Post aus New York

New York, 12.9.01: Der Geruch von Feuer

Von Ute Thon
14.09.2001. Wie soll man mit soviel Leid umgehen? Ich gehe zum ersten Mal in vielen Jahren in die Kirche, auf der Suche nach einem angemessen Trauerritual. St. Patrick's Cathedral auf der Fifth Avenue füllt sich mit bestürzten, hilflosen Seelen, längst nicht alle gläubige Katholiken.
Ein stechender Brandgeruch liegt in der Luft. Der Wind hat gedreht und nun treibt die Rauchwolke, die aus den Trümmern des World Trade Centers aufsteigt, über ganz Manhattan nach Norden. Die emotionale Lähmung von gestern ist physischem Schmerz gewichen. Ich habe höllisches Kopfweh. Die Katastrophe bekommt ein Gesicht. Viele Gesichter. Überlebende erzählen ihre unglaublichen Rettungsgeschichten. Eine Morgan-Stanley-Mitarbeiterin, die nur an Krücken gehen konnte, wurde von einem tapferen Kollegen auf seinen Schultern über 64 Stockwerke hinunter in Sicherheit getragen, kurz bevor der Tower zusammenbrach.

Doch solch positive Meldungen ertrinken in der Flut von Tränen. Vor dem Bellevue Hospital stehen schluchzende Menschen Schlange, die auf ein Lebenszeichen von ihren vermissten Angehörigen hoffen. Sie bringen Fotos und herzzerreißende Geschichten von Töchtern, Söhnen, Ehemännern, Freundinnen, die im World Trade Center arbeiteten und nicht nach Hause gekommen sind. Sie stürzen sich auf jede Fernsehkamera, flehen die Reporter an, ihre Familienfotos zu zeigen, klammern sich an das dünne Fädchen Hoffnung, dass diese geliebten Menschen es irgendwie geschafft haben, dem Inferno zu entrinnen. Sie ziehen von Krankenhaus zu Krankenhaus. Doch die Chancen für ein glückliches Wiedersehen werden von Stunde zu Stunde schwächer. Der vielleicht brutalste Beweis dafür sind die endlosen LKW-Kolonnen, die auf dem Westside Highway den Schutt abtransportieren. 3000 Tonnen verknoteter Stahl, Glas, Staub, Blut. Die Hospitäler bekommen keine neuen Patienten mehr - ein schlechtes Zeichen.

Wie soll man mit soviel Leid umgehen? Ich gehe zum ersten Mal in vielen Jahren in die Kirche, auf der Suche nach einem angemessen Trauerritual. St. Patrick's Cathedral auf der Fifth Avenue füllt sich mit bestürzten, hilflosen Seelen, längst nicht alle gläubige Katholiken. Kardinal Egan hält eine schlichte Messe. Ich halte die Hände von Fremden, wir weinen. Später rufe ich das Rote Kreuz an, um Adressen zu erfahren, an denen man Blut spenden kann. Eine Rezeptionistin bedankt sich freundlich. Es hätten sich bereits so viele Spender gemeldet, dass die Stellen zum Blutspenden total überlaufen seien.

Die Stadt operiert auf Halbmast. Ladenketten wie Starbucks oder The Gap bleiben geschlossen. Viele Luxusboutiquen wie Gucci, Louis Vitton, Tiffany oder Vera Wang lassen ihre Türen zu. Die Fashion Week, New Yorks Modewochen, vorgestern noch das hipste Event in Town, wurde abgebrochen. Es gibt keine Broadway Shows und keine Baseball-Spiele. Die Museen sind geschlossen. Dennoch wirkt Upper Manhattan auf den ersten Blick seltsam unberührt von dem Desaster. Menschen schlendern in Shoppinglaune durch die Straßen, auf den Wiesen im Central Park räkeln sich die Sonnenanbeter, Roller Blader und Jogger ziehen ihre Runden. Ein Zeichen von New Yorks Schizophrenie. "Wir definieren uns durch die Erwartung, inmitten größter Triumphe und Tragödien zu leben", sagt New York Times-Kolumnist Max Frankel. "Wir rannten gerade weit genug, um den erstickenden Aschewolken zu entfliehen, doch keiner packte seine Kinder und flüchtete in die Berge." Stattdessen ermuntert der Bürgermeister seine Bürger zum business as usual. "Geht mit euren Familien spazieren oder in ein schönes Restaurant", sagt Giuliani ohne einen Hauch von Zynismus. Nur eben nicht gerade unterhalb der 14. Straße, wo die Rettungsmannschaften Tausende von Leichen ausgraben. Schon morgen werden sich die Theatervorhänge wieder öffnen. Auf dem Programm der City Opera steht Mozarts "Zauberflöte".

Auch die Fernsehsender richten sich auf die Katastrophenberichterstattung ein. ABC, CBS, NBC und CNN berichten noch nonstop von der "Attack on America". Und dass ohne Werbeunterbrechung - für US-Fernsehen ganz und gar ungewöhnlich. Doch die Kabelprogramme haben bereits heute morgen wieder auf ihr reguläres Programm umgeschaltet. TNT wechselte von der CNN-Liveschaltung in New York nahtlos zur Krankenhausserie E.R. über. Das New York Times-Feuilleton sucht derweil nach einem angemessenen Ton und findet Trost in der "Power of Art". Die Ressortleiter beschwören die kreative Kraft, die aus unmenschlicher Zerstörung erwachsen kann. Picassos "Guernica", Laurence Olivier 1946 in London als "Ödipus Rex", Primo Levi's Texte über Auschwitz. Doch wo sind die Stimme von zeitgenössischen amerikanischen Künstlern?

Nach einem Tag der Lähmung machen sich unter den Normalbürgern Wut und Rachegefühle breit. Arabisch aussehende Menschen werden beschimpft, auf offener Straße angespukt. Ein Zug aus Boston wird vom FBI gestürmt, weil Passanten einen Fahrgast für verdächtig halten. Die Verdachtsmomente: ein Turban und ein langer Bart. Emira Habiby-Browne, Vorsitzende des Arabisch-Amerikanischen Familienservices in Brooklyn, berichtet von hasserfüllten Drohanrufen. Sie hat ihr Büro inzwischen verrammelt. Viele Araber trauen sich nicht mehr auf die Straße. In Dallas wurden die Fenster eine Moschee von Gewehrschüssen zersplittert. In New York stehen die muslimischen Gotteshäuser rund um die Uhr unter Polizeischutz. Auf den Strawberry Fields, einer Gedenkstätte für John Lennon im Central Park, haben sich am Abend viele Leute eingefunden. Sie schweigen. Rund um das Mosaik am Boden brennen Kerzen, in der Luft liegt immer noch Brandgeruch. "Imagine..."