9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht explizit menschenfeindlich

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.07.2023. In der NZZ warnt der Historiker Rasim Marz vor neuen ethnischen Konflikten und der Machtausbreitung der Türkei auf dem Balkan. Die SZ ist nach den Urteilen zur Friedrich-Affäre entsetzt über die Auffassung der Gerichte vom Pressekodex. "Seit wann entscheidet der Hehler oder der Dieb, was mit dem Gut passiert?", winkt Claudia Roth in der FR Kritik an der Rückgabe der Benin-Bronzen ab. SZ und ZeitOnline hätten sich vom Rat der deutschen Rechtschreibung eine Entscheidung in Sachen Gendern gewünscht, die den Kulturkampf endlich beendet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.07.2023 finden Sie hier

Europa

"Die Krise in Bosnien-Herzegowina kann den Westbalkan wieder an den Rand eines ethnischen Konflikts führen und weitere Staaten wie Russland und die Türkei auf den Plan rufen", warnt in der NZZ der Historiker Rasim Marz. Denn das Wahlgesetz, das der Hohe Repräsentant der UNO Christian Schmidt im Oktober 2022 erließ, verleiht vor allem separatistischen Nationalisten in der Herzegowina neuen Aufwind: "So stellen die Abspaltungsversuche der Republika Srpska unter dem Serben-Führer und Moskau-Getreuen Milorad Dodik die größte Gefahr für die Zukunft Bosnien-Herzegowinas dar, doch dieser will lieber mit dem türkischen Präsidenten Erdogan als mit dem Uno-Repräsentanten Schmidt verhandeln. Dodik und die anderen politischen Vertreter trafen sich im September 2022 mit dem türkischen Präsidenten, der ihnen seine Vermittlung anbot. Die Türkei hat ihre Präsenz durch die Eröffnung von Bildungseinrichtungen, großangelegten Infrastrukturprojekten oder über die Netzwerke türkischer Unternehmer stark ausgebaut. Ankara unterhält zu den Balkanstaaten enge Verbindungen, um auch im Herzen von Mitteleuropa und an der Grenze zur Europäischen Union Einfluss ausüben zu können."

Über strukturellen Rassismus in der französischen Polizei möchte der Journalist Valentin Gendrot, der monatelang undercover recherchierte und dessen Enthüllungsbuch "Bulle" vergangenes Jahr auf Deutsch erschien, im taz-Gespräch mit Jens Uthoff nichts sagen. Das Problem seien auch eher die Kollegen, die schweigen meint er: "Die französische Polizei funktioniert wie eine Mafia. Keiner redet, niemand prangert die Verhältnisse an, es gibt eine Kultur des Schweigens, keine Transparenz." Zugleich kritisiert er die Arbeitsbedingungen: "Viele der Polizisten, die mit mir zusammenarbeiteten, kamen nicht aus Paris. Sie kamen aus kleinen Dörfern, in denen nur weiße Menschen leben. Sie kennen überhaupt keine schwarzen, keine arabischen Menschen. Ich komme auch aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Rennes, wo 2.000 Menschen leben, alles Weiße. Wenn man dann in eine Banlieue kommt und dort arbeiten soll, ist das eine Überforderung. Dazu kommt, dass die Polizei in Paris in einem schlechten Zustand ist. Schmutzige Polizeireviere, schlechte Ausstattung. Wahrlich kein Traumjob."
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Medien

Dem "Antragsteller" hätte bekannt sein müssen, dass "das vom Antragsgegner verlegte Presseerzeugnis kein sicherer 'Hafen' für ihnen anvertraute Informationen und deren Quellen" ist, heißt es in den juristischen Entscheidungen, zu denen das Landgericht Berlin und das Landgericht Hamburg in der Affäre Holger Friedrich kam (Unsere Resümees). In der SZ ist Ronen Steinke fassungslos, denn im Grunde heißt das nicht mehr als: "Der Pressekodex sei das Papier nicht wert, auf dem er stehe, in dieser ehrlosen Branche halte sich doch sowieso kaum jemand daran. O-Ton: 'Daran ändert der rechtlich ohnehin schon unverbindliche Pressekodex des Deutschen Presserats nichts.' Das wäre schon als reine Zustandsbeschreibung bemerkenswert - bemerkenswert abschätzig. Aber es ist auch mehr als eine bloße Zustandsbeschreibung. Es ist eine Herstellung einer neuen presserechtlichen Realität." Der Rechtsanwalt Christian Conrad erklärt: "'Wenn das Schule machen würde, (…) dann erschwert das die Arbeit der Presse ganz erheblich.' Die absehbare Folge wäre: Jeder Informant müsste künftig erst einmal einen ausdrücklichen Verschwiegenheitsvertrag von der Redaktion verlangen, ein 'non disclosure agreement' inklusive einer Vertragsstrafe."
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Gesellschaft

