Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
01.05.2000. Wer liebt, hat recht: Roman von Anita Lenz über einen Verrat, Erinnerungen Sandor Marais', ein Ausstellungskatalog über Sandro Boticelli als Erzähler, ein Roman von Jose Saramago und Gedichte von Anne Duden.
Wut

Manchmal sitzt man nichts Schlimmes ahnend in einer Kneipe, dann setzt sich jemand zu einem und erzählt seine Lebensgeschichte. Das ist zwei Minuten, fünf Minuten, vielleicht sogar zehn Minuten lang interessant, doch dann hat man es ganz eilig, ruft nach dem Kellner und ergreift die Flucht. Am nächsten Tag fallen einem ein paar Sätze aus den Erzählungen des Unbekannten wieder ein und man wüsste es gerne genauer, hadert mit der eigenen Ungeduld und stellt wieder einmal fest: nie ist man neugierig genug. Ganz ähnlich geht es einem mit "Wer liebt, hat Recht" von Anita Lenz. Die Autorin schildert darin, wie sie auf die Nachricht reagiert, dass ihr Mann mit einer Geliebten einen Sohn hat.

Es gibt keine zwei Zentimeter Abstand zwischen der angeblichen Roman-Heldin und der Autorin. Das Buch gehört zu jenem Genre, das in den Suhrkamp-Lobreden vor 14 Tagen, obwohl eine Unzahl der Edition-Bände damit gefüllt waren, aus gutem Grund nicht angesprochen wurde: die Selbsterlebensbeschreibung. Sie war unter dem Stichwort "neue Subjektivität" in den siebziger Jahren ein paar Augenblicke lang Mode. Heute dagegen sind Distanz, Ironie, Leichtigkeit gefragt. Damit hat Anita Lenz nichts zu tun. Sie schüttet ihr Herz aus, ihre Empörung, ihre Wut. Das nervt. Niemand wird dieses Buch lesen, ohne es dreimal in die Ecke geworfen zu haben. Aber er tut gut daran, es wieder hervorzukramen und weiter darin zu lesen. Er kann so eine Stimme hören, vor der er sonst kilometerweit fliehen würde. Das ist ja auch eine Funktion der Literatur. Sie ist ein Medium, im dem wir - manchmal sogar gerne - die Erfahrungen machen, die im Leben zu machen wir uns weigern.

Ein solches Buch literarisch zu betrachten, ist völlig unsinnig. Genauso gut könnte man die Suada einer Patientin, die im Wartezimmer neben einem sitzt und ihre Krankengeschichte erzählt, daraufhin überprüfen, ob sie den Regeln ciceronischer Rhetorik gehorcht. Sie tut es nicht. Die Sprache dient in beiden Fällen nur scheinbar der Mitteilung. In Wahrheit dient sie als Therapeuticum. Schreiberin wie Sprecherin streicheln sich mit ihren Worten, sie wiederholen immer wieder, was ihnen widerfahren ist. Sie wiederholen es in immer gleichen Wendungen. Die legen sie wie schützende Polster auf die Wunden. Sie balsamieren sich ein. Wir Leser oder Zuhörer werden zu Zeugen gemacht. Die Patientin braucht diesen Zeugen wie die Autorin ihn braucht. Aber sie braucht nicht seine Reaktion. Sie braucht einen Abnehmer. Ohne ihn würde sie die Geschichte nicht erzählen. Hat sie sie erzählt, ist sie sie los. Wenigstens für den kurzen Moment bis sie sie wieder erzählen muss. Der Zuhörer flieht, der Leser auch. Aber nur wer zuhört, lernt. Er lernt nicht nur, was ihm erzählt wird, er lernt auch, wie schwierig es ist, zu sagen, was einen bewegt, und er lernt zuhören. Wem das ein wenig zuviel ist, der hat unser aller Verständnis - sicher auch das der Autorin.

