9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Stück Realitätsverweigerung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2024. Die Welt fragt, wie Israel nach wenigen Monaten zum angeblichen Alleinschuldigen des Gazakriegs werden konnte. Die FAZ liest den Untersuchungsbericht zum Netzwerk des Sexualforschers Helmut Kentler, der in den 70er Jahren mit Billigung der Behörden Jugendliche an pädophile Pflegeväter vermittelte. Die SZ freut sich auf ein Telefon ohne Apps. Die NZZ erinnert am Beispiel von Rudolf Margolius an die Slansky-Prozesse. Die taz stellt den Niederländer Salo Muller vor, der die Bahn mitverantwortlich macht für die Deportationen in die Konzentrationslager.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.02.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Frank Trentmann wuchs in Hamburg auf und lehrt seit vielen Jahren Geschichte in London und Helsinki. Er wirft also gewissermaßen von außen einen Blick auf Deutschland und sieht: eine ausgeprägte Jammerkultur, die nur den Extremisten hilft. Vielleicht sollte man sich gelegentlich auch mal vor Augen halten, "wie gut es uns vergleichsweise geht, nicht nur im Vergleich zu unseren Vorfahren, sondern auch hier und heute im europäischen Vergleich", empfiehlt er in der FAZ. "Wir brauchen mehr als eine Schönwetterdemokratie. Zu lange wurde Verantwortung ausgelagert und verschoben, weg von den eigenen Bürgerinnen und Bürgern - auf die USA für die militärische Sicherheit; auf fossile Energien aus dem Ausland für mollig warme Wohnungen und schnelle Autos; auf Italien und Griechenland für die vielen Migranten. Diese bequemen Strategien, die auch ein Stück Realitätsverweigerung waren, funktionieren nicht mehr."

Von 1967 bis 1976 vermittelte der Sexualforscher Helmut Kentler in Berlin mit Unterstützung von Mitarbeitern der staatlichen Jugendhilfe "Jungen, die er als 'sekundärschwachsinnig' einschätzte" in die Obhut pädophiler Pflegeväter. Das sollte ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern. Die Uni Hildesheim hat jetzt einen Bericht dazu veröffentlicht, den der Berliner Senat 2018 in Auftrag gegeben hatte, berichtet Heike Schmoll in der FAZ, und darin zeigt sich, dass die Missbrauchsstruktur weit über Berlin hinaus reichte: "von Göttingen über Lüneburg nach Tübingen, über die inzwischen geschlossene Odenwaldschule in Heppenheim bis in Institutionen der evangelischen Kirche. Die Aktenanalyse habe gezeigt, dass von einer 'Institutionalisierung der Gewalt' gesprochen werden könne, während die Behörden die Unterbringung systematisch duldeten und selbst bei einschlägigen Hinweisen nicht misstraisch wurden, berichten die Forscher."
Archiv: Gesellschaft

Politik

"Alle Appelle zum Innehalten richten sich ausschließlich an Israel, das am 7. Oktober vergangenen Jahres Opfer eines mörderischen Angriffs geworden ist", konstatiert Thomas Schmid in der Welt, und dabei "wird Israel immer entschiedener vom Opfer zum Täter umgedeutet". Die israelische Kriegsführung lässt sich gewiss kritisieren, so Schmid. Aber die Kritik an Israel sei bigott, weil sie sich weigere zu "kontextualisieren": "Die Hamas kämpft nicht für einen eigenen Staat neben dem jüdischen, sie will erklärtermaßen und mit Unterstützung des Irans den Staat Israel auslöschen. Israel kann daher nur überleben, wenn es sich konsequent verteidigt. Und spätestens seit dem 7. Oktober 2023 ist klar, dass es zwischen Israel und den Palästinensern keine Besserung geben kann, solange die Hamas ein handlungs- und kampffähiger Akteur ist. Die Vernichtung der Hamas mag kein realistisches Ziel sein, ein legitimes ist es in jedem Fall."
Archiv: Politik
Stichwörter: 7. Oktober, Hamas

Europa

Eine nukleare Aufrüstung in Europa lehnt Florian Eblenkamp vom Bündnis gegen Atomwaffen, ICAN, im Interview mit der taz kategorisch ab. Auch die jüngsten Äußerungen von Donald Trump und Putins Angriffskrieg in der Ukraine können ihn nicht umstimmen: "Wir sollten nicht jede dumme Aussage von Trump überbewerten. Es ist nicht gesagt, dass er die Wahl gewinnt, und nicht, dass er als Präsident wirklich aus der Nato aussteigen würde. Es ist nicht gesagt, dass Putin das Baltikum überfällt und Europa die Füße stillhalten würde, falls doch. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, wie weit wir dieses atomare Spiel denn mitspielen würden. Rüstet Europa nuklear auf, führt das ja nicht zu einer Entspannung, sondern zu einer Eskalation. Putin würde entsprechend nachlegen, und schon sind wir in einem Überbietungswettbewerb mit Massenvernichtungswaffen."

