Mord und Ratschlag

Ehre und Familie

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
08.03.2013. In seinen Memoiren "Ein Herr mit Zigarette" blickt der große Carlo Fruttero auf die Zeit zurück, als der Weltgeist durch Turin und die italienischen Krimis wehte. Andrea Camilleri holt einen Carabinieri aus dem Piemont als Verstärkung für den Kampf gegen die dunklen Mächte Siziliens.
Carlo Fruttero ist ein ausgesprochen eleganter Erzähler und ein charmanter Causeur. Zusammen mit Franco Lucentini hat er solch feinsinnige und böse Gesellschaftsromane verfasst, dass sie sich kaum unter den etwas läppischen Begriff Krimi rubrizieren lassen. In keinem anderem Roman wird der Snobismus der norditalienischen Bourgeoisie so maliziös und so komisch beschrieben wie in der "Sonntagsfrau", dem größten Erfolg der beiden aus den siebziger Jahren. Aber auch mit dem "Liebhaber ohne festen Wohnsitz" und "Der Palio der toten Reiter" zeigen Fruttero und Lucentini, wie kunstsinnig und intellektuell die italienische Literatur selbst in ihrer unterhaltsamen Sparte einmal war.

Franco Lucentini hat sich 2002 im Alter von 82 das Leben genommen, um seinem Krebstod zuvorzukommen. Fruttero schrieb allein weiter, bis auch er im vorigen Jahr mit 86 Jahren starb. Mit seinen Memoiren, deren deutsche Übersetzung nun postum erscheint, wirft Fruttero noch einmal einige wunderbare Schlaglichter auf jene große Zeit, als der Weltgeist durch die Boulevards und Corsi von Turin zu wehen schien.

Fruttero begann als Übersetzer und Lektor beim "Königlichen Dragonerregiment Einaudi", dem Verlag Giulio Einaudis, der alles aufbot, was in der Turiner, nein, was in der italienischen Kultur Rang und Namen hatte. Allerdings trennte den eine Generation jüngeren Fruttero nicht nur der Altersunterschied von Cesare Pavese, Italo Calvino oder Leone und Natalia Ginzburg. Fruttero war weder Antifaschist - die Kriegsjahre hatte er unter dem Schutz eines piemontesischen Aristokraten in vornehmer Distanz zu allen Beteiligten verbracht - noch wurde er später Kommunist. Mit spürbarem Unbehagen schildert er sogar, wie ihn Calvino mehrmals für die KPI anzuwerben versuchte. Deutlich mehr Sympathie als für diesen ewigen Partisanen bringt Fruttero für Ludivico Terzi auf, der vor seinen Genossen schmerzlich Rechenschaft leisten musste, als bekannt wurde, dass er für die Republik von Salò gekämpft hatte.

In einer wunderbaren Episode erzählt er, wie die Einaudisten nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 eine Protest-Note an die UNO verfassten, die er als Haus-Anglist übersetzen musste. Abgebrannt wie die Genossen waren, mussten sie nachts Steine an die Fenster von Giulio Einaudis Villa werfen, damit "der Chef" ihnen mit dem nötigen Kleingeld für das Telegramm aushalf. Fruttero nennt dies spöttelnd die "Großmannssucht des armen Schluckers", aber hier verkennt er vielleicht, wie sehr diese Abkehr von Moskau den Turiner Kommunisten zur Ehre gereichte.

Im Jahr 1960 stürzte Fruttero in eine existenzielle Krise. Bei einem Gipfeltreffen europäischer Großschriftsteller begegnete er unter anderem auch dem französischen Essayisten und Ehrenlegionär Roger Callois. Dieser hohe Funktionär des Pariser Kulturbetriebs, so soigniert, distinguiert und dekoriert, öffnete ihm die Augen: "Ich durchlebte einen Augenblick tiefsten, umfassenden Schreckens", schreibt Fruttero. Er beschloss, kein homme de lettres zu werden, sondern in das leichte Fach zu wechseln: Er ging nach Mailand zu Mondadori, um eine Science-Fiction-Reihe herauszugeben. Wenig später lernte er in Paris Lucentini kennen und schloss sich mit ihm zu der Firma Fruttero und Lucentini - kurz: F&L - zusammen.

Vielleicht hat die politische Schulung in Turin Frutteros Blick auf die Verhältnisse geschärft, doch er war und blieb ein Ästhet, mit klarem Hang zu Raffinement und Bonhomie. In seinen Memoiren liebt er Flaubert und die aristokratische Landschaft Frankreichs, die Burgen des Piemont und den Turiner Stil mit seiner leichten Melancholie und den höflichen Gesten. Er preist die Leidenschaft des Lesens, das so "wild und exklusiv" sein muss "wie das Spiel oder der Terrorismus". Er verneigt sich vor seinen Verlegern und seinen deutschen Lesern, die - unvorstellbar in anderen Breiten - für Lesungen Eintritt zahlen und anschließend für ein Autogramm Schlange stehen. Und er bekennt seinen lebenslangen Neid auf Georges Simenon, dem eine Affäre mit Josephine Baker vergönnt war.

