Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
20.03.2006. Unser Autor folgt der Diskussion zwischen Mozart und dem Zauberflöten-Berater Karl Ludwig Giesecke, bewundert die Stachelei Heines, beobachtet den angekündigten Selbstmord einer Mutter und entdeckt die Unschärferelation in der Schmerzwahrnehmung.
Lesen und aufführen - jetzt!

Auf der allerletzten Seite steht es, versteckt zwischen dem Verbot, dieses Werk in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags zu reproduzieren, und dem Hinweis, dass es sich bei der verwendeten Schrift um eine Minion handelt. Dort also, im Paratext für Rechtsanwälte, Setzer und Drucker, steht: "Die Erzählung erschien erstmals 1983 im Buchverlag Der Morgen, Berlin". Wer Friedrich Dieckmanns Mozart-Erzählung "Orpheus, eingeweiht" liest, der wird sie mögen. Ihr altmodisches Deutsch, die Verve, mit der der Dramaturg Friedrich Dieckmann die Rolle des Zauberflöten-Beraters Karl Ludwig Giesecke einnimmt, sind aus so viel Interesse erwachsen - das steckt an. Der Leser, der nie verstanden hatte, ob die Königin der Nacht, ob Sarastro gut oder böse waren, weiß jetzt, dass es nicht seine Dummheit war, sondern dass man sich auf angenehmst intelligente Weise darüber streiten kann, woran es liegt, und er wird der Auseinandersetzung Mozarts und Gieseckes folgen, bis er das kleine Buch zu Ende gelesen hat. Danach wird er noch lange darüber nachdenken, wie politisch das Zauberspiel gemeint war. Das Dieckmanns und das Mozarts.

Ihm ist auch sofort bei der Lektüre klar, dass, wenn Mozart und Giesecke über die Freimaurer sprechen und deren Anspruch, genau zu wissen, was der Welt und den sie bewohnenden Menschen gut tut, der Autor Friedrich Dieckmann noch eine ganz andere Avantgarde im Auge hat. So schön der Text für sich auch ist, seinen Glanz bezieht er aus seiner Doppelbödigkeit. Es ist ein nächtliches Gespräch, geführt im Juni 1791 zwischen Komponist und Dramaturg darüber, wie man die schwierige Komposition der Zauberflöte retten kann, es ist aber auch ein Dialog über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer vernünftigen Einrichtung der Welt. Das macht den Zauber dieses Textes aus. Ein melancholischer Zauber, das Produkt einer traurig gewordenen Weisheit.

Dennoch macht die Erzählung den Leser fröhlich. Denn er weiß, was deren Protagonisten nur hoffen: die Oper wird schön werden, sie wird vollendet sein gerade in ihrer Brüchigkeit. Gut oder böse? Das ist keine wichtige Frage mehr. Der Dramaturg weiß, dass die Geschichten so wenig eine Moral haben wie die Geschichte. Sie brauchen die Guten wie die Bösen. Das ist nichts, worüber man sich freuen, nichts, was einem Hoffnung machen könnte, aber so ist es. Man braucht Mut, das zu sehen, und vielleicht braucht man noch mehr Mut, es zu zeigen. Friedrich Dieckmann hat diesen Mut. Er hatte ihn aber schon 1983, und es wäre gut gewesen, das in dieser neuen Ausgabe deutlich zu machen. Die Staatsoper unter den Linden könnte eine schöne Matinee machen mit einer Lesung der Erzählung. Sie spielt in Wien, was läge da näher, als dass die Wiener Staatsoper dasselbe täte? Im Mozartjahr.

Friedrich Dieckmann: "Orpheus, eingeweiht". Eine Mozart-Erzählung. Insel Verlag, Frankfurt/Main, Leipzig 2005. 78 Seiten, gebunden,11,80 Euro. ISBN 3458192743. Bestellen.


Kommentare machen schön

Am 17. Februar ist Heinrich Heines 150. Todestag. Die Verlage haben in die Archive gegriffen und Heines "Sämtliche Gedichte" herausgebracht. Bei Insel gibt es eine in schönes blaues Leinen gebundene Ausgabe für nur 12 Euro, herausgegeben von Klaus Briegleb, dem Literaturhistoriker und Kurator einer Heine-Gesamtausgabe. Sie ist mein erster Griff. Ich lese gerne darin. Die Gedichte sind chronologisch geordnet, so dass ich der Illusion erliege, einem Lebenslauf zu folgen. So fällt mir auf, was mir noch nie aufgefallen war: die große Rolle von Bildbeschreibungen in Heines Gedichten. Das allererste beschreibt ein Gemälde, das einen Vater zeigt, der dem zukünftigen Schwiegersohn den Brautschatz vorzählt, und im letzten Gedicht Heines wird ein antiker Sarkophag beschrieben. Aber schon hier zeigt sich die zentrale Schwäche der Brieglebschen Ausgabe. Sie hat keinen Kommentar.

