Mord und Ratschlag

Dass der Ärger einen immer findet...

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
24.11.2018. Das Comeback der Meisterin: In ihrem epischen Roman "Kritische Masse" löst Sara Paretsky, eine Kettenreaktion aus, die von Wiens großen Physikerinnen gezündet wurde und zu heftigen Erschütterungen in den Zentralen der IT-Industrie führt. Cloé Mehdi folgt in ihrem furiosen "Nichts ist verloren" zwei Racheengeln an den Rand des Wahnsinns.
Cover: Kritische MasseAuf einmal ist Sara Paretsky wieder da und mit ihr das alte aufregende Gefühl, dass Krimis etwas mit dem eigenen Leben zu tun haben. Oder mehr noch: Dass das Krimilesen so toll und wichtig sein kann wie das Leben selbst. Eben wie in den neunziger Jahren, als Paretsky, Sue Grafton und Liza Cody die Literatur lehrten, was Schwesterlichkeit heißt. Die Vorreiterinnen des feministischen Kriminalromans hatten nicht einfach nur den alten Hardboiled-Detective durch ein weibliches Pendant ersetzt, wie ihre Kritiker monierten. V.I. Warshawski, Kinsey Milhone und Anna Lee waren nicht nur die Töchter von Philip Marlowe und Sam Spade. Sie waren selbstverständlich hartgesottene Privatdetektivinnen, aber die Verbrechen, die sie aufklärten, waren Verbrechen an Frauen. Sie stießen auf diese Verbrechen nicht über Klienten, sondern über ihre eigene persönliche Erfahrungswelt. Und niemals wollten diese Detektivinnen einfach nur mitmischen im großen Spiel, sie wollten die Regeln des Spiels verändern.

Sue Grafton starb vor einem Jahr. Sie brachte es in ihrer streng alphabetisch durchgezogenen Reihe um die kalifornische Detektivin Kinsey Milhone von "A is for Alibi" bis "Y is for Yesterday". Der deutsche Buchmarkt hatte bereits in den Nuller Jahren beim Buchstaben "R" das Interesse an ihr verloren. Wenig später auch an Sara Paretsky. Was für ein Fehler! Jetzt bringt sie der Ariadne Verlag heraus, der zwar seit dreißig Jahren die erste Adresse für Frauenkrimis ist, sich mit seiner prekären Ökonomie aber nie eine solche Starautorin leisten konnte. Jetzt sammelt der Verlag sie alle ein, erst Dominique Manotti, dann Liza Cody. Paretsky bei Ariadne, das ist doppeltes und dreifaches Leseglück!

In Paretskys Romanen standen immer Frauen im Mittelpunkt, ihre Ermittlerin V.I. Warshawski natürlich und deren langjährige Freundin, die Ärztin Lotty Herschel. Männer spielen in Vics Leben eine durchaus schöne, aber nie tragende Rolle. Und die Opfer waren auch immer Frauen, aber sie waren nie nur die weiblichen Opfer männlicher Gewalt. Ob schwarz oder weiß, mit polnischer oder jüdischer Vergangenheit, sie wurden bedroht, verfolgt oder umgebracht, weil sie sich nicht aus ihren Wohnungen vertreiben lassen wollten oder weil Banken und Versicherungen mit ihnen leichtes Geld machen wollten, weil Armut und Hoffnungslosigkeit sie in die Drogenhäuser von Chicagos South Side trieben, wo sie ihre zwölfjährigen Töchter für die nächsten Schuss an Zuhälter verhökerten. Und während sich die USA unter George Bush mehr für den Nahen und Mittleren Osten als für die innerstädtischen Kampfzonen interessierte und der ganze Tingeltangel weiterzog, blieb Sara Paretsky an Chicagos zugigsten Ecken: "Krimis müssen wie Polizisten dort stehen, wo die Grundbedürfnisse der Menschen mit Recht und Gesetz aufeinander prallen."