Anita Lenz: "Wer liebt, hat Recht". Die Geschichte eines Verrats. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, ISBN 3-462-02949-5, Taschenbuch, 185 Seiten, 16,90 Mark


Rührung und Terror

Es sind keine Memoiren, es sind - wie der Untertitel ganz richtig sagt - Erinnerungen. Sandor Marai sitzt im amerikanischen Exil und versucht möglichst ruhig sich und seinen Lesern zu vergegenwärtigen, wie er den Einmarsch der Russen in Ungarn erlebte. Er tut es mit dem Blick für das einprägsame Detail, dem man sich sofort anvertraut, demgegenüber aber gerade darum äußerste Vorsicht angebracht ist. Eines Morgens übernimmt ein russischer Konvoi Marais Haus und Hof. In wenigen Stunden haben die Soldaten eine Reparaturwerkstatt für ihre Fahrzeuge und das Kriegsmaterial eingerichtet. Vierzehn Tage bleiben sie dort. In dieser Zeit haben sie alles zerstört. Nicht weil sie es wollten, sondern, weil sie, wenn sie zum Beispiel ein Brett brauchten, es aus einer Tür herausbrachen, statt sich ein neues zuzuschneiden.

Marai schildert die Brutalität, mit der Dinge zerstört werden, ohne Empörung. Er schildert aber nicht um des Schilderns willen, sondern er schildert, als würde er fragen. Er versteht die russischen Soldaten nicht. Die Tür, die sie zerbrechen, schützt sie nicht mehr vor dem Nachtwind. Der Leser fragt sich, sind alle Soldaten so? Ist das der Krieg? Am Ende denkt er: Mit dem Krieg hat das nichts zu tun. So wie die sowjetischen Soldaten über Marais Ferienhäuschen herfielen, so haben sie ihr eigenes Land zerstört. Vielleicht darum, weil es eben - entgegen der Propaganda - nicht ihr eigenes war. Sandor Marai agitiert nicht. Er stellt nicht einmal Überlegungen in dieser Richtung an, aber seine Erinnerungen drängen sie dem Leser auf. Der Leser zieht sich mit seinen Gedanken immer wieder aus dem Buch zurück, macht sich selbständig. Kann man etwas Besseres von einem Buch sagen?

Der erste Gedanke des Lesers lautet: Ein Eigentum aller gibt es nicht. Wenn etwas eigen ist, ist es einem anderen eben nicht eigen. Dann drängt sich ein anderer Gedanke auf: Es gibt nur wenig Menschen, die sich überhaupt um etwas kümmern. Die meisten haben Schwierigkeiten, ihre eigenen vier Wände in Ordnung zu halten. Diejenigen aber, die etwas pflegen, das ihnen nicht gehört, sind eine so verschwindend kleine Minderheit, dass die Vorstellung, auf sie gestützt ließe sich eine neue Welt aufbauen, etwas Rührendes hätte, wenn man nicht wüßte, wie schnell sie in Terror umschlägt.

Sandor Marais Welt zerfällt in kleine Momentaufnahmen. Es gibt keinen erzählerischen Fluß, keine Panoramablicke, sondern prägnante Augenblicke. Einer der großartigsten ist die Beschreibung, wie ein jüdischer Polizeioffizier im teuersten Budapester Nachkriegsrestaurant seine Machtposition genießt und sich zur Krönung seines Besuches von Zigeunern schmachtend vorspielen läßt "Wie schön Du bist, wie wunderschön, Ungarn". Der Schilderung folgt eine kurze Reflexion: Dieser Szene vorausgehen "mussten Hitler und Auschwitz. Vorausgehen musste der Tod von Millionen junger Amerikaner, Engländer und Russen auf den Kriegsschauplätzen Europas, Afrikas, Asiens. Vorausgehen musste das Zerbrechen einer Großmacht, des Deutschen Reiches, und in dem kleinen Land Ungarn der Untergang einer Gesellschaftsordnung samt ihrer Ideologie. Das alles musste vorausgehen, damit dieser Mann sich endlich im Emke von Zigeunern ein irredentistisches Kunstlied voller falscher Sentimentalität vorspielen lassen konnte." Sandor Marai hätte auf diese Erklärung verzichten können. Seine Schilderung der Szene war deutlich genug. Das Merkwürdige ist, dass sein Kommentar erst die Szene verkitscht. Er erst schießt dem Leser jenen Schauder über den Rücken, bei dem sich die Haare aufstellen. Man mag peinlich berührt sein. Aber man ist berührt.