In der von Erhard Weidl bei Artemis und Winkler erschienenen Ausgabe "Sämtlicher Gedichte" steht zu Heines frühestem Gedicht: "nach einer Angabe Gustav Karpeles' unter ein Bild geschrieben mit dem Datum Düsseldorf 1812". In der bei Reclam erschienenen von Bernd Kortländer - Leiter des Heinrich Heine Archivs in Düsseldorf - betreuten Ausgabe "Sämtlicher Gedichte" suche ich dieses früheste Gedicht freilich vergeblich. Je mehr ich in den drei Bänden blättere, desto mehr wird mir klar, dass so schön die Brieglebsche Ausgabe ist, die Kommentare der anderen doch so viel Vergnügen machen, dass ich auf sie nicht verzichten möchte. Wer einmal eine kommentierte Ausgabe benutzt hat, der versteht nicht, wie man weiter unkommentierte in die Welt setzen kann. Man kann den Text auch in einer kommentierten Ausgabe ganz unvoreingenommen lesen. Man muss nicht hinten nachschlagen. Aber wenn man es tut, ist man nicht nur schlauer - auch das ist ja nicht gering zu schätzen -, sondern man hat an manchen Gedichten sehr viel mehr Freude.

Zum Beispiel "Der weiße Elefant" aus dem Jahre 1853. Ein mehrere Seiten einnehmendes Gedicht, das sicher nicht zu Heines stärksten gehört. Hier ist jenes Geklapper, von dem Kortländer im Nachwort zu seiner Ausgabe spricht, besonders deutlich zu hören. Ich durchblättere darum das Gedicht mehr, als dass ich es lese. Als ich durch die Lektüre des Kommentars erfahre, dass es ein Spaßgedicht auf die Gräfin Kalergi und ihre Auftritte in der Pariser Boheme ist, da lese ich es doch mit anderen, mit sehr bewundernden Augen. Weidls ausführlicher Kommentar in der Winkler-Ausgabe lautet: "Heine bezeichnete dieses Gedicht in seinem Brief vom 15.10 1851 an Campe als 'Spaßgedicht, auf eine wohlbekannte Dame des hiesigen Hofes, nämlich auf die Gräfin Kalergi, das gewiß hier viel Aufsehen machen wird.' Nach einem Bericht von Caroline Jaubert ("Heine-Erinnerungen") war Gräfin Kalergi, Nichte des Grafen von Nesselrode, in den ersten Jahren des Kaiserreichs eine 'sehr gefeierte russische Schönheit', die sich in den Kopf gesetzt hatte. 'alle Berühmtheiten kennen zu lernen', auch Heine.

Theophile Gautier hatte in einem Preisgedicht die blendende Hautfarbe dieser nordischen Schönheit unter dem Titel 'Symphonie en blanc majeur' gerühmt, und als dieses Gedicht rezitiert wurde, wurde die Gräfin bei Heine vorgelassen. Anschließend soll Heine gespöttelt haben: 'Das ist ja keine Frau, liebe Freundin, die sie mir zugeführt haben; das ist ein Monument, eine Kathedrale des Gottes Amor.'" Mit diesem Kommentar im Hinterkopf lesen Heines Gedichtzeilen sich ganz anders. Die Ungeniertheit, mit der er über Tagesgrößen herfällt, die Lässigkeit, mit der er kleine Invektiven Vers für Vers aus den Ärmeln purzeln lässt, das Geklapper also, wenn man so will, erscheint nicht mehr als dichterisches Unvermögen, sondern als zusätzliche Stachelei. Das Geklapper sagt: für Dich gebe ich mir keine Mühe. Das ist schon sehr unverfroren. Und dadurch sehr schön. Ohne den Kommentar aber, hätte der heutige Leser die aktuelle Schärfe, den Hauptreiz des Gedichts also, gar nicht wahrgenommen.

