Magazinrundschau

Unbehagen am Liberalismus

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
10.07.2018. Das New York Magazine porträtiert den afroamerikanischen Maler Henry Taylor. The Atlantic fragt, was Transsexualität und was Pubertät ist. In Eurozine erklärt David Goodhart den Anywheres, dass ihnen gerade ihre Arroganz gegenüber den Somewheres zum Verhängnis wird. Der Guardian denkt über die Philosophie George Soros' nach. Im Jacobin Magazin erklärt David Graeber, was ein Bullshit-Job ist. Wired fürchtet einen Krieg im All.

The Atlantic (USA), 01.09.2018

In einem interessanten Beitrag der neuen Ausgabe überlegt Jesse Singal, wie wir mit Kindern und Jugendlichen umgehen sollten, die sich als Transsexuelle fühlen (etwa 150.000 der 13-17-Jährigen in den USA beschreiben sich so) und eine Geschlechtsumwandlung möchten. Am Beispiel der 14-jährigen Claire zeigt sie die Probleme - auch der Eltern - auf: Nicht jedes Unbehagen am eigenen Geschlecht ist Ausdruck einer krankhaften Störung der Geschlechtsidentität, manchmal ist es auch einfach nur die Pubertät oder eine verzerrte Vorstellung von den Geschlechterrollen: "Für viele junge Menschen mag die Geschlechtsumwandlung, sozialer Art bei Kindern, physischer Art bei jungen Erwachsenen der richtige Weg sein. Aber eben nicht für alle. Manche Kinder sind seit früher Kindheit dysphorisch, kommen aber irgendwann mit ihrem Körper zurecht. Andere entwickeln die Störung erst in der Pubertät, aber ihr Leiden ist zeitlich begrenzt. Wieder andere identifizieren sich schließlich weder mit weiblich noch männlich. Die Vielfalt dieser Erfahrungen zu missachten, und nur die zu sehen, die anscheinend in einem 'falschen Körper' geboren wurden, kann Schaden anrichten. Das behaupten die sogenannten 'Rückumwandler'. Sie glauben, ihre Störung habe ihre Ursache nicht in einer tief sitzenden Differenz zwischen ihrer Geschlechtsidentität und ihrem Körper, sondern in psychischen Problemen, Traumata oder Frauenhass oder einer Kombination aus allem. Sie kritisieren, sie seien durch Gruppendruck oder Ärzte zu einer hormonellen oder chirurgischen Behandlung bewegt wurden. Einige dieser Eingriffe sind irreversibel; stimmliche Veränderungen, Körperbehaarung, Brustgewebe sind dauerhaft. Kinder, die mit entsprechenden Hormonen behandelt wurden, können unfruchtbar bleiben."

Außerdem: Stephen Metcalf schreibt über das Rätsel Jean-Michel Basquiat, dessen Bilder im Wert immer mehr steigen.
Archiv: The Atlantic

Respekt (Tschechien), 07.07.2018

Unter anderem über das Genre Kriegsfilm unterhält sich Jindřiška Bláhová auf dem Karlsbader Filmfestival mit dem großartigen amerikanischen Indie-Filmemacher Richard Linklater, dessen letzter Film "Last Flag Flying" von drei Vietnam-Veteranen handelt. Linklater erinnert sich an die achtziger Jahre, als promilitärische Filme wie "Top Gun" in die Kinos kamen und selbst der Profisport auf militarisierte Weise gezeigt wurde. Auch heute sei die Armee allgegenwärtig, aber die Atmosphäre habe sich verändert: "Es sind nur noch so wenige Menschen in der Armee, dass alle anderen sich schuldig fühlen und sich eine Dankkultur gegenüber dem Militärdienst entwickelt hat. Darüber gibt es dann Filme à la: Danke, dass ihr für uns gekämpft habt. Aber die wirklichen Soldaten hassen das." Hollywood selbst besitze keine politische Agenda, da gehe es nur ums Geld. Wenn man dort überzeugt sei, dass ein Kriegsfilm Geld einbringe, werde ein Kriegsfilm produziert, wenn ein Antikriegsfilm einträglich aussieht, machten sie den. "Aber ich stelle mir schon die Frage, wie man einen guten Antikriegsfilm macht. Die Leute sehen selbst noch in der Niederlage Heroismus und denken, dass sie es vielleicht auch besser hätten hinkriegen können. Und so tragen alle Kriegsfilme auf ihre Weise zu weiteren Kriegen oder einer Kriegsmentalität bei."
Archiv: Respekt

