgefährtin Kim Gordon gleich, die ihr Buch bereits 2015 veröffentlichte. Anlass für Steve Chick zum großen Interviewporträt, in dem Moore viel aus dem bewegten Leben der Band erzählt. Unter anderem geht es auch um die große Gretchenfrage der verschiedenen Undergroundszenen der Achtziger und Neunziger: Majorlabel oder nicht? "Als das Angebot für Sonic Youth schließlich reinflatterte, akzeptierten wir rasch. 'Unser Verhältnis zu unserem damaligen Label SST und Paul Smith war ein bisschen verschroben. Buchhaltung hatten sie nicht wirklich drauf. Wenn du auf SST warst, dann musste dir eines klar sein: Egal, welche Gewinne Deine Platten machten, sie wurden sofort in die nächste Platte von Saccharine Trust oder wem auch immer gesteckt. Dieses kommunitäre Ideal war so eine sozialistische Sache, die uns gut gefallen hat, aber es war auch ein bisschen verdächtig, vor allem in den späten Achtzigern, als Bands wie unsere dann doch größer wurden.'  ... Sonic Youth unterschrieben bei Geffen Records, die in den nächsten zwei Jahrzehnten eine ganze Serie von zunehmend avantgardistischen Platten herausbrachten. 'Wir gingen da rein mit der Vorstellung, wie absurd das war, dass unsere Band auf so einem Label ist', erzählt Moore. 'Ich fühlte mich in der Musik immer zum Absurden hingezogen. Wie japanische Noisemusik zum Beispiel: Jedes Tape klingt gleich und zwar wie eine Waschmaschine - gebongt, nehm' ich! ... Aber es verhalf uns zu einem gewissen Einkommen, damit wir auch mal von was anderem leben konnten als nur von Erdnussbutter und Zwiebeln. In der Szene war der Aufschrei groß. Die Leute erzählten uns, 'Majorlabels sind doch berüchtigt dafür, die Musiker abzuzocken', 'diese ganzen Verträge sind alte Bluesmusiker-Verträge'. Aber wir waren ja nicht dumm. Das war so der Streit, den wir mit Leuten wie Steve Albini hatten. Für das erste Album für Geffen, 'Goo', holten wir uns Raymond Pettibon [ein Underground-Illustrator, der den kompromisslosen visuellen Stil von Black Flag schuf], damit die Sache 'real' blieb. Aber als Gegenüberstellung machten wir für die Innenseite gemeinsam mit Michael Levine ein Hochglanz-Fotoshooting, für das wir uns als eitle Rockstars verkleideten. Da machten wir uns einfach einen Spaß mit dieser ganzen Debatte.' Die Majorlabels waren die großen Ungeheuer der Kultur der Neunziger, weil sie angeblich Künstler aneigneten, deren Werk missbrauchten und sie abschröpften - auch wenn sie heute wie wohlwollende Mäzene aus der Zeit der Renaissance wirken im Vergleich zu den großen Streamingdiensten, die Musiker vom Traum befreit haben, von ihrer Musik leben zu können."

Von ihrem Album "Goo" stammt auch dieser bis heute großartige Song samt großartigem Video:

