Efeu - Die Kulturrundschau

Tatsächlich prinzenfähig

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12.12.2023. Die NZZ fühlt mit, wenn sich "Platée" in einer Inszenierung von Jetske Mijnssen in Zürich unglücklich in den schönen Jupiter verliebt. Die FAZ bekommt glühende Wangen von der Farbenpracht in den Bildern Rudolf Levys. Die taz besucht das Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra, das die Schönheit der ukrainischen Musik feiert. Die Rapperin Nicki Minaj hat zuletzt wohl ein bisschen arg viel Antenne Bayern gehört, seufzt Zeit Online. "Eh wurscht" findet die SZ, dass die eben ausgerufene Farbe des Jahres "Peach Fuzz" erst vor kurzem schon Trendfarbe war.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Platée und Jupiter. Foto: Opernhaus Zürich. 

Die historische Uraufführung der Barockoper "Platée" von Jean-Philippe Rameau war ein ziemlicher Skandal, klärt Christian Wildhagen in der NZZ amüsiert auf: Sie fand in Versailles statt, anlässlich der Hochzeitsfeier des Sohns König Ludwigs XV. mit Maria Theresia von Spanien. Die Hauptrolle spielt im Original eine "hässliche, alte Sumpfnymphe", die sich in Jupiter, den schönsten aller Götter verliebt und ihn heiraten möchte - der Kritiker denkt sich seinen Teil. Jetske Mijnssens hält in ihrer Inszenierung im Opernhaus Zürich der Schadenfreude des Publikums hingegen den Spiegel vor. Platée ist hier ein verliebter Mann, der sich an einem Theater in den "Star der abendlichen Ballettaufführung" verliebt: "Die Dirigentin Emmanuelle Haïm sorgt am Pult des hauseigenen Barockorchesters La Scintilla dafür, dass es auch für uns Hörer genug zum Lachen gibt. Sie hat..eine verdichtete Fassung erstellt, in der alles Höfische und Zeremonielle der Barockoper zurückgedrängt ist. Mit ihrer unablässig vorantreibenden Energie und einer gewissen Lust an der Überzeichnung stellt Haïm gerade nicht Platées Eitelkeit, sondern die der anderen aus: Wenn Jupiter die Muskeln spielen und es stürmen und donnern lässt, stürmt und donnert es so theatralisch, dass die Wände wackeln; wenn L'Amour die Liebe preist, tönt das so selbstverliebt, als gäbe es gar keine Hoffnung mehr."

Weiteres: Kultursenator Joe Chialo spricht im Nachtkritik-Interview mit Christine Wahl über seine Pläne für die Berliner Theaterszene und fehlende Gelder für den Kulturbereich: "Dass die haushalterische Situation in Berlin schwierig ist, ist ja eine Realität. Wir haben in den letzten Jahren, während Corona, ein Stück weit eine Paradoxie erlebt: Die Künstler durften nicht auftreten, aber gleichzeitig stand der Kunstwelt aufgrund der aufgelegten Hilfsfonds mehr Geld zur Verfügung als je zuvor. So viel, dass sie es teilweise gar nicht ausgeben konnte. Insofern wird hier auf der einen Seite eine Warnung ausgesprochen und eine Katastrophe heraufbeschworen, die auf der anderen Seite gar nicht spürbar ist."

Weiteres: Nachdem die österreichische Künstlerinitiative "art but fair UNITED" um den Tenor Wolfgang Ablinger-Sperrhacke am Donnerstagabend wegen "rechtswidriger Verschiebung von Produktionen" Strafanzeige gegen die Festspiele Salzburg gestellt haben, erwägen diese ihrerseits eine Klage wegen "übler Nachrede", meldet die FAZ.

Besprochen werden Kornelius Eichs Inszenierung von Evelyne de la Chenelières Stück "Zur Nacht" in den Landungsbrücken Frankfurt (FR), Sarah Groß' Inszenierung von Goethes "Der Zauberlehrling" an der Frankfurter Volksbühne (FR), Lorenzo Fioronis Inszenierung von Arnold Schönbergs Opernfragment "Moses und Aron" an der Oper Bonn (taz) und Hakan Savaş Micans Inszenierung von Sasha Marianna Salzmanns Stück "Muttersprache Mameloschn" am Maxim Gorki Theater in Berlin (FAZ), Claus Guths Inszenierung von Puccinis Oper "Turandot" an der Wiener Staatsoper (VAN, FAZ) und Lluis Pasquals Inszenierung von Verdis "Don Carlo" an der Mailänder Scala (Welt).
Archiv: Bühne

Musik

Morgen spielt das Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra in Berlin. Für die taz hat Babara-Maria Vahl das Orchester vorab besucht und ist dort auf einen "gemeinsamen Spirit" gestoßen, "der sich auch in dem Willen ausdrückt, mit der Musik Botschafter ihrer Kultur und für die Unabhängigkeit zu sein. ... 'Ausgelöst durch den Krieg haben wir das Bedürfnis, unserem Volk und der Welt zu zeigen, wie hinreißend schön unsere Musik und wie groß und tief unsere Kultur ist', so Dirigent Volodymyr Syvokhip. Vieles davon sei selbst in der Ukraine derzeit nicht verfügbar oder unbekannt, beklagt Konzertmeister Lytvynenko Denys: 'Zur Zeit des Sowjetimperiums durftest du deine Kultur nicht vertreten, es hätte dich dein Leben gekostet. Alles Ukrainische wurde unterdrückt.' Gerade spielten sie so viele Werke ukrainischer Komponisten ein wie irgend möglich und veröffentlichten diese über einen eigenen Youtube-Kanal."