Sandor Marai: "Land, Land". Erinnerungen. Band 1 und Band 2. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki, herausgegeben von Siegfried Heinrichs, Oberbaum Verlag, Berlin 2000, zusammen 382 Seiten, je 38 Mark.


Auf der Flucht

Ostern vor siebenhundert Jahren begann der Florentiner Dante Alighieri mit der Arbeit an seiner später so benannten "Göttlichen Komödie". Vergangenen Samstag wurde im Berliner Kupferstichkabinett eine Ausstellung mit den Skizzen von Sandro Botticelli zu Dantes Gedicht eröffnet. Auf sie werde ich nicht eingehen. Nur einige meinen Dilettantismus verratende Bemerkungen seien mir gestattet. Neben Dantes Texten wirken Botticellis Skizzen höfisch, harmlos. Beim Schlendern durch die Ausstellung fällt einem George Bernhard Shaw ein, der davon sprach, dass im Himmel die bessere Luft sein mag, aber in der Hölle ganz sicher die bessere Gesellschaft. Langweiligeres als Botticellis Paradies-Illustrationen ist selten konzipiert worden. Zwei Personen mal so mal so von Flämmchen umgeben. Der Betrachter sehnt sich spätestens nach dem dritten Blatt zurück in die Hölle. Ekstatische Verse lassen sich offenbar schlecht elegant bebildern.

Beim Wiederbetrachten der Inferno-Skizzen, vor allem aber bei der Lektüre der Texte, die sie illustrieren sollten, drängt sich dem Betrachter des 20. Jahrhunderts - er wird es nicht mehr schaffen, wirklich zu einem des 21. Jahrhunderts zu werden - ein Gedanke auf: die Unterscheidung von Freund und Feind. Zehn Jahre arbeitete Dante an den vierzehntausend Versen des Gedichts. Zehn Jahre, in denen er sein immenses Talent, seine Begeisterungsfähigkeit, seinen Verstand und seine Empfindlichkeit ganz in den Dienst einer einzigen Leidenschaft stellte: Richter zu spielen. Der Florentiner hatte sich gegen die Versuche des Papstes gewandt, sich in florentinische Politik einzumischen. Er war gescheitert, war ein zum Tode verurteilter Emigrant, der zunächst Kaiser Heinrich dem VII folgte, nach dessen Tod nach Lucca und endlich nach Ravenna zog, wo er starb.

Im Leben war er der Verfolgte, in seiner Phantasie aber holte er mächtig auf. Da fühlte er sich berufen zu richten die Lebendigen und die Toten. Die Göttliche Komödie ist nichts anderes als Dantes Jüngstes Gericht. Der Dichter als Weltenrichter. Ein Machttraum. Ein Machtrausch. Keine Folter, die er seinen Gegnern ersparte, kein Spiess, den er nicht wollüstig hineinstiesse in das Fleisch seiner Feinde, kein Scheiterhaufen, auf den er nicht geworfen hätte, wer ihm in die Quere kam. Dante war kein Freund von Allgemeinheiten. Er malte die Qualen die Hölle mit der Freude am Detail aus, die seit jeher eine bestimmte Art der Frömmigkeit auszeichnete und wohl immer auszeichnen wird, und er gab den Übeltätern nicht nur die Namen ihrer Taten: Dieb, Verräter, Mörder. Er nannte sie auch mit ihren bürgerlichen Namen: Vanni Fucci, Agnello Brunelleschi, Guido de Montefeltre.
Er schickte sogar Menschen in seine Hölle, die noch lebten. Zum Beispiel den Genueser Adligen Branca Doria. Der, läßt sich der Dichter erklären und erklärt so uns, sei in Wirklichkeit schon tot und verdammt, auf der Erde treibe nur noch seine leere Hülle ihr Unwesen. Dantes Urteilswut verschonte nichts und niemanden. Was so gerne als des Autors Universalismus gesehen wird, war nichts anderes als der verzweifelte Versuch eines Fliehenden, sich klar zu werden über seine Verfolger und zu erkennen, wo er Schutz finden konnte. Zuhause und in der Fremde, in der Gegenwart und in der Vergangenheit.

