Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
22.11.2005. Widmann bückt sich nach Gisela Freisingers Burda-Biografie, lernt den Unterschied zwischen Mohammed I und Mohammed II, inspiziert 40 Jahre Pirelli-Kalender, sucht in Südfrankreich nach dem Musee Aicard, staunt über Ben Pastors Wehrmachtsoffizier als Krimiheld und betrachtet Bilder von Roman Vishniacs Berlin.
Die Kunst, sich demütigen zu lassen

Vierhundert Seiten über Hubert Burda! Das muss zu viel sein, denkt man, bevor man mit der Lektüre begonnen hat. Hat man angefangen, ist man freilich verloren. Gisela Freisinger hat ein Drehbuch geschrieben, in dem außer Mord alles vorkommt. Aber da die Geschichte ja weitergeht, ist auch der noch drin. Wie es weitergeht, erfährt man leider nicht von Gisela Freisinger, sondern vom Leben selbst. Das hat zwar die besten Geschichten, aber es schreibt viel schlechter.

Gisela Freisingers Hubert-Burda-Biografie ist ein seltener Glücksfall. Die Autorin hatte Zugang zu vielen sonst verschlossenen Quellen. Burda hat ihr auch einige seiner Tagebücher zur Verfügung gestellt. Dennoch ist das Buch keine Heiligengeschichte geworden. Sondern eine spannende, die Fantasie auf jeder Seite in Bewegung setzende Geschichte. Der Krieg zwischen den Eltern, der Krieg zwischen den drei Burda-Söhnen. Dass der Jüngste und Kleinste - wie im Märchen - der Sieger ist, das wussten wir schon, aber dass er es nicht allein durch Schläue und Härte wurde, sondern auch durch tausend Erniedrigungen hindurch, das habe ich erst hier gelernt. Wie er immer wieder vom Vater, von den Brüdern gedeckelt und zurückgestellt wurde, wie er alles schluckte und ertrug, und dann am Ende - oder doch wenigstens jetzt - der Chef eines der größten europäischen Medienunternehmens ist, das ist aufregend, spannend und schrecklich.

War es das wert? Für so einen? Für einen, der sich auskennt bei Hubert Robert, bei Niklas Luhmann und Francesco Petrarca? Was ist so toll daran, jeden Tag mit anderen Männern an einem runden Tisch zu sitzen und ihnen zu sagen, wo es lang geht, wenn man mit Maria Furtwängler verheiratet ist? Diese Rätsel löst Gisela Freisinger nicht - wer könnte das? -, aber sie hat ein Auge für sie und so versorgt sie uns mit viel Stoff. Sie zeigt uns aber auch die Gesellschaft, in der Burda sich bewegt, die kleine der Medien und die große, in der wir alle leben. Burdas kleine Gesellschaft ist eine von wenigen guten Freunden, mit denen er seit Jahrzehnten gemeinsame Sache macht. Der eine oder andere - zum Beispiel Helmut Markwort oder Jürgen Todenhöfer - mag für ein paar Jahre mal verschwunden gewesen sein, aber wenn er sie brauchte, waren sie da. Alte, sehr alte, sehr bewährte Seilschaften. Auch wer zu denen gehört - das macht Freisingers Buch klar - beherrscht die Kunst, sich demütigen zu lassen.

Die Vorstellung, dass der aufrechte Gang nach oben führt, kommt einem nach der Lektüre dieses Buches nicht nur weltfremd vor. Sie erscheint einem als Erfindung von Leuten, die andere daran hindern möchten, nach oben zu kommen. Nein, das Buch moralisiert nicht. Das tue ich. So langweilig ist Gisela Freisinger an keiner Stelle. Sie erzählt Geschichten, zum Beispiel vom Männermagazin M, an dem 1968-1969 zusammenwirkten: Hubert Burda, Bazon Brock, Peter Handke, Peter Hamm, Michael Krüger, Wolf Wondratschek, Klaus Bresser, Joe Hembus, Michael Naumann, Gerd Heidemann - um nur einige der heute noch bekannten Namen zu nennen. Gisela Freisinger ist mit "Hubert Burda - Der Medienfürst" ein faktenreiches, glänzend erzähltes, wunderbar ironisches Porträt des Verlegers und - so hätte er es wohl gerne - "seiner" Epoche geglückt.

