Mord und Ratschlag

Schopenhauer zur Nacht

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
31.01.2008. Nord-Idaho ist ein schöner und einsamer, in C.J. Box' vielschichtigem Thriller "Stumme Zeugen" aber auch ein mordsgefährlicher Landstrich. Kein bisschen heiler ist die Welt in den englischen Midlands, wie Iain McDowall sie in "Zwei Tote im Fluss" schildert: Im Provinznest Crowby sind nämlich die Neo-Nazis los.
Das landschaftlich schöne, dünn besiedelte Nord-Idaho hat sich, im Roman wie wohl im richtigen Leben, zum Ruhestandssitz kalifornischer Polizisten entwickelt. Das sollte den Landstrich zu einem sicheren Ort machen, leider aber ist in C.J. Box' Roman "Stumme Zeugen" das Gegenteil der Fall. Die zwölfjährige Annie und der zehnjährige William, die Kinder einer alleinerziehenden Mutter, müssen beim Angeln eine Art Hinrichtung mit ansehen. Eine Gruppe von Männern erschießt einen anderen Mann. Annie und William sind schockiert, sie fliehen und sie werden von den Mördern entdeckt und verfolgt. Sie können entkommen, in Sicherheit aber sind sie deshalb noch lange - noch mehrere hundert Seiten lang, um genau zu sein - nicht.

"Stumme Zeugen" ist ein Thriller, was auch heißt: Die Qualität des Buches bemisst sich nicht zuletzt am mitreißenden Gelingen fortgesetzter narrativer Unwahrscheinlichkeitsüberwindungsarbeit. So wird vom Leser etwa zu glauben verlangt, dass die schuldigen Ex-Polizisten den kleinen Ort, in dem das Geschehen sich zuträgt, in die Gewalt bekommen, ohne dass jemand das merkt. Nach dem rasanten Beginn sieht das Szenario nämlich genau diese Patt-Situation vor. Die Kinder bleiben verschwunden, die korrupten Polizisten suchen sie, um sie zur Strecke zu bringen und Annie und William wagen sich, aus Angst vor Ermordung, selbst unter den Augen der berichtenden Presse nicht hervor.

Dienst an der Ablenkung von Unwahrscheinlichkeitserwägungen tut, wenn man so will, ein weiterer Ex-Polizist aus Kalifornien, der den Hintergrund der Mordgeschichte anliefert, ohne ihn selbst zunächst genau zu kennen. Seit Jahren ermittelt er ohne Ergebnis in einem Rennbahnraubüberfall, bei dem ein Mann ums Leben kam. Eine Spur führt nach Nord-Idaho. Dem Thriller wird so ein Krimiplot implantiert. Dessen Medium ist der Ex-Polizist, der selbst aus der Provinz kommt, um in der Provinz nun die Großstadtprofis eines vor Jahren begangenen Verbrechens zu überführen. Das alles macht "Stumme Zeugen" zu einem großen, nicht unausgeklügelten Manöver, in dem die Krimigeschichte, von allerlei auch aufgetischten Liebesfährnissen unterstützt, dem Thriller, der ja nichts als Mitfiebern will, ein vom Unplausiblen ablenkendes Alibi gibt.

Nicht ohne Erfolg, einerseits. Man beginnt sich für die Figuren und ihre Schicksale zu interessieren. Andererseits arbeiten auf diese Weise aber auch der Thriller-Beschleunigungswunsch und der nach langsamer Entwicklung des Verwickelten verlangende Krimi-Auflösungswunsch gegeneinander. Und weil C.J. Box ein Menschen- und Menschenbeziehungsschilderer ist - kein schlechter dazu - gibt es noch diese dritte, dem Krimi eher als dem Thriller zugehörige Charakterbeschreibungs-Drift, die einen beim Lesen dann in eine noch einmal andere Richtung zieht. Ein thematisches Grundmotiv hat das Buch überdies. Es singt ein melancholisches Lied von den Zeiten, die sich ändern. Es erzählt davon, dass nichts ist, wie es war. Schön ist, dass kaum Kulturpessimismus steckt in diesem Motiv, wie Box es hier einflicht. Vielmehr geht es um die recht nüchterne Erkenntnis alt gewordener Männer, dass die Welt nicht daran denkt, mit ihnen zu altern, gar zu sterben. Diese Kränkung, auch davon erzählt der Roman, wird aufgewogen, ein bisschen jedenfalls, durch die Zukunft die nachwächst in der nächsten Generation.

