"Wieder Kind sein." Der chilenische Schriftsteller
Rafael Gumucio beschreibt katalanische Befindlichkeiten aus lateinamerikanisch-psychoanalytischer Perspektive: "Der katalanische und baskische Nationalismus begann Ende des 19. Jarhundert, als man fürchtete, von den
billigen Arbeitskräften aus dem Süden aufgesogen zu werden. Heute fragen sich viele Katalanen angesichts von Euro, Touristenschwemme und Hochgeschwindigkeitszügen: Was ist aus unserer Welt geworden? Madrid gibt
Merkel, soll heißen: der Mutter, die Schuld an der gegenwärtigen Krise, Barcelona macht
Rajoy verantwortlich, soll heißen: den Vater. Nur wenigen spanischen Politikern will es in den Kopf, dass sowohl die EU wie auch die spanischen Autonomiestatute freiwillig eingegangene Vereinbarungen waren. In gewisser Hinsicht haben sie recht - vor 25 Jahren war das aus
Franco, dem kastrierenden Vater par excellence, hervorgegangene Spanien noch ein Kind. Vor fünfzehn Jahren auch. Die Krise des Jahres 2008 mit all ihren Widersprüchen zeigte dann, dass auch die Eltern Kinder waren. Erwachsen wird man, wie jeder Psychiater weiß, wenn man begreift, dass die eigenen
Eltern genauso falsch liegen können wie man selbst, wenn nicht noch mehr. Das Gestrampel und Gezeter, mit dem die Nationalisten auf diese Entdeckung reagieren, hat durchaus etwas Rationales: Der Körper des jungen Menschen fordert verzweifelt einen neuen festen Rahmen für den fremden Körper, als der sich der eigene plötzlich erweist. Er kann die Veränderung annehmen - oder sich in sein Zimmer einsperren und
wieder Kind werden."