Gisela Freisinger: "Hubert Burda". Der Medienfürst. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2005. Fotos, 435 Seiten, 29,40 Euro. ISBN 359337417X.


Mohammed I und Mohammed II

Wer Einführungen in die frühe Geschichte des Islam liest, hat es immer mit derselben Erzählung zu tun. Überall wird ihm die Geschichte von Mohammed (570-632) erzählt, dem sich Gott offenbarte. Detailliert wird berichtet von den Kämpfen und Kriegen des Propheten und seiner Nachfolger. Die klügeren Autoren solcher Einführungen teilen ihren Lesern mit, dass sie nichts anderes machen, als die Mohammed-Biografien des neunten und zehnten Jahrhunderts nachzuerzählen. Statt historischer Forschung also Fortschreibung alter Legenden.

Neben dieser weit verbreiteten Form der "Geschichtsschreibung" gibt es inzwischen wieder mehr Versuche, sich der islamischen Geschichte mit dem gleichen Werkzeug zu nähern wie jeder anderen auch. Also statt immer neuer Exegesen der immer gleichen Texte, Suche nach zeitgenössischen Fundstücken, nach Relikten aus dem sechsten und frühen siebten Jahrhundert, die das Aufkommen der neuen Religion belegen. Eine Reihe solcher Forschungen liegen jetzt in einem Sammelband vor. Die umfangreichste Studie darin stammt von dem Orientalisten und Numismatiker Volker Popp. Er analysiert einschlägige Inschriften und Münzen. Er kommt dabei zu verblüffenden Ergebnissen.

"Muhammad" findet sich auf zahlreichen Münzen des 7. Jahrhunderts. Popp sieht darin nicht wie die meisten seiner Kollegen einen Beleg für die neue Religion, sondern interpretiert die Prägungen als den Versuch, ein spezifisch arabisches Christentum zu etablieren: "Die neue christliche Bewegung, welche alle Christen des Arabischen Reichs vereinen sollte, wurde bekannt durch die Forderung nach der Durchsetzung des Verständnisses von Jesus als dem Muhammad. Dieser Forderung war die nach der Durchsetzung einer Vorstellung von Jesus als dem 'abd Allah vorausgegangen. Es ging darum, der christlichen Theologie des Orients ein Leitmotiv zu geben, welches man gegenüber Byzanz als einigendes Programm der Christen des ehemals byzantinischen Orients und des ehemals sassanidischen Ostens präsentieren konnte."

Jesus ist der Erwählte, der Gepriesene (muhammadun), der Gottesknecht ('abd Allah). Die Inschriften, die diese Titel tragen, wurden bisher stets als frühe islamische Zeugnisse begriffen. Popp sieht sie als Teil einer christlichen Propaganda, die Jesus nicht als eins mit Gott betrachtet, sondern als Menschen, den Gott auserwählt hatte. Wer Popp in die verwinkelten Debatten der verschiedenen, mit einander hadernden christlichen Glaubensrichtungen des sechsten und siebten Jahrhunderts folgt, wird vieles plausibel finden. Er wird aber nicht verstehen, wie es dann zum Islam kam. Wann und wie wurde die Nabelschnur zum Christentum gekappt? Aber das ist auch nicht der Untersuchungszeitraum von Popps Forschungen.

Manche der anderen Beiträge widersprechen Popp in Einzelheiten. Aber kein einziger Beitrag stützt die islamische Legende von der Entstehung des Islam. Was die Nähe der frühesten sogenannten islamischen Zeugnisse zum Christentum angeht, sind sich alle einig. Im Felsendom von Jerusalem gibt es eine über 240 Meter lange, in kufischer Monumentalschrift mit goldfarbenen Mosaiksteinchen auf grünem Grund ausgeführte arabische Inschrift. Christoph Luxenberg, der mit seinem Buch "Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache" für einige Aufregung gesorgt hat (mehr hier), analysiert sie und kommt zu dem Schluss, dass es sich um eine christliche Inschrift handelt. Auch er betrachtet Muhammad ("der Gepriesene") nicht als Eigennamen des Propheten, sondern als metaphorische Bezeichnung Jesu bei christlichen Arabern. Luxenberg zeigt das grammatikalisch. Fachleute werden sagen können, ob das stimmt oder nicht.

