Magazinrundschau - Archiv

Letras Libres

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Magazinrundschau vom 20.11.2018 - Letras Libres

"Ist das jetzt Faschismus?", fragt der Literaturwissenschaftler Marcos Natali von der Universität São Paulo nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro: "Neben vielem anderen erlaubt ein besonderer Aspekt des faschistischen Diskurses eine zuverlässigere Einschätzung der Vorgänge in Brasilien. Er besteht darin, dass durch diesen Diskurs bewusst ein Raum eröffnet wird, in dem in schwindelerregendem Tempo Möglichkeiten zur Gewaltanwendung gegen die unterschiedlichsten Subjekte in Aussicht gestellt werden. Bereits dieses Versprechen ist als Schaffen von Tatsachen zu bewerten und in Brasilien ist es schon jetzt vielfach eingelöst worden. Dazu kommt, dass die Attraktivität dieses Diskurses gerade durch seine Exzessivität noch verstärkt wird, weil genau sie ihren Anhängern umso größere Lust verschafft. So gesehen kann Bolsonaro schon jetzt, unabhängig davon, was er als Präsident tun wird, als Faschist bestimmt werden - er hat sein Versprechen erfüllt, wie sich etwa an dem Mann in São Paulo zeigt, der sich berechtigt fühlt, am helllichten Tag aus dem Busfenster die Transvestiten am Straßenrand mit dem Tod zu bedrohen. Die neben ihm sitzende Studentin klappt daraufhin Foucaults 'Geschichte der Sexualität', in der sie gerade las, zu und versteckt sie unauffällig in ihrem Rucksack - was anfangen sollte, hat, wie versprochen, angefangen."

Magazinrundschau vom 26.06.2018 - Letras Libres

"Auch in ökologischer Hinsicht ist die Situation in Venezuela verheerend", berichtet Isaac Nahon-Serfaty, der Kommunikationswissenschaftler an der Universität Ottawa: "Das Regime Nicolás Maduros setzt seit 2016 ein bereits 2011 von Hugo Chávez angekündigtes Vorhaben um, den so genannten Arco Minero del Orinoco, ein gigantisches Bergbauprojekt im Süden des Landes, das etwa 12 Prozent des venezolanischen Territoriums umfasst, ein sehr empfindliches Ökosystem, in dem viele indigene Gemeinschaften leben. Die Regierung hat Konzessionen für den Abbau der hier lagernden Bodenschätze - Koltan, Bauxit, Diamanten, Gold im geschätzten Wert von bis zu 2 Billionen Dollar - an chinesische, russische, kanadische, südafrikanische, australische und noch einige andere Unternehmen vergeben. Eins der Konzessionsunternehmen ist die Compañía Anónima Militar de Industrias Mineras, Petrolíferas y de Gas (CAMIMPEG), durch die sich das Militär, mittlerweile die Hauptstütze des Regimes, seinen Anteil am Kuchen gesichert hat. Seltsamerweise haben Greenpeace und der WWF bislang zu dem Thema nahezu geschwiegen. Das könnte zum einen daran liegen, dass die großen grünen NGOs Venezuela einfach noch nicht so auf dem Radarschirm hatten. Zum anderen schützte der Eindruck, die linksrevolutionäre 'bolivarianische' Regierung begünstige die Armen, Hugo Chávez und seinen Nachfolger Nicolás Maduro offensichtlich vor dem Verdacht, sie könnten ökologische Verbrechen begehen."