Das Herzstück der Memoiren ist jedoch das wunderschöne Porträt, das er seinem lebenslangen Freund und Schreibpartner Lucentini widmet, der schönen Seele, deren "eigensinnig bezaubernde Unabhängigkeit" auf keinen Fall mit Extravaganz oder Größenwahn verwechselt werden dürfe. Über ihre Zusammenarbeit verrrät Fruttero nur dass weder eine funktionale Arbeitsteilung noch ein freudig-chaotischer Optimismus den Erfolg der Romane bewirkt hätte, sondern allein Lucentinis feines Lächeln, das jeden verlegerischen Widerstand gebrochen habe und sich durch jede Zeile ziehe.

Carlo Fruttero: Ein Herr mit Zigarette. Erinnerungen. Aus dem Italienischen von Luis Ruby. Piper Verlag, München 2013, 281 Seiten, 19,99 Euro



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Der italienische Kriminalroman ist selten noir und er kennt kaum die Figur des korrupten Polizisten. Im Gegenteil: Die Polizisten sind hier meist klug, sensibel und mutig. Fruttero und Lucentini haben mit ihrem Commissario Santamaria einen aufrechten Sizilianer dem Chauvinismus der Norditaliener entgegengestellt. Selbst der alte Anarchist Andrea Camilleri kennt nur Carabinieri, die über jeden moralischen und intellektuellen Zweifel erhaben sind, vielleicht weil der italienische Staat schon hinreichend von Mafia, Geheimlogen und politischem Terror unterminiert wird. Aber dass die Carabinieri, die seit Leonardo Sciascias Klassikern nach Sizilien beordert werden, aus dem Piemont, ist mehr als nur eine Reverenz an Italiens Nord-Süd-Antagonismus. Wie Fruttero in seinen Erinnerungen schreibt, hat sich der piemontesische Adel nämlich vor allem durch zwei Dinge hervorgetan, die in ihrer Kombination ein höchst napoleonisches Ideal bilden und in der Gestalt eines typischen Maresciallo Sinn ergeben: Militär und Aufklärung.

"Die Sekte der Engel" erzählt eine Geschichte aus dem sizilianischen Städtchen Palizzolo und beruht auf einer wahren Begebenheit: Im Jahr 1901 sorgt dort das Gerücht für Panik, dass die Cholera ausgebrochen sei. Rom schickt den Polizeipräfekten Montagnet Eugenio, der als aufgeklärte Kraft verhindern soll, dass Mafia, Kirche und Großgrundbesitz das Problem mit ihren gewohnten mittelalterlichen Methoden beheben. Zusammen mit dem idealistischen Rechtsanwalt Matteo Teresi, der in seiner kleinen Zeitung die Übergriffe von Klerus und Adel immer wieder anprangert hat, findet er schnell heraus, dass das Gerücht nur von den wahren Übeln ablenken soll: Gleich mehrere Töchter aus den besseren Familien sind ganz und gar jungfräulich schwanger geworden. Und der Marchese Cammarata lässt einen jungen Mann halb tot prügeln, den er verdächtigt, sich an der Tochter vergangen zu haben.

Wie es der erfahrene Capitano voraussagt, werden sich die Sizilianer nicht sonderlich erkenntlich zeigen, wenn die Wahrheit ans Licht geholt wird. Der Verein "Ehre und Familie", zu dem sich die Großgrundbesitzer und Honoratioren des Ortes zusammengeschlossen haben, wird sich gegen die Schmutzkampagnen der Anarchisten und Piemonteser - die Sizilien ja schon immer verachtet haben! - zu verteidigen wissen. Notfalls mithilfe des heiligen Geistes oder gedungener Schläger.

Mit der "Sekte der Engel" erzählt Camilleri noch einmal mit bewundernswerter Souveränität, aber doch zunehmend komödiantisch seine Lieblingsgeschichte: die Geschichte zweier Männer, die den Kampf gegen Siziliens verbrecherische Mächte aufnehmen und heldenhaft verlieren werden. Die Frivolität des alten Sizilianers ist vielleicht nicht jedermanns Sache, in diesem Fall muss man aber sagen, dass die Obszönität dieser Erzählung der Geschichte geschuldet ist.

Andrea Camilleri: Die Sekte der Engel. Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Nagel und Kimche, München 2013, 235 Seiten, 18,90 Euro