Das Internet wiederum hilft einem mit einem Klick zu dem Gautier-Gedicht und schon hat man über einem Text, den man früher in zwei, drei Minuten überblätterte, sehr genussreiche zwei Stunden verbracht. Wer freilich noch ein wenig weiter geht und sich nach der Gräfin erkundigt, der erfährt, dass die Frau, die Gautier anhimmelte und die Heine bespöttelte - sie war eine Blondine von etwa 180 Zentimetern und muss auf die kleinen Herren gewirkt haben wie Anita Ekberg auf die Römer der Via Veneto - auch die war, der Richard Wagner die Buchausgabe seiner antisemitischen Kampfschrift "Das Judentum in der Musik" widmete.

Heinrich Heine: "Sämtliche Gedichte". Herausgegeben von Klaus Briegleb. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2005. 704 Seiten, 12 Euro. ISBN 3458172750. Bestellen.
Heinrich Heine: "Auf Flügeln des Gesanges". Sämtliche Gedichte. Herausgegeben von Erhard Weidl. Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2003. 1016 Seiten, gebunden, 29,90 Euro. ISBN 3538069581. Bestellen.
Heinrich Heine: "Sämtliche Gedichte". Herausgegeben von Bernd Kortländer. Reclam, Stuttgart 1997. 1117 Seiten, Lesefädchen, gebunden, 24,90 Euro. ISBN 3150522552. Bestellen.


Die letzte Lektion

Den ersten Satz: "Am 17. Oktober ist es soweit", sagt die Mutter im Juli zu ihren Kindern. Sie meint damit: Am 17. Oktober werde ich mich umbringen. Das Buch schildert, wie die Kinder merken, dass sie es nicht ertragen, den Termin zu kennen. Die Mutter ändert den Termin und teilt den neuen den Kindern nicht mit. Aber alle wissen jetzt, dass die Mutter fest entschlossen ist, ihrem Leben ein Ende zu machen. Noelle Chatelets "Die letzte Lektion" ist kein Roman, sondern eine Schilderung ihrer letzten Monate mit ihrer Mutter. Ein ergreifendes Buch. Obwohl Noelle Chatelet es ein wenig gar zu sehr darauf angelegt hat, ein ergreifendes Buch zu schreiben. Man spürt die Absicht, man ist verstimmt, aber man kann sich dennoch nicht wehren. In diesem Buch wird nicht über die Berechtigung eines selbstbestimmten Todes diskutiert. Für alle Beteiligten versteht es sich von selbst, dass wem die Verfassung erlaubt, über sein Leben zu bestimmen, dass der auch das Recht hat, dessen Ende festzulegen. Insofern ist es ein Buch aus einer fernen stoischen Vergangenheit und einer nur noch ein paar Zentimeter medizinischen Fortschritts entfernten Zukunft.

Chatelets Mutter ist 92 Jahre alt. Sie liegt nicht Unsinn faselnd, bettnässend auf einer Todesstation. Sie geht aus, sie liest, sie diskutiert. Aber sie spürt, wie sie schwächer wird, wie ihr Konzentrationsvermögen nachlässt. Sie muss aufhören Auto zu fahren. Sie muss sich beim Gehen immer mal wieder stützen lassen. Sie will aber nicht abhängig sein von anderen. Sie möchte nicht ihren Kindern zur Last fallen. Also bringt sie sich um. Mehr als von der Mutter handelt das Buch von der Tochter, Noelle Chatelet, der es nicht schwer fällt, ihre Mutter zu verstehen. Sie begreift sehr wohl, dass ihre Mutter keine Lust hat, ein Pflegefall zu werden, dass sie nicht einsieht, warum sie diese Erniedrigungen auf sich nehmen soll, aber es geht hier eben nicht darum, was man versteht, was der Verstand begreift, sondern es geht darum, was man fühlt. Es dauert sehr lange, bis Noelle Chatelet nicht nur begreift, sondern auch empfindet, dass das Leben ihrer Mutter zu Ende ist.

Es ist die letzte Lektion, die ihr ihre Mutter - unter großen Mühen, aber immer lächelnd (das ist der Kitschfaktor dieses Buches) - beibringt. Wenn jemand stirbt, muss man sich nur damit abfinden. Bringt sich aber jemand um, dann muss man sich damit abfinden, dass er den Tod nicht nur dem Leben, sondern auch dem Zusammenleben vorgezogen hat. Das verlangt mehr Einsicht, aber auch mehr Liebe. Von den Schwierigkeiten dieser letzten Liebe erzählt dieses Buch.