Magazinrundschau vom 05.07.2016 - Letras Libres

Obama und der Populismus. Enrique Krauze stellt ein paar grundsätzliche Dinge fest: "Ich bewundere Obama sehr, ich halte ihn für einen außergewöhnlichen Staatsmann, der für seine Verdienste und seine Ausgeglichenheit in die Geschichte eingehen wird. Das, was man außerhalb der USA unter 'Populismus' versteht, ist ihm jedoch unbekannt. Ein guter Präsident sorgt sich um das Wohl des Volkes, ohne Populist zu sein. Das beste Beispiel hierfür war Lázaro Cárdenas (1934-1940): Die Sache des Volkes war ihm ein großes Anliegen, er war aber kein Populist. Er beförderte keinerlei Kult um seine Person, setzte sich nicht über die Institutionen hinweg, beförderte nicht den Hass eines Teils der Nation auf den anderen. Ein - rechter oder linker - Populist nutzt sein Charisma, um zu einem Teil des Volkes eine direkte Beziehung aufzubauen und auf das 'Nicht-Volk', die angeblichen inneren oder äußeren Feinde, einzudreschen.Trump ist ein Zyniker und Populist. Auch Chávez war Populist. Obama ist populär, aber kein Populist. Der Populismus ist der demagogische Gebrauch der Demokratie zum Zweck ihrer Zerstörung."

Magazinrundschau vom 07.06.2016 - Letras Libres

Der mexikanische Wirtschaftspolitiker Jaime Zabludovsky Kuper rechnet kühl vor, wie gigantisch teuer die Umsetzung der großmäulig angekündigten wirtschaftspolitischen Vorhaben Donald Trumps die USA kämen: "Als gewählter Präsident würde Trump sich wundern, wie gering die Spielräume etwa für seine zwei Lieblingsprojekte sind, Einfuhrzölle für in Mexiko und China hergestellte Autos einzuführen und die Grenzmauer zu Mexiko von den Mexikanern bezahlen zu lassen - die Bestimmungen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA wie auch zahlreiche Vereinbarungen mit der WTO stehen dagegen und stellen gewissermaßen die Schutzmauer der Mexikaner gegen Trumps Zumutungen dar. Noch teurer wäre bloß noch eine einseitige Aufkündigung des NAFTA durch die USA.“

Der Politikwissenschaftler Esteban Salmón Perrilliat wiederum fragt sich und viele illegal in den USA lebende Mexikaner, warum Trump die Mexikaner wohl so hasst: "Ist womöglich die am wenigsten irrationale Erklärung für diesen Hass, dass Trumps erste Ehefrau ihn wegen eines Mexikaners verlassen hat, wie Miguel meint, der seit zehn Jahren ohne Papiere für eine Autowaschanlage in New York arbeitet?" (Hm. Vielleicht weiß Trump aber auch nur, wie gut die Attacken gegen Mexikaner all denen gefällt, die ihre Jobs verloren haben: "Nach dem Motto: Immigranten, Schwarze, Frauen werden gefördert - wo bleibe ich, der weiße Mann?", wie der Autor Stewart O'Nan heute in der Welt erklärt.)

Magazinrundschau vom 26.01.2016 - Letras Libres

"Amerikanische Staatsbürgerschaft für alle." Der spanische Schriftsteller Mariano Gistaín macht einen interessanten Vorschlag: "Nach dem Kalten Krieg ist eine komplizierte, multipolare Welt entstanden, in der die Führungsrolle der USA stark infrage gestellt wird. Dauerhaft aufrechterhalten lässt sie sich nur mit Hilfe der moralischen Führerschaft, der 'weichen Macht' der kulturellen Anziehungskraft, wie Jospeh S. Nye sie genannt hat. Zu deren Stärkung könnten die USA allen Bürgern dieser Welt mithilfe der bestehenden wie auch aller kommenden sozialen Netzwerke eine Art virtueller Staatsbürgerschaft anbieten, die sie sogar zur Teilnahme an den Wahlen berechtigen würde, auch wenn ihre Stimme (vorläufig) nicht zählt. Dies würde zum einen zeigen, wie wichtig jeder einzelne Mensch für Washington ist, zum anderen, da auf diese Weise ständig zu allem Möglichen Befragungen durchgeführt werden könnten, wüsste Washington so aus erster Hand, was die Welt über sich selbst und ihren Anführer denkt. Alle Anworten, Meinungen und Vorschläge wären selbstverständlich automatisch für alle einsehbar. Gleichzeitig würde sich die Wahrnehmung der USA durch die Welt verbessern. Mit der Zeit könnte aus dieser virtuellen eine tatsächliche Staatsbürgerschaft werden."