Eurozine (Österreich), 09.07.2018

David Goodhart versetzte 2004 die britische Linke mit einem Essay in Aufruhr, wonach zu viel Diversität zu Lasten der Solidarität gehe. In seinem neuen Buch "The Road to Somewhere" unterteilt er die britische Gesellschaft - in Anlehnung an Theresa Mays Diktum "If you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere" - in Anywheres und Somewheres: Die gut ausgebildeten Anywheres aus der Mittelschicht machten 25 Prozent aus und favorisierten Offenheit und Mobilität, die Somewheres machten 50 Prozent aus und seien stärker auf Sicherheitsnetze wie Familie und Nation angewiesen, erklärt er im Interview mit dem norwegischen Magazin Samtiden, das Eurozine ins Englische übersetzt hat: "Ich glaube schon, dass ich das weitverbreitete Unbehagen am dominierenden Liberalismus der Anywheres erkennt habe, ein Unbehagen, das ebenso kulturell wie ökonomisch ist. Die Anywheres haben ihre eigene Macht nicht bemerkt. Sie haben in ihrem eigenen Interesse regiert und dies als nationales Interesse ausgegeben. Und das beziehe ich nicht nur auf die Wirtschaft und die Verschiebung zu einer offenen Wissensökonomie mit hoher Einwanderung, von der die Anywheres viel mehr profitieren als die Somewheres. Fast das gesamte politische Spektrum ist beherrscht von dem säkularen, liberalen Anywhere-Denken, zumindest in Britannien: die Expansion der höheren Bildung und verglichen damit die Vernachlässigung der technischen und beruflichen Ausbildung; die Art, in der kognitive Fähigkeiten zum Goldstandard wurden; das Misstrauen gegenüber Formen von Gruppenzugehörigkeit (national, lokal, ethnisch); die gesunkene Bedeutung des Privaten und die Versuche, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und ihren Rollen zu relativieren, die viele Menschen noch immer wertschätzen. Und zu guter Letzt wurde den Somewheres erklärt, dass ihnen die Anywheres auch moralisch überlegen sind."
Archiv: Eurozine

Jacobin (USA), 30.06.2018

Die Online-Ausgabe des Magazins bringt ein Interview von Suzi Weissman mit dem Ethnologen David Graeber zum Thema "Bullshit Jobs" (so der Titel von Graebers neuem Buch). Gemeint sind nicht etwa schlechte Jobs, sondern Jobs, die selbst diejenigen für überflüssig halten, die sie ausführen, Schein- und Ersatz-Arbeiten; und es werden immer mehr. Für Graeber ist das Bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung: "Eine Jobgarantie sieht gut aus, doch führt sie dazu, dass Leute Steine weiß anmalen müssen oder dergleichen Sinnloses mehr, wie wir aus Erfahrung wissen. Sie bräuchte auch eine riesige Verwaltung. Vor allem Leute aus der Managerkaste bevorzugen das. Ein universales Grundeinkommen gibt dir, was du brauchst. Der Rest ist deine Sache. Die Idee dahinter ist, Arbeit und Arbeitsentschädigung zu trennen. Wer existiert, verdient einen Lebensunterhalt. Freiheit in der ökonomischen Sphäre sozusagen. Man braucht sich nur noch zu entscheiden, was man zur Gesellschaft beitragen möchte. Eine Sache, die an meiner Studie über Bullshit Jobs wichtig ist, ist der Umstand, dass es den Menschen, die diese sinnlose Arbeit verrichten, wirklich schlecht geht. Das kam gut rüber. In der Theorie bekommst du Geld fürs Nichtstun. Aber es macht die Leute kaputt. Depression, Ängste, alle möglichen psychosomatischen Erkrankungen sind die Folge. Dass die Menschen gar nicht begreifen, wieso sie mit Recht verärgert sein können, macht es nur noch schlimmer."
Archiv: Jacobin