Der Rat für deutsche Rechtschreibung (Website) hat bei seiner Sitzung am gestrigen Freitag zum Thema Gendern entschieden, lieber nichts zu entscheiden. (Unser Resümee) In der SZ ist Marie Schmidt genervt, hätte sie sich doch gewünscht, dass der Rat Klarheit geschaffen und den Kulturkampf ums Gendern beendet hätte: "Die Diskussion sei kontrovers gewesen, sagte der Vorsitzende Josef Lange nach der Sitzung des Rates, die ja nun auch kaum ein Ergebnis gezeitigt hat. Das könnte man als Zeichen verstehen, dass sich der Rat ebenso blockiert zeigt wie die Gesellschaften des Westens in ihren Kulturkämpfen insgesamt." Auf ZeitOnline wäre auch Johannes Schneider für eine Entscheidung dankbar gewesen: "Eine Verbannung des Gendersterns aus öffentlich-offiziellen Schreiben hätte auch diejenigen entlastet, die ihn eigentlich befürworten. So wäre nicht jede Entscheidung eines Fachreferats zu einem Statement im Kulturkampf geworden, so hätte sich niemand beim Verfassen einer Abi-Klausur bemüßigt gefühlt, im Graubereich ein progressives Zeichen zu setzen. Keinem Menschen kann schließlich abverlangt werden, guerillamäßig am Arbeits- und Ausbildungsplatz gegen einen klar gefassten Common Sense anzugehen, der nicht explizit menschenfeindlich ist, egal als wie reaktionär und ausschließend man den auch sonst empfinden mag."

Gut so, dass keine Entscheidung getroffen wurde, meint indes Matthias Heine, der das Gendern in der Welt ohnehin für "Politjargon" hält: "Wer gendert, beurkundet damit seine Fortschrittlichkeit, seine feministische Linientreue und ganz generell die Zugehörigkeit zu jenem Lager, das bis vor Kurzem glaubte, es hätte die unbestrittene kulturelle Hegemonie errungen. Die Frage, ob Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich die beste orthografische Genderpraxis sind, ist im Grunde nur die Frage nach dem besten Parteiabzeichen des beschriebenen politischen Lagers. Darüber zu entscheiden ist nicht Aufgabe einer politisch neutralen Instanz, wie es der Rechtschreibrat sein sollte."
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Urheberrecht

Hatte Google persönliche Daten bisher "nur" für Werbekunden analysiert, werden nun auch die KI-Anwendungen des Konzerns mit den Datenschätzen "gefüttert", schreibt Andrian Kreye in der SZ. Aber: "Niemand hat zugestimmt, dass Werke, Daten und Bilder in die immensen Datensätze eingehen, mit denen künstliche Intelligenzen trainiert werden. So wird aus der Floskel, dass Daten das neue Öl sind, die Erkenntnis, dass mit KI Daten das neue Plündergut werden. (…) Eine neue Sammelklage, die am Dienstag im Namen von acht anonymen Klägern gegen Google in San Francisco eingereicht wurde, geht noch weiter. 'Vor Kurzem wurde bekannt, dass Google heimlich alles gestohlen hat, was jemals von Hunderten Millionen Amerikanern im Internet erstellt und geteilt wurde', heißt es in der Klageschrift der Kanzlei Clarkson. 'Google hat sich alle unsere persönlichen und beruflichen Informationen, unsere kreativen und urheberrechtlich geschützten Werke, unsere Fotos und sogar unsere E-Mails - praktisch die Gesamtheit unseres digitalen Fußabdrucks angeeignet - und nutzt sie zum Aufbau kommerzieller künstlicher Intelligenz."
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Kulturpolitik

Im großen FR-Interview mit Lisa Berins spricht Claudia Roth über die Kulturpolitik der AfD und die Kritik an der Rückgabe der Benin-Bronzen: "Seit wann entscheidet der Hehler oder der Dieb, was mit dem Gut passiert? Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wir werden uns dafür engagieren, dass es weiterhin öffentliche Zugänge zu den Kulturschätzen gibt. In welcher Form es sie geben wird, das entscheiden die Eigentümer." Außerdem erklärt, wie sie sicherstellen will, das BDS-Sympathisanten nicht in Entscheidungspositionen in der Kulturszene gelangen: "Gesinnungsprüfungen gehen natürlich nicht, aber wir fördern keine Veranstaltungen, auf denen für den BDS geworben wird oder in dem Ziele des BDS vertreten werden. Ich finde aber, wenn jemand vor zehn Jahren einen Satz gesagt hat, der in einem BDS-Zusammenhang war, darf das nicht dazu führen, dass diese Person nie mehr einen Job bekommt. Ich nehme es sehr, sehr ernst, dass der BDS äußerst aggressiv vorgeht gegen Künstlerinnen und Künstler und akzeptiere es nicht, dass Menschen wegen ihrer Herkunft oder Religion ausgeladen oder gar nicht erst eingeladen werden."

Spaniens Bürgermeister setzten auf immer größere Museen, gigantische Superevents und Musikfestivals - ohne Rücksicht auf Verluste, schreibt Reiner Wandler, der für die taz mit dem Humangeografen Luis Alfonso Escudero gesprochen hat: "'Bestimmte Gebiete der Städte werden so einfach dem Tourismus geopfert', sagt Escudero. Er hat die Auswirkungen des Kulturtourismus auf die Gentrifizierung und den Wettbewerb zwischen den Stadtmarken untersucht. Demnach steigen die Mieten an den betroffenen Orten unaufhörlich. Es gibt immer mehr Geschäfte, die nicht für die Bewohner da sind, während klassische Läden schließen. Die Preise in der Gastronomie steigen, Straßen und Plätze sind ständig überfüllt. Die geschaffenen Arbeitsplätze sind meist prekär und auf die Hauptsaison beschränkt. (...) 'Selbst alt eingesessene Museen wie der Prado in Madrid haben heute nicht mehr das Ziel, den Bürgern Kunst und Kultur nahe zu bringen. Es geht um Besucherrekorde, koste es, was es wolle', sagt Escudero."
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