Wer ist mein Feind? Wer ist mein Freund? Wenn das die spezifisch politische Unterscheidung ist, dann hat nie ein politischerer Autor gelebt als Dante. Aber Dante analysierte nicht, er delirierte. Dante lebte einen Wahn. Nicht nur den furor poeticus, sondern auch die Raserei dessen, der glaubt, die ganze Welt im Griff haben zu müssen, um vor ihr sicher zu sein. Dante tat das in zierlichen Terzinen, die in Italien jahrhundertelang als die schönste überhaupt mögliche Poesie galten. Die Kunst schlägt auch - vielleicht aber weniger auch als gerade - aus dem Schrecklichsten noch ästhetischen Mehrwert. Man hat es ihr von jeher vorgeworfen und sie doch immer gerade auch darum geliebt.

"Sandro Botticelli als Erzähler". Der Bilderzyklus zur Göttlichen Komödie von Dante. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2000.
Katalog zur Ausstellung im Kupferstichkabinett in Berlin, Matthäikirchplatz 6,
15. April bis 18. Juni, Di-Fr. 10-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr.
Der Katalog hat 390 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, ist gebunden und kostet im Buchhandel 128 Mark, in der Ausstellung 59 Mark.
ISBN 3 7757 0921 5 (Buchhandelsausgabe) und ISBN 3 88609 241 0 (Museumsausgabe)


Besessen

Es gibt Bücher, die liest man gerne, aber nach fünfzig Seiten legt man sie doch bei Seite und denkt sich: er macht es schön, er macht es gut, ich lese jeden Satz gern, aber er fesselt mich nicht. Ich weiß, es werden weiter schöne Beschreibungen, witzige Reflexionen kommen, aber ich kenne den Dreh. So ein Buch war "Alle Namen" des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers für mich. Drei Tage und Nächte lang. Dann hielt ich es nicht mehr aus und griff wieder nach dem grünen Band. Saramago hatte mich süchtig gemacht.

Ein Angestellter des zentralen Personenstandsregisters beginnt sich für eine der von ihm betreuten Karteikarten zu interessieren. Er geht der Person nach, versucht alles über sie herauszufinden, was sich in Erfahrung bringen läßt. Er wird auffällig, kollidiert mit der Büroordnung, mit seinen Gewohnheiten. Nichts langweilt so wie Bürokratie. Kaum etwas aber fasziniert so wie Besessenheit und wer ist besessener als ein echter Bürokrat? Einer, der ausserdem noch ängstlich jeden Schritt, bevor er ihn tut, abwägt und nachdem er ihn getan hat, begutachtet?

Saramago zieht den Leser sadistisch in die verrückten Gedanken und Bemühungen seines Helden. Am Ende genießt der Leser die bürokratische Umständlichkeit der Reflexionen des Helden nicht weniger als dessen hilflose Versuche, seine Besessenheit, seine Fixierung auf diesen einen Name, auf den er auf einer Karteikarte stieß und den er am Ende auf einem Kreuz auf dem Friedhof wieder findet. Jose Saramgo gelingt das Kunststück, die Neugierde des Lesers wach zu halten, obwohl längst klar ist, was geschehen oder besser nicht geschehen wird. Der Leser interessiert sich weniger für Saramagos Helden als für die Geschicklichkeit, mit der der Autor unser Interesse an ihm wachhält. Eine Konstellation, die sich nur raffiniert kalkuliert anhört, beim Lesen aber unmittelbar den Nerv trifft.

Jose Saramago, "Alle Namen". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. Gebunden, 314 Seiten, 42,00 DM.