Julia Lorenz lässt auf Zeit Online kein gutes Haar an der Rapperin Nicki Minaj, die sich mit dem Album "Pink Friday 2" zurückmeldet und darauf in alle Richtungen austeilt. "Ärgerlicher als Minajs biestiges Einzelkämpfergehabe sind nur die Samples. Als hätte sie zur Inspiration einen Nachmittag auf Antenne Bayern verbracht, schnappt sie sich die größten Hits der Achtziger, Neunziger und das Beste von heute zur maximal fantasiearmen Wiederverwertung. Mit einer babyschlumpfig hochgepitchten Version von Billie Eilishs Song 'When the Party's Over' beginnt das Album, hochkarätige Samples von Klassikern wie 'Girls Just Want to Have Fun' von Cyndi Lauper und Blondies 'Heart of Glass' speist Minaj dermaßen plump in ihre Songs ein, dass man beinahe vergisst, wie smart und geschichtsbewusst sie mit den Liedern anderer umgehen kann. Ein Tiefpunkt ist ihre bereits 2022 erschienene Single 'Super Freaky Girl', ein zahnloser Sexsong, den Minaj zum Sound von Rick James' mausetot zitiertem Stück 'Super Freak', bekannt wiederum aus MC Hammers 'U Can't Touch This', auf die Tanzfläche schubst. ... Ohne neue Ideen verwaltet Minaj eine Ästhetik, die sie selbst geprägt hat."



Weitere Artikel: Für die Jungle World porträtiert Luca Glenzer den zwischen den Schweizer Alpen und Berlin pendelnden Musiker Dagobert, der eben sein neues Album "Schwarz" (unser Resümee) veröffentlicht hat. Lotte Buschenhagen stimmt im Tagesspiegel auf das Mendelssohn-Festival in Berlin ein. Der Rapper Young Thug steht vor Gericht, berichtet Christian Schachinger im Standard.

Besprochen werden Cat Powers Bob-Dylan-Coveralbum ("Ein sehr schönes Album", frohlockt Benjamin Moldenhauer in der taz), ein von Christian Thielemann dirigierter Brahms-Abend der Wiener Philharmoniker mit Igor Levit (Standard), das neue Album von Blond (Presse) und André 3000s Soloalbum "New Blue Sun" (FAZ, mehr dazu hier) und die Fake-Compilation "Plattenbau", die sich Experimente zwischen West- und Ost-Krautrockern imaginiert ("Offenbar ist der Osten immer noch so unheimlich, dass er weiter privatisiert und verniedlicht werden muss", meint Robert Mießner in der taz).

Archiv: Musik

Literatur

Der Tages-Anzeiger hat Michael Schischkins ursprünglich in der SZ erschienenen Essay (unser Resümee) zum Schweigen der russischen Kultur zum Krieg in der Ukraine online nachgereicht. Die Autorin Laura Freudenthaler erinnert in einem Standard-Essay an die vor 30 Jahren gestorbene Schriftstellerin Dorothea Zeemann. Für die NZZ porträtiert Judith Leister den französischen Comicautor Joann Sfar. Tilman Spreckelsen wirft für die FAZ einen kurzen Blick auf die Online-Wallungen, die Andrea Paluchs bereits 2021 erschienenes Kinderbuch "Die besten Weltuntergänge" erst vor kurzem ausgelöst hat.

Besprochen werden unter anderem Emma Braslavskys "Erdling" (FAZ) und der letzte Band aus Jon Fosses "Heptalogie" (SZ). Außerdem bringt die FR heute eine Literaturbeilage.
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Film

Im Zeit-Online-Gespräch mit Nils Markwardt gibt die Kulturwissenschaftlerin Andrea Geier Einblick in ihre Forschungsarbeiten zum Weihnachtsfilm. Der nicht nur in Deutschland zu dieser Jahreszeit äußerst beliebte Klassiker "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" (Mediathek) darf da nicht fehlen. Der Interpretation, dass der in der DDR und in der Tschechoslowakei entstandene Film mit seiner "widerständigen Komponente" auch kritische Spitzen gegen das damals herrschende sozialistische System austeilt, kann sie sich nicht anschließen: "Ich würde in dem Film eher einen allgemeinen Umgang mit einem Genre erkennen. Das Wiedererzählen von Märchen und bekannten Geschichten lebt immer vom Ausbalancieren von Wiederholung und Variation. Und gerade die Variation von Geschlechterrollen gibt es sehr regelmäßig. Zumal das Interessante hier auch gar nicht so sehr darin besteht, dass die Frauenfigur emanzipativ erscheint, sondern vielmehr, dass die Prinzenrolle neu ausgestaltet worden ist. ... Die ist sehr viel tiefer ausgeprägt, als es in der Tradition der Cinderella- und Aschenputtel-Motive meistens der Fall ist. Denn dieser Prinz muss sich bewähren. Er muss zeigen, dass er tatsächlich prinzenfähig ist, um Aschenbrödel gewinnen zu können, und er lernt sogar: Es versteht sich nicht von selbst, dass sie ja sagt. Und dabei kommt dann etwas ins Spiel, worin man vielleicht tatsächlich einen sozialistischen Kontext erkennen könnte: Aschenbrödel wird nach dem Tod des Vaters wie eine Bedienstete behandelt, und es ist gewissermaßen das Volk, das die sich anbahnende Heirat absegnet."