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen legt ein Buch über "Putins Krieg gegen die Frauen" vor. "Sexuelle Gewalt ist das am meisten vernachlässigte Kriegsverbrechen", sagt sie im Gespräch mit Nadine A. Brügger  von der NZZ. Zur Perfidie gehört dabei vor allem die psychische Wirkung der Verbrechen: "Eine Kriegsverletzung kann jemanden zum Helden machen. Aber die Stigmatisierung von Vergewaltigungsopfern will niemand. Das spielt Russland in die Hände: Wenn sich die Opfer für das schämen, was ihnen widerfahren ist, fangen sie an, sich selbst infrage zu stellen. Das ist typisch für Opfer von sexuellem Missbrauch, unabhängig von ihrem Geschlecht. Und es führt dazu, dass der Fokus gar nicht erst auf den Tätern liegt."
Archiv: Europa

Ideen

Auch in der Zwischenkriegszeit war die Demokratie in Europa von extremistischen Parteien bedroht. Es lohnt, die anzuschauen, die sich erfolgreich dagegen gewehrt haben, nämlich die Tschechoslowakei, Finnland und Belgien, empfiehlt der in Oxford lehrende Politikwissenschaftler Giovanni Capoccia im Gespräch mit Spon: "Ich habe drei Faktoren identifiziert, die entscheidend waren. Am wichtigsten ist das Verhalten derjenigen Parteien, die der extremen Partei inhaltlich am nächsten stehen und deshalb am stärksten herausgefordert werden. Ich nenne sie Grenzparteien. Die Frage ist: Halten sie den demokratischen Konsens oder machen sie gemeinsame Sache mit den Extremen? Zweitens kann das Staatsoberhaupt überraschend großen Einfluss haben, wenn es eine aktive Rolle übernimmt. Drittens kamen auch Verteidigungsmaßnahmen zum Einsatz: Verbote, Beschränkungen, Gesetze gegen Propaganda. Nichts davon ist allein ausreichend, aber ohne geht es meist nicht."

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Bürgerliche Eltern, die ihre Kinder nicht auf eine Waldorf-Schule schicken, schicken sie in eine Montessori-Schule. Bei Rudolf Steiner ist inzwischen bekannt, welch gefährlichen esoterischen und rassistischen Theorien er anhing. Aber auch Maria Montessori war dem in ihrer Zeit grassierenden rassistischen und eugenischen Denken verfallen, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter, die ein kritisches Buch über den "langen Schatten Maria Montessoris" vorgelegt hat, im Gespräch mit Julia Schaaf von der FAS. "Maria Montessori war keine Pädagogin und wollte nie als solche gesehen werden. Sie war Biologin und Ärztin, sie interessierte sich für die 'Natur' des Menschen. 'Anormale', 'degenerierte' Menschen waren aus ihrer Sicht schuld am Rückschritt von Gesellschaften - während sie die 'normalen' optimal fördern wollte, um den Fortschritt der Gesellschaft zu bewerkstelligen. Ihr Denken hatte eine biopolitische Implikation. Das Schöne, das Intellektuelle, das Moralische war für die Biologin Maria Montessori angeboren."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

"Cancel Culture" gibt es bekanntlich nicht, aber Ronya Othmann konnte trotzdem nicht am Literaturfestival in Karachi teilnehmen, weil eine wohl aus Deutschland gesteuerte Kampagne ihr vorwarf, sie sei Zionistin und habe den Islam kritisiert (unsere Resümees). In der FAS schildert Othmann die Geschichte aus ihrer Sicht, erzählt, wie die britische Dozentin Claire Chambers, die moderieren sollte, bei Othmann auf Zionismus-Verdacht erkannte und absagte. Das Goethe-Institut sieht in Othmanns Bericht nicht gerade gut aus: "Die Goethe-Instituts-Leiterin telefonierte mit der Festivalleitung, es hieß, es gebe Aufruhr wegen meines Auftritts, deshalb habe man die Ankündigung in den sozialen Medien gelöscht. Vielleicht wäre es das Beste, 'sie' würde sich einfach krank melden, sagte die Festivalleiterin, und die Goethe-Instituts-Leiterin pflichtete ihr bei. Ich bat, die Mail von Claire Chambers an mich weiterzuleiten, damit ich selbst lesen könne, was mir vorgeworfen werde." Später informierte die Leiterin Othmann noch darüber, "dass man hier nun mal kein Verständnis für die deutsche Position gegenüber Israel habe".
Archiv: Kulturpolitik