Natürlich gab es immer auch nervige Aspekte an V.I. Warshawski: Sie ist entsetzlich tugendhaft, immer in Aktion und bei aller Verehrung für das Europäische doch ziemlich amerikanisch: Zwar muss sie Schläge einstecken und Rückschläge hinnehmen, aber am Ende siegt die Einzelkämpferin 3:1. Wenn sie trinkt, dann um ihren Salzhaushalt zu regulieren, wenn sie isst, dann niemals zuviel Kartoffelstärke, das senkt die Arbeitsleistung, und natürlich joggt sie regelmäßig ihre fünf Meilen an der frischen Luft. Während ihre Fälle an Komplexität gewannen, wurde Vic Warshawski immer emotionaler.

Paretskys neuer Roman "Kritische Masse" hat geradezu epische Ausmaße. Die Geschichte sprengt nicht nur nach den Maßstäben eines Ariadne-Romans alle Dimensionen. Sie beginnt in der staubigen Prärie von Illinois, wo die verlassene Farmen des verarmten Palfry County nur noch als Drogenküchen dienen. V.I. Warshawski entdeckt dort die Leiche des Drogendealers, seine Gefährtin ist auf der Flucht. Und diese Frau, Judy Binder, ist eng mit der Geschichte Lotty Herschels verbunden. Lotty ist mit der Mutter, Käthe Binder, zusammen in den dreißiger Jahren in Wien aufgewachsen. Doch nicht nur die drogenabhängige Judy ist auf der Flucht, sondern auch ihr Sohn Martin, der für den IT-Konzern Metargon arbeitet. Ein typisches Inselgenie: Mathematisch hochbegabt, aber sozial echt anstrengend. Der Konzern sorgt sich um seine Firmengeheimnisse und setzt den Heimatschutz auf ihn an.

Paretskys Schreiben ist mit der Zeit immer ambitionierter geworden. Deswegen belässt sie es nicht dabei, Chicagos Drogenszene in ihrer analogen Kaputtheit gegen die gläsernen Konzernzentralen der Digitalindustrie zu schneiden. Mit einer weiteren Figur bringt sie eine historische Dimension in den Roman, die eigentlich alle Grenzen sprengt: Martina Saginor, Käthes Mutter, Judys Großmutter  und also Martins Urgroßmutter, die vielleicht eine gefühlskalte Frau war, aber eben auch eine geniale Physikerin, in Wien und Göttingen forschte, bis die Nazis sie um ihre Existenz und ins Konzentrationslager brachten. Paretsky hat diese Figur an die Österreicherin Marietta Blau angelehnt, die Bahnbrechendes in der Erforschung kosmischer Strahlung leistete, jedoch nie den Nobelpreis bekam, obwohl Erwin Schrödinger immer wieder dafür plädierte, und die in den USA kein Exil bekam, obwohl Albert Einstein sich für sie einsetzte.

Was mit einem toten Dealer begann, führt zurück zu den Anfängen der Computer-Technologie, zur Atomforschung und Raketentechnik, Paranoia und Überwachungswahn, zu jüdischen Physikerinnen und opportunistischen Nazi-Wissenschaftlerinnen, die mit der Operation Paper Clip in die USA geholt wurden. Natürlich nur, damit sie die Sowjetunion nicht bekommt. Sehr berührend sind dabei die unterschiedlichen Biografien jüdischer Frauen, die Paretsky vielleicht nicht auserzählt, aber zumindest skizziert: Wie sich die Ängste und Verlusterfahrungen in Familien fortschreiben, wie sich Härten eingebrannt haben, und auch wie diametral die glamourösen Karrieren mancher Akademikerinnen den gebrochenen Biografien einfacher Frauen gegenüberstehen.

"Kritische Masse" ist ein grandioses Werk, heillos überfrachtet mit Wissen und Geschichte, aber wen stört das schon. Gleich danach möchte man auch noch die Briefe von Lise Meitner lesen, George Dysons "Turings Kathedrale" und eigentlich auch die wahrscheinlich noch ungeschriebene Monografie der übergangenen Nobelpeisträgerinnen. Doch erst einmal bleibt man bis zur letzten Seite im Bann dieser Autorin. Sara Paretsky bleibt die große Meisterin, die den feministischen Kriminalroman zu einem rauschhaften Leseerlebnis machte. Was für ein Comeback!