Noelle Chatelet: "Die letzte Lektion". Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 153 Seiten, gebunden, 16,90 Euro. ISBN 3462036114.
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Schmerzwahrnehmung

Wilfried F. Schoeller hat aus der von der amerikanischen Besatzungsmacht in München zwischen 1945 und 1955 herausgegebenen Tageszeitung Neue Zeitung ein umfangreiches, erhellendes und darum auch Vergnügen bereitendes Lesebuch zusammengestellt. Ich stieß darin auf einen offenen Brief, den Hermann Hesse Ende April 1946 in der in Basel erscheinenden National-Zeitung veröffentlicht hatte, den der Aufbau in New York nachdruckte, woraus die Neue Zeitung ihn dann übernahm. Er ist eine Antwort auf einen Brief der damals noch unbekannten Luise Rinser. Hesse setzt sich darin stellvertretend mit den Briefen auseinander, die ihn nach der Niederlage Dritten Reiches aus Deutschland erreichen: "Nicht einer von ihnen schreibt, er bereue, er sehe die Dinge jetzt anders, er sei verblendet gewesen. Und auch nicht einer schreibt, er sei Nazi gewesen und werde es bleiben, er bereue nichts, er stehe zu seiner Sache."

"Ein Industrieller und Familienvater, mit Doktortitel und guter Bildung" fragt Hesse, "was denn ein gut gesinnter anständiger Deutscher in den Hitlerjahren hätte tun sollen? Nichts habe er verhindern, nichts gegen Hitler tun können, denn das wäre Wahnsinn gewesen, es hätte ihn Brot und Freiheit gekostet, und am Ende noch das Leben. Ich - meint Hesse - konnte nur antworten: die Verwüstung von Polen und Russland, das Belagern und dann das irrsinnige Halten von Stalingrad bis zum Ende seien vermutlich auch nicht ganz ungefährlich gewesen, und doch hätten die Deutschen es mit Hingabe getan."

Ich erschrak, als ich diese Zeilen las. Ich hatte sie Ende der sechziger Jahre meinem Vater an den Kopf geworfen. Ich wusste wohl damals schon nicht mehr, von wem ich sie hatte. Wer in dem Band weiter blättert, stößt danach auf Alfred Anderschs berühmten Text über die europäische Jugend. Eine heute eher unangenehm berührende Lektüre. Andersch spricht davon, dass die gerade erst aus dem Krieg heimgekehrte Jugend eine sozialistische Planwirtschaft anstrebe, dass sie aber ebenso sehr sich für die Freiheit einsetze und dass sie drittens die "Übereinstimmung von Tat und Gedanken, die bruchlose Existenz" fordere. Er geht dabei mit keiner Silbe auf die Problematik einer Verbindung von Freiheit und Plan ein. Er tut so, als läge hier einzig eine Frage des Anstands, der Moral vor. Man rätselt. Bis einem dämmert, dass diese spezifische Blindheit, die ja keine Andersche Privatmarotte, sondern im Gegenteil die populärste Utopie nach 1945 war, zu tun hat mit dem spezifischen Frieden, der damals geschlossen wurde. Nationalsozialismus, Faschismus und japanischer Imperialismus waren geschlagen worden von den vereinigten Kräften der USA und der UdSSR. Sozialismus und Kapitalismus einig gegen die Barbarei. Diese Einheit in jedem einzelnen Staate herzustellen, war der Traum einer Generation, die gegen diese Einheit verloren hatte.

In Erich Kästners Artikel über seinen ersten Besuch im zerstörten Dresden findet sich folgende Passage: "Freunde hatten gesagt: 'Fahre nicht hin. Du erträgst es nicht.' Ich habe mich genau geprüft. Ich habe den Schmerz kontrolliert. Er wächst nicht mit der Anzahl der Wunden. Er erreicht seine Grenzen früher. Was dann noch an Schmerz hinzukommen will, löst sich nicht mehr in Empfindung auf. Es ist, als fiele das Herz in eine tiefe Ohnmacht." Das ist nicht nur großartig formuliert. Es ist die Entdeckung der Unschärferelation in der Schmerzwahrnehmung.

"Diese merkwürdige Zeit". Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der "Neuen Zeitung". Herausgegeben und mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehen von Wilfried F. Schoeller. Büchergilde Gutenberg, 704 Seiten, gebunden, 39,90 Euro. ISBN 3936428425. Bestellen.