Archiv: Quietus

Hakai (Kanada), 10.10.2023

Abigail Geiger und Gabriela Tejeda werfen einen sorgenvollen Blick auf die Florida Bay, die zwar für ihre herrlichen Sommer bekannt ist, aber von krassen Hitzewellen ökologisch existenziell gefährdet ist. In den zurückliegenden Monaten ließ sich das gut beobachten. "Mit der Bucht und der Gegend ringsum ging es im frühen Juli 2023 rapide nach unten, als die Erde an vier aufeinanderfolgenden Tagen die höchste globale Durchschnittstemperatur seit Beginn der Aufzeichnungen erlebte. Wochen intensiver Hitze, verschlimmert von den ausbleibenden Sommerregenduschen, führten in den flacheren Stellen der Florida Bay zu Temperaturen von 38 Grad. Während des brütenden Wetters verzeichnete die benachbarte Manatee Bay eine alarmierende Wassertemperatur von 38,4 Grad - wohl ein Weltrekord. Der Forscher Jerry Lorenz erinnert sich, dass er es beim Schnorcheln in der Florida Bay zu heiß fürs Schwimmen fand. 'Es war unangenehm', sagt er. 'Als ich unter den Mangroven schwamm, war einfach alles voller Fische. Mir ging einfach nur der Gedanke durch den Kopf, dass die Kerle versuchen, im Schatten zu bleiben.' ... Die frappierenden Effekte der Hitzewelle auf die Bay mögen zum Teil dafür verantwortlich sein, dass weite Flächen der Korallen ausgebleicht sind und auf der atlantischen Seite des Korallenriffs eine hohe Sterblichkeit vorliegt. Die hohe Hitze dieses Jahre ließ einen großen Teil des Buchtwassers verdunsten, das damit sehr salzig und dicht wurde. Unter normalen Bedingungen, wenn die natürlichen Gezeiten das Buchtwasser in den Atlantik ziehen, sitzt das warme Wasser der Ozeanoberfläche oben auf. Doch dieses Mal geschah etwas Ungewöhnliches: Das extrem heiße und salzige Wasser sank unter das kühlere Wasser des Atlantiks - ein Phänomen namens umgekehrte Thermokline - und erstickte die Korallen neun Meter weiter unten mit seinen extremen Temperaturen. Die Folgen waren eine flächendeckende Korallenbleiche und, in manchen Fällen, sofortiger Tod. Heißeres, salzigeres Wasser stellt für Meereslebewesen eine ernsthafte Bedrohung dar. Sie halten nur ein gewisses Maß an Stress aus, bevor ihre Metabolismen zu kollabieren beginnen. Solche Belastungen können zu Bleichung, abgestorbenem Seegras, übermäßigem Algenwuchs und toten Fischen führen. Wenn der Salzgehalt der Florida Bay an mehr als zehn oder fünfzehn Tagen pro Jahr das Level des Atlantiks erreicht, 'dann gerät das ganze System aus dem Gleichgewicht', sagt Lorenz."
Archiv: Hakai

Quillette (USA), 10.10.2023

Jeffrey Herf gehört neben Paul Berman und Matthias Küntzel zu jenen Autoren, die über die Nazi-Liaison der Muslimbrüder und des Muftis von Jerusalem Bücher publiziert haben. Hier fasst er nochmal zusammen, was man weiß. Die Pogrome der Hamas liegen für ihn ganz und gar in dieser Tradition, die mit einem nationalistischen Befreiungskampf nichts zu tun hat, sondern aus einem religiösen Judenhass kommt, der von den Nazis die Idee der Vernichtung übernommen hat. Schon nach dem Krieg lenkte der Mufti den Krieg gegen Israel in eine apokalyptisch-religiöse Richtung: "Vierzig Jahre später ließ die Hamas den islamisch begründeten Judenhass von al-Banna und al-Husseini wieder aufleben. Von der Muslimbruderschaft in Ägypten und Gaza bis hin zur Islamischen Republik Iran argumentierten die Islamisten, dass die säkularen Nationalisten und Linken in der PLO und den arabischen Staaten bei der Vernichtung Israels in den Kriegen von 1967 und 1973 versagt hätten. Schlimmer noch, aus ihrer Sicht bot das Abkommen von Camp David von 1978 eine schwache Aussicht auf eine Kompromisslösung. Der religiöse Fundamentalismus bildete für sie die Grundlage für die Ablehnung eines Kompromisses mit Israel, weil er dafür sorgte, dass der säkulare Konflikt um Land und Grenzen auch zu einem Religionskrieg wurde, und somit jede Verhandlungslösung ausschloss."
Archiv: Quillette