Besserwisser

Wer recht hat, macht sich unbeliebt. Wer immer recht hat, ist immer unbeliebt. Diese Einsicht ist eine der elementaren Weisheiten, die zwar dem Lehrplan widersprechen, die wir aber doch schon in der Schule gelernt haben. Der klassische Typus des Primus war ein solcher unangenehmer Rechthaber. Was er sagte, stimmte. Es gab kein Argument gegen ihn. Das verziehen wir ihm nie. In der derzeitigen Parteiendebatte nimmt der Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Bestseller-Autor Hans Herbert von Arnim, die Primus-Position ein. Er tut das - das macht ihn nicht sympathischer - mit Begeisterung. In seinem neuesten Buch plädiert er für stärke Bürgerbeteiligung und für mehr Föderalismus.

Die Kapitel tragen Titel wie Schlagzeilen: "Deutschland im Umbruch", "Wer den Staat beherrscht und warum", "In schlechter Verfassung: die Länder". Ein ständiges Trommelschlagen. Aber wer erwartet, die Frage "Wer den Staat beherrscht und warum" auf sechs Seiten beantwortet zu finden? Enttäuscht ist nur der Dumme, der, der sich hat täuschen lassen. Arnim mag nicht die von ihm aufgeworfenen Fragen beantworten, aber er stellt - freilich nicht zum ersten Mal - zentrale Probleme in einer in Deutschland ganz ungewohnten Drastik dar.

Im genannten Kapitel zum Beispiel geht es ihm vor allem um einen Punkt: die in den Parteien organisierten Politiker kämpfen, wie es ihre Aufgabe ist, gegeneinander um die Macht, gleichzeitig aber schliessen sie sich zu einem gemeinsamen Kartell zusammen, wenn es um ihre Versorgungsinteressen geht. Es ist also ganz falsch, davon aus zu gehen, die Auseinandersetzung zwischen den Parteien garantiere gegenseitige Kontrolle. Eine Parteiendemokratie ist keine Demokratie. Von Arnim macht das wieder einmal sehr deutlich, und dafür ist man dankbar und ist ihm wieder einmal böse, weil er wieder einmal recht hatte. Trotz seines rechthaberischen Tons. Wer sich an dem nicht stört, der wird das Buch gerne lesen. Es füttert den Zorn, den einen jeden befällt, der nicht einsieht, warum die, die die Macht haben, auch noch glauben Anspruch auf Hochmut und Selbstgerechtigkeit zu haben. Es füttert den Zorn mit Zahlen und Fakten. Von Arnim bleibt nicht bei der Analyse stehen. Er ist wirklich ein Besserwisser. Er macht Vorschläge für die Einführung plebiszitärer Elemente. "Direkte Demokratie" ist sein Stichwort. Es wäre gut, man griffe es auf. Der Primus, man darf das nicht vergessen, ist zwar unsympathisch, aber meistens hat er recht.

Hans Herbert von Arnim, "Vom schönen Schein der Demokratie". Politik ohne Verantwortung - am Volk vorbei, Droemer Verlag, München 2000. Gebunden, 391 Seiten, 44,90 Mark


Geld

Vor dreißig Jahren war der Orgasmus, erst der männliche, dann der weibliche, das Lieblingsthema. Heute ist er megaout. Heute macht Geld sinnlich. Aktienkurse lassen die Herzen auch in den schönsten Busen schneller schlagen. Kein Wunder, dass sich auch die Künstler immer mehr des lieben Geldes annehmen. Nicht mehr allein auf ihrem Konto oder nur kritisch oder parodistisch im Werk, sondern liebevoll und mit einer Zärtlichkeit, die verblüfft, wenn man sich die Situation von vor ein paar Jahren in Erinnerung ruft.

Susanne Bosch zum Beispiel verbindet das kulturell Wertvolle mit dem ökonomisch nützlichen. Sie sammelt Pfennige und sucht noch nach einem Zweck. Über das Geld und was damit zu tun ist, informiert sie auf der Webside: www.restpfennig.de.