Sara Paretsky: Kritische Masse. Roman. Aus dem Amerikanischen von Laudan & Szelinski. Ariadne Verlag, Hamburg 2018, 539 Seiten, 24 Euro.


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Cover: Nichts ist verlorenCloé Mehdi erzählt in ihren Roman "Nichts ist verloren" die traurige, poetische und aufregende Geschichte des elfjährigen Mattia Lorozzi, der in der Pariser Banlieue am Rande des Wahnsinns aufwächst. Im übertragenen Sinne, aber vielmehr noch im buchstäblichen. Sein Vater hat sich in der Psychiatrie das Leben genommen, seine Mutter den Kampf mit dem Leben aufgegeben, und seine Geschwister haben die Kurve gekratzt. Mattia wächst bei dem jungen Zé auf, dessen Zukunft als begabter Pariser Bürgersohn zu Ende ging, als eine Schülerin während seines Unterrichts aus dem Fenster sprang. Jetzt arbeitet Zé als Nachtwächter und hindert tagsüber andere Menschen daran, Schluss zu machen, vor allem seine Lebensgefährtin, die stets unglückliche Gabrielle. Zé liebt die französische Poesie, besonders Aragon. Aber mit Literatur würde er niemals Geld machen wollen. Arbeit tötet die Leidenschaft. Und noch eine Lektion hat junge Mattia bereits gelernt: "Dass der Ärger einen immer findet, egal, wie alt man ist."

Während sich die Baumannschaften daran machen, die ersten Hochhäuser von Verrières abzureißen, um für gehobenere Wohnungen Platz zu schaffen, brechen im Viertel die alten Wunden auf. Auf einmal prangen an den Wänden die alten Graffiti und fordern: "Gerechtigkeit für Saïd." Der Junge ist fünfzehn Jahre zuvor von einem Polizisten getötet worden, die Familie über die Ungerechtigkeit zerbrochen, dass der Täter im Prozess freigesprochen wurde. Mattias Vater, der als Sozialarbeiter für den Jungen Saïd verantwortlich war, ist danach nicht mehr auf die Beine gekommen. Die Graffiti rufen natürlich auch wieder die Polizei auf den Plan und mit ihr das alte Misstrauen, den alten Hass, die alten Ängste.

In Frankreich wurde Cloé Mehdi für ihren Roman mit Preisen überschüttet, unter anderem erhielt sie für ihn den Prix Mystère de la critique. Mehdi ist gerade mal 26 Jahre alt, und was einen bei ihrem Roman umhaut, sind tatsächlich die Jugendlichkeit, das Unbedingte und die erzählerische Power. Die Geschichte wird aus der Sicht des Elfjährigen erzählt, und Mehdi verleiht diesem Erzähler sehr geschickt eine glaubwürdige Stimme: Mattia ist geistig hellwach, aber emotional völlig verpeilt. In einem sagenhaften Tempo rast Mattia durch den Albtraum, der sein Leben ist, in dem die Schule und Jugendamt auch nur zu dem gleichen Besatzungsregime gehören wie die Polizei: Überwachen und Strafen. Aber auch allen anderen eröffnet die Banlieue nur begrenzte Möglichkeiten: In Verrières stehen die Leute mit einem Bein im Knast, und mit dem anderen in der Klapse.

Kein Wunder, dass sie hier an Engel glauben. Sie sind ihre einzige Chance. Aber natürlich steigen aus den Hochhausschluchten der Banlieue höchstens Racheengel empor. Die Zärtlichkeit, die Mehdi ihnen zuteil werden lässt, hat durchaus etwas Aufrührerisches. Man kann nicht ganz damit einverstanden damit sein, dass Mehdi am Ende in etwas seliger Revolutionsromantik die kalte Rache zu einem Akt der Gerechtigkeit verklärt. Aber bis dahin hat Mehdi in furioser Prosa sehr eindringlich vor Augen geführt, dass es vielleicht nicht Schizophrenie und Depressionen sind, die sich vererben, wie einem die Psychiater weismachen wollen, sondern der Wunsch nach einem besseren Leben.

Cloé Mehdi: Nichts ist verloren. Roman. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Polar Verlag, Hamburg 2018, 311 Seiten, 18 Euro.