Luxenbergs Schlussfolgerungen sind weitreichend, aber sie sind nicht weitreichender als die christliche Bibelkritik es war: "Die Textanalyse hat erwiesen, dass das Gerundiv muhammad kein Eigenname, sondern als Eulogie ('gelobt sei') auf den 'Knecht Gottes', nämlich Jesus, Sohn der Maria bezogen ist. Nur sofern man in der späteren Prophetenbiografie diese Eulogie als Eigennamen auffasste und auf den Propheten des Islam übertrug, muss künftig zwischen Mohammed I und Mohammed II unterschieden werden. Dies wirft neue historische Probleme auf: dass Mohammed II von 570 bis 632 n. Chr. gelebt haben soll, davon kann nach der Inschrift vom Felsendom keine Rede sein, da mit dem dort genannten Mohammed Jesus, Sohn der Maria, also Mohammed I gemeint ist. Ob nun Mohammed II, von dem die Sira so viel zu berichten weiß, kurze Zeit vor der Entstehung dieser Prophetenbiografie (ab Mitte des 8. Jahrhunderts) tatsächlich gelebt hat, oder ob er nur als Symbolfigur anzusehen ist, was der möglicherweise ebenso symbolische Vorname seines Vaters 'Abd Allah als Wiedergabe der Bezeichnung Knecht Gottes vom Felsendom nahe legen würde, dies herauszufinden, ist Aufgabe des Historikers. Die Textanalyse hat deutlich gemacht, dass mit dem Begriff Islam kein Eigenname, sondern die 'Übereinstimmung' mit der Schrift gemeint ist. Da mit dieser Schrift, nach dem christologischen Inhalt der Inschrift, das Evangelium gemeint ist, kann auch nicht der Koran gemeint sein, selbst wenn wir den Wortlaut dieser Inschrift teilweise im Koran wiederfinden. Sofern der Koran teilweise vor dem historischen Islam existiert hat, was die Inschrift vom Felsendom nahe legt, handelte es sich hierbei noch um das liturgische Buch eines syrisch-arabischen Christentums."

Wie diese überlangen Zitate deutlich machen, handelt es sich bei den Aufsätzen um wissenschaftliche Fachliteratur. Der Laie muss manchen Satz drei- oder vier Mal lesen, um die Pointe zu verstehen. Aber er wird es mit wachsendem Vergnügen tun. Noch ist das Buch in den einschlägigen Fachorganen nicht besprochen worden. Ich bin gespannt auf die Gegenargumente.

Karl-Heinz Ohlig, Gerd Rüdiger Puin (Hrsg.): "Die dunklen Anfänge". Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam. Verlag Hans Schiler, Berlin 2005. 406 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 58 Euro. ISBN 3899301285.


Das Mädchen, das seine Hand auf die Brust legt

Die Reifenfirma Pirelli beauftragt seit 1964 jedes Jahr einen Fotografen, einen erotischen Kalender zu machen. Der wird dann als Kundengeschenk verteilt. Die Kalender erfreuen sich eines gewissen Ruhms, und jedes Jahr drucken Zeitungen und Zeitschriften einzelne Aufnahmen aus dem aktuellen Kalender ab. Schirmer/Mosel hat jetzt alle Fotos aller Kalender der Jahre 1964 bis 2004 vorgelegt. Man kann darin blättern und sich darüber amüsieren, was vor dreißig, vierzig Jahren als verrucht galt. Aber das gelingt einem nicht, wenn man 1964 achtzehn Jahre alt war. Das Mai-Mädchen von 1964, das seine Hand - unter der weit geöffneten, aber nichts sehen lassenden blauen Bluse - auf seine Brust legt, hätte mich damals sicher erregt und so peinlich es ist: Es erregt mich noch immer. Nick Knights Damen von 2004 dagegen rühren nichts in mir.