Jeder kann Vorschläge machen. Es melden sich natürlich die üblichen Verdächtigen: die Retter des Regenwaldes, die Stftungsgründer und die Bekämpfer der Arbeitslosigkeit, aber auch frivolere Geister, die die Pfennige in Acryl packen und der Bundesbank zurückgeben wollen. Am besten gefallen hat mir und wahrscheinlich auch der Künstlerin der Vorschlag von Claudia Röhm aus Berlin: Susanne Bosch solle das Geld einfach behalten.

Was Künstler sonst noch alles anstellen mit Geld, darüber informiert der Band 149 von "Kunstforum International". Timm Ulrichs legendärer ྀer Beitrag zur Ästhetik des Verschwindens, bei dem er in zwanzig Schritten durch bloßen Währungswechsel einhundert Mark auf sechs reduzierte, wird ebenso dokumentiert wie Andy Warhols "Dollar Bills" oder die vielen Glaskästen, in denen die unterschiedlichsten Künstler immer geschreddertes Geld ausstellten. Franz Gratwohl tat es mit angeblich 220 Millionen Franken. Bei solchen Zahlen wird beim Zuschauer ein Kapital an Phantasie mobilisiert, das dem Künstler jede weitere Arbeit abnimmt. Popfarbene Sparschweine versammelt Horst M. Jaritz auf einem Leuchtpult und nennt die beeindruckende Assemblage: "Die Marktlage scheint günstig, ein Schaubild". Daneben, wie im Kunstforum nicht anders zu erwarten, Essays und Interviews.

Jede Menge übers und fürs Geld. Kunstforum International, Band 149, 490 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, 34,80 DM.


Schmerzen

Anne Dudens Texte gehören zu den intensivsten der deutschen Gegenwartsliteratur. Kein Wunder, dass sie nur wenige Leser finden. Wer möchte, dass es ihm wehtut, wenn er von Schmerzen liest. Es macht doch den Reiz der Lektüre aus, dass man mit ihr das Schlimmste durchmachen und einem doch nichts passieren kann. Natürlich schneiden auch Anne Dudens Worte nicht ins Fleisch, aber manchmal täuschen sie unsere Wahrnehmung, und das zentrale Nervensystem scheint sich zu vertun und hält, was nichts ist als eine Wortmeldung für eine Nachricht der Zellen selbst. Das ist vielen zu viel. Andere wieder - vielleicht sind sie gerade nicht die Sensibleren, für die sie sich halten - schätzen Anne Duden gerade darum. Sie genießen den Schauder, den Schrecken über die Gewalt, die plötzlich ausschlägt aus ihren Texten wie sie manchmal ausbricht aus einem Menschen, von dem wir das nie gedacht.

In "Zungengewahrsam" schreibt die Autorin vor allem über das Schreiben. Über ihr Schreiben. Man lese die ersten Sätze und man weiss, ob man den nächsten verfallen wird oder ob es einem zu viel ist, zu anstrengend, zu fordernd. "Auch das Schreiben ist ein Gewaltakt. Oft genug zumindest ist es ein gewaltgeladener Auftakt. Auftakt zum Text, den dann, später, auch wenn er es in sich hat, mit all dem nichts mehr verbindet. Der Text ist der Text, das Gewordene, anders Gewordene. Die Verbindung ist gekappt, die Nabelschnur zerschnitten. Der Text atmet allein, von sich aus." Diese spröde Verbindung von Abstraktion und Sinnlichkeit macht den Reiz von Dudens Prosa aus. Mit "atmet allein" würde der Satz sehr beeindruckend aushauchen, aber sie hat Angst missverstanden zu werden und schiebt das papierene "von sich aus" nach. Schade. Oder? Vielleicht aber wirkt das "atmet allein" gerade deshalb so stark, weil es eingebettet ist in die Schlacke der Abstraktion.

Anne Duden: "Zungengewahrsam" . Kleine Schriften zur Poetik und zur Kunst. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. Gebunden, 144 Seiten, 38,00 DM