Magyar Narancs (Ungarn), 06.07.2018

Vor kurzem erschien - als Fortsetzung seines Romans "Orgie" - Gábor Zoltáns Essayroman "Szomszéd" (Nachbar - Vor und nach der Orgie, Kaligram 2018, 392 Seiten) in dem die Gräueltaten der ungarischen Nazis genannt Pfeilkreuzler zwischen 1944 und 45 beschrieben werden. Manch Kritiker in Ungarn betrachtet "Orgie" als gelungene Ergänzung zu Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen". Im Interview mit József Kling denkt Zoltan u.a. über die Spannung zwischen Moderne und Postmoderne in der gegenwärtigen ungarischen Literatur nach: "Die postmodernen Autoren mussten sich von den von ihnen geschätzten und geliebten Meistern entfernen. In der ungarischen Literatur erreichte die Moderne sagen wir mit István Örkény und Miklós Mészöly ihren Höhepunkt. Die talentierten Schriftsteller wussten, dass es keinen anderen Weg mehr gab, die realistische Literatur, wie sie bis dahin existierte, konnte nichts mehr produzieren. (...) Was ich mache oder wie ich schreibe ist nicht das Abwenden von den Vorfahren, ich baue vielmehr auf ihre Erfolge: Wie empfindsam sie die Sprache betrachten. Es können nicht allerlei Wörter zufällig verwendet werden. (...) Die 'Orgie' konnte ich nur anfangen zu schreiben, weil ich plötzlich die Sprache der Protagonisten und die der Umgebung hörte. Wenn ich mir über die Sprache der Pfeilkreuzler nicht im Klaren bin, kann ich in ihre Welt nicht eintreten. Aber Ziel und Sinn des Ganzen ist es, da einzutreten und den Leser dorthin einzuführen."
Archiv: Magyar Narancs

Wired (USA), 28.06.2018

Da Waffensysteme immer präziser und punktuell einsetzbarer werden, könnte sich das Schlachtfeld der Zukunft zahlreiche Kilometer über unseren Köpfen befinden, schreibt Garrett M. Graff: Wer gezielt Satelliten im Orbit zerstören kann, hat seinen Gegner auf dem Boden im Grunde schon besiegt - zumal weite Teile der Infrastruktur und Logistiken auf dem Boden von einem funktionierenden Satellitensystem abhängig sind und weite Teile des Militärs ohne Satellit kaum mehr einsetzbar sind. "Nach Jahrzehnten unbestrittener Vorherrschaft der USA, multinationalen Abkommen und einem diplomatischen Konsens, das Weltall dem rein friedlichen Gebrauch vorzubehalten, haben die militärischen Führungskräfte begonnen, den Orbit als einen neuen 'Kriegsschauplatz' zu bezeichnen. ... Doch sollte das All tatsächlich ein Kriegsschauplatz werden, ist es wichtig, sich die Risiken vor Augen zu halten, und zwar nicht für Amerikas strategische Position, sondern für die gesamte Menschheit. Ein russo-chinesisch-amerikanischer Krieg im All könnte ohne weiteres zu einer stark beschädigten globalen Ökonomie führen, einer unbrauchbaren Infrastruktur und einem von den Fragmenten pulverisierter Satelliten ummantelten Planeten, was im übrigen für alle Menschen zu einem Problem werden könnte, bis wir einen Weg gefunden haben, uns dessen zu entledigen. Im Nachspiel eines solchen Konflikts könnte es Jahre dauern, bevor wir neue Satellitenformationen im Orbit platzieren könnten. Die Vorbereitungen für einen Orbit-Krieg haben beim US-Militär rasch Priorität gewonnen. Doch viel dringender wäre es, herauszukriegen, wie er sich verhindern lässt."
Archiv: Wired

