
Barbora Chaloupková führt ein
Gespräch mit dem Politologen
Ivan Krastev (das nur zum Teil ohne Abo lesbar ist, aber schon dieser Teil ist so interessant, dass sich die Lektüre lohnt) über die Frage, ob wir in einem
Zeitalter der Angst leben (Angst vor Russland, dem Krieg, vor einer Wirtschaftskrise, vor der Kälte etc.). Das Coronavirus hat einen großen Anteil an der allgemeinen Gefühlslage, meint Krastev. "Der Virus kam
so unerwartet und in solchem Ausmaß, dass viele Menschen das Gefühl gewonnen haben, dass heute schlicht alles passieren kann. Etlichen macht auch Angst, wie schnell sich die Welt verändert." Auch das
Missverhältnis von Realität und persönlicher Lebenserfahrung spiele eine Rolle. "Demokratie beruht darauf, dass meine Erfahrungen gleichwertig mit deinen sind und wir auf der Grundlage dessen, was wir erlebt haben, unsere Wahl treffen. Aber heute müssen wir gezwungenermaßen auf Fragen reagieren, bei denen unsere Lebenserfahrungen nicht viel helfen. Ob es um den Coronavirus geht oder darum, was die Russen mit den Atomwaffen machen werden, um neue Technologien oder Big Data - die Frage ist, was und wem glauben? Darum sind auch die
Verschwörungstheorien so einflussreich, die die Ideologien ersetzt haben." Statt von Angst würde Krastev allerdings eher von Bangigkeit oder einer diffusen Sorge sprechen. "Menschen, die
Angst haben, sind gewöhnlich sehr konzentriert. Sie denken über das nach, was sie sagen, weil sie wissen, dass es Folgen haben kann.
Bangigkeit hingegen bewirkt das Gegenteil. Hier lässt sich die Quelle der Angst nicht genau ausmachen, darum fürchtet man sich vor allem, ist desorientiert und wird laut. Und meiner Meinung nach leben die Europäer heute in einer Zeit der Bangigkeit, nicht der klassischen Angst. (…) Am meisten sollten die
Ukrainer Angst haben, schließlich können sie getötet werden. Gleichzeitig wissen sie jedoch sehr genau, womit sie konfrontiert sind, und haben ihr Leben dem angepasst. Es ist sicher sehr schwierig, aber sie leiden nicht unter einer diffusen Sorge, bei der die Furcht vor dem Unbekannten einen lähmt. Solche Bangigkeit lässt sich nicht in etwas Konstruktives wenden, Angst hingegen verleiht
eine Disziplin, die sich nutzen lässt."