Außerdem: Heute um 12 Uhr stellt Claudia Roth die neue Berlinale-Leitung vor, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Die SZ bringt die Nominierten für die Golden Globes - auch Sandra Hüller, eben mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, kann sich Hoffnungen machen.

Besprochen werden Bradley Coopers Leonard-Bernstein-Biopic "Maesto" (online nachgereicht von der SZ, unsere Kritik), Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" (Jungle World, unsere Kritik hier), Sam Esmails Netflix-Thriller "Leave the World Behind" (Standard, Presse, Tsp) und Til Schweigers "Das Beste kommt noch!" (Standard).
Archiv: Film

Kunst

Rudolf Levy, Blick auf die Bucht von Rapallo. 1933. Privatsammlung. Foto: Electa Archiv/Serge Alain Domingie.

Ganz warm wird FAZ-Kritiker Stefan Trinks in der Ausstellung "Magier der Farben" in der Pfalzgalerie Kaiserslautern, so sehr "glühen" die Farben auf den Bildern des jüdisch-deutschen Künstlers Rudolf Levy. Man würde kaum auf die Idee kommen, dass sich hinter dieser Pracht eine düstere Geschichte verbirgt, so Trinks. Levy wurde 1944 nach Ausschwitz deportiert und dort ermordet, nachdem er sich im Exil in Florenz für einige Zeit versteckt gehalten hatte, weiß Trinks. Doch die Dunkelheit hat es nicht in seine Bilder geschafft, erkennt er: "Ein 1933 entstandenes, freudvoll farbiges Bild könnte noch die Unvorhersehbarkeit des ganzen Grauens für sich reklamieren, doch halten Levys Bilder an ihrer französisch-italienischen, sprich mediterranen Palette zehn Exiljahre lang fest. Noch sein 'Atelierstillleben vor geöffneter Balkontür im Florentiner Palazzo Guadagni' von 1943 öffnet den Blick aus seinem Mal-Versteck aus leuchtend grünen Balkontürläden auf eine himmelblaue Unbegrenztheit, während ein kobaltblauer Tisch mit oranger Decke und gelbgrünen Zitronen im Rot eines Matisse-Teppichs buchstäblich schwebt, indem die Verbindung der Tischbeine zur Platte durch je einen frechen roten Pinselstrich gekappt ist."

Tazler Jochen Becker sieht bei Bologna zwei Ausstellungen, die ganz unterschiedliche Ideen von Fotografie zeigen und einen "gewissen Vorgeschmack darauf geben könnten, was einmal im geplanten Deutschen Fotoinstitut" in Düsseldorf gezeigt werden wird. In "Visual Spaces of Today" im MAST wird in einer großen Werkschau Andreas Gursky ausgestellt, die Collezione Maramotti zeigt Giulia Andreani: "Die opulenten Tafelbilder von Andreas Gursky erinnern an die Maschinen-Nähe des Fotografischen, die Grauzonen von Giulia Andreani hingegen zeigen, wie verstreut Bildquellen sein können."

Besprochen werden die Ausstellung "Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit" im Kunstmuseum Stuttgart (tsp) und die Ausstellung "101 Nudes" von Jimmy de Sana in der Galerie Meyer Riegger in Berlin (tsp).
Archiv: Kunst

Design


Pantone legt sich fest: Die Farbe des Jahres ist "Peach Fuzz": "Pfirsichflaum wirkt wie etwas, was noch sehr viel vor, zugleich schon viel hinter sich hat", schreibt Gerhard Matzig in der SZ. "Insofern passt das zur Gegenwart. Orange minus Ganges: So lässt sich der ausgerufene Farbtrend auch beschreiben - wenn man schon nicht von Lachs-, Koralle- oder Apricot-Varianten sprechen will. Die Überschrift 'Pfirsich ist die Sommerfarbe, die wir jetzt überall tragen' stammt aus der Zeitschrift Freundin und zwar aus dem Sommer 2018. Aber gut. Eh wurscht."

Besprochen wird die Ausstellung "Talking Bodies" über Körperbilder im Plakat im Museum für Gestaltung in Zürich (NZZ).
Archiv: Design
Stichwörter: Farbe, Pantone, Pfirsichflaum, Korallen