Internet

Die Telekom plant ein Telefon ohne Apps, das nur mit KI auskommt. Wenn es so intelligent ist wie die Labyrinthe der Chatbots, in denen Telekom und sämtliche anderen Firmen heute verzweifelte Kunden verenden lassen, schwant einem Übles. Aber SZ-Experte Andrian Kreye jubelt. Für ihn ist das eine Revolution wie das Iphone. Und "die Wirtschaft steht nun vor der Herausforderung, sich in solchen Nadelöhren und Flaschenhälsen zu behaupten. Markenwirkung, Marketing, Search Engine Optimization, Webpräsenz, Social-Media-Kampagnen? Wären mit einem Smartphone, auf dem es keine Apps mehr gibt, Makulatur." Etwas konkreter geht es in einem zweiten SZ-Text über KI zu. Jan Krüssmann erzählt, wie sie alte Schriftrollen aus Pompeiji entziffern hilft. Die ganze KI bringt aber nichts, ohne  schnelles Internet nach 6G-Standard insistiert der Tech-Unternehmer Ivo Ivanov in der FAZ.
Archiv: Internet
Stichwörter: Künstliche Intelligenz

Geschichte

Lucien Scherrer erinnert in der NZZ an die Slansky-Prozesse in Prag 1952, die Teil der antisemitischen Kampagne im späten Stalinismus war. Einer der Angeklagten war Rudolf Margolius, der vor Gericht ein erfoltertes Geständnis ablegte, bevor er hingerichtet wurde, Scherrer trifft auch Margolius' 1947 geborenen Sohn Ivan Margolius, der heute in London lebt und auch heute noch um die Rehabilitierung seines Vaters kämpft. Bücher und Filme gibt es einige zum Thema, auch von Ivan Margolius selbst: "Dennoch werden die seelischen und die politischen Verheerungen, die der Prager Schauprozess angerichtet hat, bis heute unterschätzt. Das Schicksal der Familie Margolius zeigt, wie Diktaturen Menschen zerstören und wie linksextreme Ideologen Prinzipien wie Frieden, Antifaschismus und den Kampf gegen Nazis missbraucht haben, um politische Verbrechen zu legitimieren. Es offenbart auch die Ursprünge jenes 'antizionistischen' Hasses auf Juden und auf Israel, der sich derzeit an propalästinensischen Kundgebungen in Zürich, Berlin, New York und anderen Städten entlädt."

In der taz stellt Anna Lindemann den Niederländer Salo Muller vor, dessen Eltern 1942 erst mit Zügen der Niederländische Staatsbahn und dann der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert wurden, wo sie ermordet wurden. Die Staatsbahn hat er schon dazu gebracht, den Opfern und Hinterbliebenen 50 Millionen Euro Entschädigung zu zahlen. Jetzt ist die Deutsche Bahn am Zuge. Aber die will nicht zahlen. Rechtlich ist sie dazu nicht verpflichtet, lernt Lindemann von dem Historiker Constantin Goschler. Dennoch sollte es "eine Debatte über Teilverantwortung geben. Das Unternehmen habe Tausende Menschen wissentlich in Viehwagen in den Tod transportiert und niemand habe versucht, das zu stoppen. Das sei der wichtige Punkt: 'Die Bahn hat eine Rolle im arbeitsteiligen Prozess der Massenermordung eingenommen. Und das muss sie genauso einsehen: Sie hat einen Beitrag zum Holocaust geleistet', so Goschler. Auch [Mullers Anwalt] Klingner fordert, dass die Bahn moralische Verantwortung für die 7.000 niederländischen Opfer und Hinterbliebenen übernimmt. Er sagt, das gehöre auch zur Prävention, zu einem 'Nie wieder'. Gerade in Zeiten, in denen die AfD in Parlamente gewählt wird und die Anzahl an antisemitischen Straftaten steigt. Deshalb versuche er öffentlich Druck aufzubauen, Verbündete in der Politik zu finden."
Archiv: Geschichte