Magazinrundschau vom 19.01.2016 - Letras Libres

"Wieder Kind sein." Der chilenische Schriftsteller Rafael Gumucio beschreibt katalanische Befindlichkeiten aus lateinamerikanisch-psychoanalytischer Perspektive: "Der katalanische und baskische Nationalismus begann Ende des 19. Jarhundert, als man fürchtete, von den billigen Arbeitskräften aus dem Süden aufgesogen zu werden. Heute fragen sich viele Katalanen angesichts von Euro, Touristenschwemme und Hochgeschwindigkeitszügen: Was ist aus unserer Welt geworden? Madrid gibt Merkel, soll heißen: der Mutter, die Schuld an der gegenwärtigen Krise, Barcelona macht Rajoy verantwortlich, soll heißen: den Vater. Nur wenigen spanischen Politikern will es in den Kopf, dass sowohl die EU wie auch die spanischen Autonomiestatute freiwillig eingegangene Vereinbarungen waren. In gewisser Hinsicht haben sie recht - vor 25 Jahren war das aus Franco, dem kastrierenden Vater par excellence, hervorgegangene Spanien noch ein Kind. Vor fünfzehn Jahren auch. Die Krise des Jahres 2008 mit all ihren Widersprüchen zeigte dann, dass auch die Eltern Kinder waren. Erwachsen wird man, wie jeder Psychiater weiß, wenn man begreift, dass die eigenen Eltern genauso falsch liegen können wie man selbst, wenn nicht noch mehr. Das Gestrampel und Gezeter, mit dem die Nationalisten auf diese Entdeckung reagieren, hat durchaus etwas Rationales: Der Körper des jungen Menschen fordert verzweifelt einen neuen festen Rahmen für den fremden Körper, als der sich der eigene plötzlich erweist. Er kann die Veränderung annehmen - oder sich in sein Zimmer einsperren und wieder Kind werden."

Magazinrundschau vom 17.02.2015 - Letras Libres

Auch wenn das Massaker an 43 Studenten Ende September 2014 im mexikanischen Bundesstaat Guerrero schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist: Entscheidend bleibt die Frage, wie die Diskussion über die damit zusammenhängenden politischen Proteste geführt wird, stellt die Juristin Estefanía Vela Barba in einem sehr lesenswerten Artikel klar: "Wenn man die Demokratie als eine Art Boxring betrachtet, in dem über unterschiedliche Auffassungen gestritten werden kann und darf, muss der Staat Kritik an sich und seiner Vorgehensweise ertragen. Diese Kritik kann zu seiner Auflösung führen - sollte er diese verdient haben -, seiner Rettung - sollte er diese letztlich wert sein -, oder ganz einfach zu seiner Verbesserung. Das ist die Wette, die gilt. Und die einzige Hoffnung, die wir haben. In dieser Hinsicht hat der Staat versagt und bewiesen, warum viele in ihm den Bösen der Geschichte sehen: Er hat die Gewalt nicht eingedämmt, sondern sie sich zunutze gemacht."
Stichwörter: Politischer Protest

Magazinrundschau vom 11.11.2014 - Letras Libres

"An nichts lässt sich der Zustand eines Landes so gut erkennen wie an seiner Literatur, ist diese doch immer noch das zu diesem Zweck genaueste und empfindsamste Messinstrument", schreibt der katalanische Verlagslektor Andreu Jaume. "So gesehen stellt sich durchaus die Frage, wieso nach so vielen Jahren der Subventionierung, des Unterrichts und der Institutionalisierung des Katalanischen die literarischen Ergebnisse so bescheiden sind: Zumeist bieten sie nichts als folkloristische Unterhaltung, im besten Fall epigonale Nachschöpfungen nordamerikanischer Vorbilder. Die wenigen Schriftsteller, die sich nicht zu Banalität und Liebedienerei haben verführen lassen, müssen mitansehen, wie ihre Sprache von einer Gruppe von Mythomanen politisiert und usurpiert wird, die den Raum für Austausch und Debatten verwüsten. Gabriel Ferrater, einer der intelligentesten und unbestechlichsten Kritiker und Dichter Kataloniens, erklärt das Fehlen einer soliden katalanischen Romanproduktion damit, dass das Bürgertum hier nie den Mut aufgebracht hat, über sich selbst zu urteilen, und seine Probleme stets nur im Widerstreit mit Spanien analysiert hat, statt sich den eigenen inneren Widersprüchen zu stellen."