Derlei halb mit-, halb gegeneinander strebende Motivlagen, Interessen und Lektürebegehrensanreize wirklich überzeugend zu tarieren, muss einer schon ein Meister der Thrillerkunst sein, wie etwa Lee Child einer ist. Der lobt auf dem Innencover C.J. Box als "einen der absoluten Topautoren der Gegenwart" und das ist zwar als Lob für den im selben US-Verlag erscheinenden Kollegen sehr freundlich, aber doch entschieden des Guten zu viel. "Stumme Zeugen" ist ein grundsympathisches Buch, solide in einem guten Sinn. Man kann ihm viel, unter anderem auch das zugute halten, dass es die Leserschaft trotz mancher Implausibilität nicht für dumm verkauft. Box hat sich ein paar Figuren ausgedacht, die dem Klischee mit einem gewissen Differenzierungsvermögen aus dem Gesicht geschnitten sind und mit denen zu sym- und antipathisieren ein Leichtes ist.

Und fast am Schönsten ist das letzte Kapitel, in dem einer der Protagonisten lebensgefährlich verletzt zwischen Wachen und Träumen schwebt. Im entspannten Raum des Hinterher werden die liebgewonnenen Figuren, die Lebenden wie die Toten, am Krankenbett noch einmal versammelt, zum Heilen der Wunden, zum Blick in die Zukunft. Momente wie diese machen "Stumme Zeugen" dann tatsächlich zu ein bisschen mehr als nur sehr ordentlicher Thrillerliteratur.

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Im Provinznest Crowby in den englischen Midlands wird ein Schwarzer tot aus dem Fluss gefischt, aber der ermittelnde Beamte denkt sich nichts dabei. Der Tote war psychisch gestört, das bestätigen alle, so einer stürzt, denken sie, schon mal von der Brücke und bricht sich das Genick. Also wird auf Selbstmord erkannt. Ein paar Wochen später taucht dann der Cousin des Toten auf, ein prominenter Journalist, und spricht von Belegen dafür, dass der vermeintliche Unfall ein Mord gewesen ist. Es steckten, so seine Behauptung, rechtsextreme Rassisten dahinter. Der nun ermittelnde Detective Chief Inspector Jacobson will ihm nicht glauben, auch wenn er den Verdacht hegt, dass manch einer in der Angelegenheit mit der einen oder anderen Information hinter dem Berg hält.

Für den Leser erweist sich schneller als für die Polizei: Im kleinen Crowby sind die Nazis los. Eine kleine, radikale Truppe von Rechtsextremisten mit landesweiten Ambitionen hat sich formiert und Iain McDowall gibt in von Kapitel zu Kapitel wechselnder Perspektive immer wieder auch Einblick in ihr Denken, Sprechen und Handeln. Beteiligt ist durchaus auch das, was man manchmal bessere Kreise nennt, aber besser sind nicht nur in diesem Fall vor allem die Finanzierungs- und Netzwerkmöglichkeiten. In Wahrheit natürlich nichts als der übliche Dreck, der sich freut, wenn die fanatisierten Kampfbataillone den Feind per Brückensturz um die Ecke bringen.

Im Fortgang des Romans beginnt dann Unverbundenes sich zu verbinden. Ein zweiter Ermittler, Detective Sergeant Kerr, der nebenbei seine Frau betrügt, ist ebenfalls Ausländerfeinden auf der Spur, die einen indischen Wirt bedrohen (und, fast schlimmer noch, immerzu als Paki beschimpfen). Die Ex-Freundin des ersten Toten erinnert sich an bessere Zeiten in Barcelona und London. Einer der Tatbeteiligten macht sich davon und noch der Kumpan, bei dem er Unterschlupf sucht, bekommt seinen gerechten Anteil am Gesamtroman. Es geht um Rechtsextremismus, Leni Riefenstahl und die Arbeit des Inlandsgeheimdiensts, um Schizophrenie und Ehebruch (aber auch, an anderer Stelle, Beziehungsanbahnung), um Gegenwärtiges und Vergangenes, um Existenzen, die scheitern und um Leben, mit denen so manches im Argen liegt - und um die Allgegenwart der Videoüberwachung in Großbritannien geht es auch.

Eine ganze Menge Erzählmaterial also. Erstaunlicherweise bekommt Iain McDowall das alles aber elegant fast unter einen Hut. Einwandfrei beherrscht der gelernte Philosoph die Kunst des Fügens der Einzelteile. Und auch das Philosophiestudium kommt zu seinem Recht. Chief Inspector Jacobson liest gerne Schopenhauer zur Nacht. McDowall übertreibt's aber auch wieder nicht mit dem Schöngeistigen: Inspector Jacobson schläft über Schopenhauer mit schöner Regelmäßigkeit ein.

C.J. Box: Stumme Zeugen. Aus dem Englischen von Bernhard Liesen. Heyne Verlag. 520 Seiten. 8,95 Euro.

Iain McDowall: Zwei Tote im Fluss. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. dtv. 379 Seiten. 9,95 Euro