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.10.2023

János Széky staunt über die deutlichen Reaktionen der ungarischen Regierung auf den Angriff der Hamas auf Israel. "Es scheint, dass die ungarische Regierung doch Recht von Unrecht unterscheiden kann. Kein 'sofortiger Waffenstillstand', kein 'lasst die Verhandlungen beginnen', kein slawischer (oder in diesem Falle antisemitischer) 'interner Krieg', der uns nichts angeht, kein 'wir können über Kriegsverbrechen nach dem Krieg sprechen'. Das ist die Stimme der Normalität, des gesunden Menschenverstandes, die in ihren Erklärungen zum russischen Krieg gegen die Ukraine so schmerzlich und beschämend fehlte (...) Bevor sich jemand aber Illusionen über eine Art plötzliche Ernüchterung macht und glaubt, dass die Regierung die Situation schnell durchschaut und festgestellt hat, dass die Wahrheit auf Israels Seite ist, möchte ich darauf hinweisen, dass sie schon immer in der Lage war, Recht von Unrecht zu unterscheiden. (…) Es ist ihr nur egal. Gäbe es ein geschäftliches Interesse an der Hamas, würden die Verurteilungen nicht so laut ausfallen. Aber wie im russisch-ukrainischen Krieg mit Putins Klientel, so hat Orban in diesem Dauerkonflikt ein geschäftliches Interesse an Netanjahu, zumindest im weiteren Sinne, insofern, als die maximale Konzentration seiner eigenen Macht ein Geschäft ist (das sich schließlich in finanziellen Gewinn ummünzen lässt). Das wäre nicht möglich gewesen ohne die politischen Berater, die er mit Netanjahu teilt, und auch nicht ohne die Software Pegasus, die er gegen interne Kritiker einsetzen kann und die ihm Netanjahu vermittelt hat. Es ist ein glücklicher Zufall, dass das Interesse am gegenwärtigen Krieg mit dem übereinstimmt, was Menschlichkeit und Anstand, ganz zu schweigen von den aktuellen Werten der westlichen Zivilisation diktieren."

New Yorker (USA), 16.10.2023

CO2-Kompensation eignet sich hervorragend, um mit dem schlechten Gewissen von Firmen einen Haufen Geld zu verdienen, stellt Heidi Blake am Beispiel des Schweizer Unternehmens South Pole fest, das mehr als ein Jahrzehnt lang solche Kohlenstoff-Kredite vermittelt und verkauft hat - mit zweifelhaftem Erfolg. Verfolgt haben die Schweizer "viele große Projekte, darunter ein ausgedehntes Netz von Wasserkraftanlagen in den Bergen des südwestlichen Chinas. Danach hat die Firma rapide expandiert. Ihre Gründer haben sich auf Asien, Afrika und Lateinamerika verteilt und viele hundert Projekte unter Vertrag genommen. Bald hatte South Pole Geschäftstellen in Thailand, Mexiko, Indonesien und Indien eröffnet. Mitarbeiter, die bald als 'Pinguine' bekannt waren, haben neue Angestellte mit dem Schlachtruf 'Willkommen im Eisberg' begrüßt. In den Jahren nach der Implementierung des Kyoto-Protokolls wurde tausende Projekte unter dem Clean Development Mechanisms-Programm der UN registriert und hunderte Millionen Kohlenstoff-Kredite ausgestellt, jeder von ihnen im Wert von einer Tonne Kohlenstoff. Mit dem wachsenden Markt hat sich aber auch die Frage nach der Integrität dieser Projekte gestellt. Wissenschaftler fragen sich, ob die Entwickler den Einfluss ihrer Projekte überschätzen. Gerade Umweltforscher haben Klima-Kompensation als System sinnentleerter Ablassbriefe abgekanzelt. Eine Online-Parodie lädt untreue Ehepartner dazu ein, jemand anderen fürs Treusein zu bezahlen: "Wenn du Cheat Neutral bezahlst, finanzierst du monogamiebestärkende Kompensationsprojekte." Bei einem Klimagipfel reagieren auch die Fridays for Future-Aktivisten auf den von ihnen als unsinnig wahrgenommenen Ablasshandel: Greta "Thunberg und andere Demonstranten wurden beim Singen draußen gefilmt: 'Ihr könnt euch eure Klima-Krise in den Arsch schieben.' Später hat sie ein Addendum getweetet: 'Ich habe beschlossen, Schimpfwort- und Fluch-neutral zu werden. Für den Fall, dass ich etwas Unangemessenes sage, schwöre ich, das zu kompensieren, indem ich etwas Nettes sage.'"

Weiteres: Nathan Heller fragt: Was ist mit San Francisco passiert? Jackson Arn besucht die Manet/Degas-Ausstellung im Metropolitan Museum of Art. Ian Buruma liest Gary J. Bass' "erschöpfendes und faszinierendes" Buch über das Tokio-Tribunal nach dem Zweiten Weltkrieg, "Judgment at Tokyo: World War II on Trial and the Making of Modern Asia". Amanda Petrusich hört Troye Sivans Album "Something to Give Each Other".
Archiv: New Yorker