Slate.fr (Frankreich), 10.07.2018

Nicolas Lebourg nimmt sich sehr viel Platz um nachzuweisen, dass es falsch sei, von einem "neuen Antisemitismus" zu sprechen, der vor allem von muslimischer und linker Seite ausgehe. Anlass ist ein von mehreren Intellektuellen, darunter Pascal Bruckner, herausgegebener Band, der versucht, genau dieses Phänomen zu umreißen. Einer der Anlässe dieses Bandes ist der Mord an Sarah Halimi durch einen jungen Muslim, der die pensionierte Lehrerin im letzten Jahr unter "Allah ist groß"-Rufen aus dem Fenster ihrer Wohnung warf. Die Polizei hat diese Umstände über Monate nicht zur Kenntnis genommen - zwei Jahre nach dem Attentat auf einen jüdischen Supermarkt durch Islamisten. Lebourgs Aufruf zu intellektueller Nüchternheit liest sich so: "Die Autoren und Autorinnen des Bandes singen alle die selbe Leier: Die elf Monate, die den Mord an Sarah Halimi von dem Moment trennten, als die Polizei sich entschloss, das Motiv des Antisemitismus festzustellen, werden als Beweise einer Schuld und eines Fehlers angesehen, die zeigen würden, dass der Antisemitimus und seine 'Verleugnung' eine Staatsideologie seien. Man könnte sie im Gegenteil als Zeichen eines Justizsystems ansehen, das nicht nach dem Rhythmus der aktuellen Polemik arbeitet. Um ehrlich zu sein, hat die zweite Hypothese sogar das Verdienst der intellektuellen Kohärenz." Um den Vorwurf des Antisemitismus abzuwehren, ist die französische Linke sogar erstmals bereit, die Polizei zu verteidigen!
Archiv: Slate.fr

Guardian (UK), 09.07.2018

Für Daniel Bessner bleibt die große Frage, ob eine offene Gesellschaft überhaupt möglich ist, wenn einige Personen so reich werden wie George Soros. Aber jenseits dieses grundsätzlichen Problems, steht für Bessner fest, dass Soros das Beste ist, was die Meritokratie je hervorgebracht hat. Kein Wunder, dass sich die Rechtspopulisten in Ungarn, aber auch die amerikanischen Alt-Righter auf ihn eingeschossen haben. Dabei verbucht Soros das Scheitern der osteuropäischen Demokratien auf dem Konto des Westens: "Seit den Neunziger erklärte er das Aufkommen der Kleptokratie und des Hypernationalismus im früheren Ostblock mit dem mangelnden politischen Willen und der fehlenden Vision des Westens. 'Demokratien', beklagte er 1995, 'leiden unter einem Mangel an Werten ... Sie sind notorisch unwillig, irgendetwas auf sich zu nehmen, solange nicht elementare Eigeninteressen berührt sind.' Für Soros hat der Westen in einer epochalen Aufgabe versagt und dabei Unfähigkeit und Kurzsichtigkeit bewiesen. Aber es war nicht nur der Mangel an Willen, aus dem sich der Westen in jenem Moment zurückhielt. In der Ära der Schocktherapie strömte westlichen Kapital nach Osteuropa - aber dieses Kapital wurde vor allem in die private Industrie investiert, und nicht in demokratische Institutionen oder Graswurzel-Organisationen, was den Kleptokraten und Antidemokraten half, die Macht zu erringen und zu bewahren. Soros erfasste das Hauptproblem, aber er konnte nicht verstehen, wie eben die Logik des Kapitalismus, der Profit über alles stellt, zwangsläufig sein demokratisches Projekt gefährdete."
Archiv: Guardian

New York Magazine (USA), 01.07.2018

Henry Taylor, "Untitled" (2013). Courtesy of the artist and Galerie Blum & Poe, Los Angeles/New York/Tokyo

Rachel Kaadzi Ghansah stellt den längst bekannten und doch als Outsider gehandelten Maler Henry Taylor vor; seine Porträts nennt sie eine Chronik des modernen afroamerikanischen Lebens im 20. Jahrhundert: "Porträtmalerei  heißt, die Funktion des Spiegels übernehmen. Der Pinsel fungiert als Finger, zeichnet die Kurve nach, erfasst das Fleisch … Die ganze Sinnlichkeit und Exaltation Gauguins steckt in Taylors nackten Frauen. Nur das Gefühl des Übergriffs fehlt. Bei Taylor ist der Mann selbst präsent im Akt, als wäre die Schönheit der Frau nicht außerhalb seiner selbst, sondern sinnbildlich für ihn. Frauen, die einst im Schatten saßen, einen Fächer in der Hand, stehen bei Taylor im Zentrum, von ihrer Befangenheit befreit als diejenigen, die schön sind. Das ist eine radikale Entscheidung. Und es verwundert nicht, wenn mancher sich dabei derart ungemütlich fühlt, dass er Taylors Arbeit außerhalb des Kanons verortet."