Magazinrundschau vom 07.03.2014 - Letras Libres

Drogenhandel war gestern, berichtet Ralph Zapata Ruiz: "Illegaler Bergbau ist in Peru mittlerweile die wichtigste gesetzeswidrige Tätigkeit. Damit werden etwa drei Milliarden Dollar Umsatz erzielt, 600 Millionen Steuern unterschlagen und um die 500 Tausend Menschen beschäftigt." Mit katastrophalen Folgen für die Umwelt: "50.000 Hektar ehemaliger Wald sind inzwischen verseuchtes, totes Land, vor allem in der Region Madre de Dios. (…) Für jedes dort gewonnene Kilo Gold werden 2,8 Kilo hochgiftiges Quecksilber  aufgewandt, die anschließend in die Flüsse und damit in die Nahrungsmittelkette gelangen. Vom Fischverzehr wird in diesem Gebiet mittlerweile abgeraten. Gekauft wird das Edelmetall von Großhändlern wie Oro Fino, Mega La Red und As Perú, die es auf eigene Kosten verfeinern und in die Schweiz weiterverkaufen, wo Uhren und Schmuck daraus hergestellt werden. Der peruanische Präsident Ollanta Humala sieht sein Land derweil auf dem Weg, einer der wichtigsten Bergbauproduzenten der Welt zu werden."

Magazinrundschau vom 25.06.2013 - Letras Libres

Seine Besprechung einer neuen Biografie Simón Bolívars nutzt Enrique Krauze zu einigen grundlegenden Feststellungen (auf Englisch hier nachzulesen): "Es ist bedauerlich, wie sehr spätere Lektüren die Originalität von Simón Bolívars repubikanischem Projekt verzerrt haben. Bolívar war weder Sozialdeterminist oder Darwinist noch der romantische Prophet eines iberoamerikanischen Nationalismus, der sich aus rassischen und kulturellen Gründen der angelsächsischen Welt (die er bewunderte) entgegenstellte. Er war aber auch kein Vorläufer des italienischen Faschismus oder des Franquismus (die beide versuchten, ihn für sich zu vereinnahmen), und erst recht nicht der Vater der seltsamen revolutionären Theokratie, die in seinem Namen in Venezuela errichtet wurde. Nichts liegt Bolívars republikanischem Ideal ferner. Hugo Chávez trieb den Bolívar-Kult - der seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Venezuela betrieben wird - in ungekannte Höhen. Er behauptete, die Geschichte sei 1830 (im Todesjahr Bolívars) stehengeblieben und erst 1999 wieder in Gang gekommen, als der neue Bolívar - sprich: Chávez - auf den Plan trat. Bei Kabinettssitzungen ließ er stets einen Stuhl neben dem seinen frei, um den Geist des Helden an seiner Regierung teilhaben zu lassen. Wandgemälde in Caracas zeigen häufig Chávez' Bild neben dem von Bolívar und Christus als Heilige Dreieinigkeit der Revolution. Der Republikaner Simón Bolívar wäre ein zweites Mal gestorben (oder hätte einmal mehr zu den Waffen gegriffen), hätte er den Aufstieg eines klassischen Demagogen wie Chávez miterlebt, der zudem genau die Art sozialer Revolution verkörperte, die Bolívar immer gefürchtet und entschieden abgelehnt hat. In zweierlei Hinsicht war Chávez' allerdings tatsächlich ein echter Bolivarianer: Die Zivilgesellschaft sah er stets aus militärischer Perspektive und er träumte davon, zeitlebens das Präsidentenamt zu bekleiden."