Interessant ist, dass viele gerade der bekanntesten Fotografen den Auftrag genutzt haben, um einmal kräftig zitieren zu können. Arthur Elgort versucht die Olympiadefotografie von Leni Riefenstahl wieder zu beleben. Herb Ritts 12 Fotos zitieren jedes einen anderen Klassiker der Fotografiegeschichte. Seine Models können mit Marilyn Monroe und Raquel Welch - wen wunderts? - nicht mithalten. Die Fotos wirken unfrei - also das Gegenteil von erotisch. Schreckliche Sachen sind dabei. Clive Arrowsmith zum Beispiel maskierte 1992 die Models als beschwanzte Mensch-Tier-Wesen und stellte sie in eine Landschaft wie in einem Kungfu-Film. Sarah Moon - ja, auch sie war einmal Pirelli-Fotografin - machte 1972 das, was sie immer macht: zarteste Mädchen in zartester Wäsche in zartesten Farbtönen. 1969 wagte Harri Peccinotti eine Flucht vor dem Genre und zeigte einfach nur junge Frauen am Strand - gesehen mit den Blicken der Männer. Danach kommt die Hochglanzästhetik. Zelebrierte Schweißtropfen auf gebräunter Haut. Terence Donovan lieferte 1987 einen Kalender nur mit dunkelhäutigen Frauen vor wolkigen Himmeln. Der koloniale Blick wird genossen.

Im Internat hätten wir diesen Band durchgesehen, und jeder hätte sagen müssen, wen er für die Schönste, die Geilste, die Schärfste hält. Das könnte noch immer ein schönes Gesellschaftsspiel sein, bei dem man schrecklich viel über sich verrät. Also, meine Wahl: Tatjana Patitz, 1996 von Peter Lindbergh fotografiert. Ein durchsichtiges Unterhemd und dieses Gesicht, das eine weite Landschaft ist.

"Die kompletten Pirelli-Kalender aus 40 Jahren". Mit einem Vorwort von Marco Tronchetti Provera. Schirmer/Mosel Verlag, München 2004. Format: 28 x 28 cm, 520 Fotografien in Farbe, 544 Seiten, gebunden, 69,80 Euro. ISBN 3829601603.


Schnitzeljagd

"Erzähl' mir vom Süden..." ist ein erzähltes Buch, keine Anthologie. Aber Manfred Hammes erzählt vor allem, was andere erzählt haben. Man kann es also als Anthologie durchblättern. Dann beraubt man sich freilich des basso continuo dieses Buches, der angenehmen Stimme von Manfred Hammes. Er führt einen durch Südfrankreich wie ein Freund, der einem gerne alles, wirklich alles zeigen würde, der aber viel zu sehr in alles vernarrt ist, als dass er nicht immer wieder an einzelnen Stellen so ins Schwärmen käme, dass für das Nächste keine Zeit mehr bleibt.

Hammes' Abschweifungen sind das Schönste und sie, nur weil man es eilig hat, zu überspringen, wäre dumm. Hammes liebt geheimnisvolle Hinweise, die er selbst nicht aufklärt, denen der Leser aber nachgehen sollte. Das liest sich dann so: "Die Weiterfahrt könnte Sie ohne großen Verlust um Toulon herum führen. Der Lyriker und Erzähler Jean Aicard ist hier geboren, der für sein Gedicht 'Lamartine' den Preis der Academie Francaise erhielt und später sogar deren Mitglied wurde. Seine 'Poemes de Provence' und die Erzählung 'Maurin des Maures' machten ihn zu einem der bekanntesten Schriftsteller des französischen Südens. Heute stößt man selbst im Office de Tourisme von Toulon nur auf ein Achselzucken. Vielleicht hängt das aber auch damit zusammen, dass sich das Musee Aicard zehn Kilometer außerhalb in Sollies-Ville befindet, einem Ort, dem der Dichter auch lange als Bürgermeister vorstand."

Wer jetzt das Gefühl hat, keine Ahnung zu haben, dem geht es wie mir. Im ganzen Buch kommt kein Wort mehr über Jean Aicard. Säße ich jetzt in einem Auto in der Nähe von Toulon, ich führe sofort ins Musee Aicard. Gerade weil ich keine Ahnung habe. Hammes schreibt für Leute, denen es nichts aus macht, dümmer zu sein als die Bücher, die sie lesen. Für Leute, denen es Spaß macht, seinen Hinweisen nachzugehen. Man kann das Buch, das gespickt ist mit Anekdoten und Geschichten über Menschen, die in Südfrankreich lebten, verwenden wie die Zettel einer Schnitzeljagd. Man hat dann großen Spaß damit, aber man wird Jahre brauchen, um das Buch auszulesen. Wer gerade nicht im Auto sitzt oder auf einem Dorfplatz in Südfrankreich, der sieht im Internet nach. Es gibt einiges über Jean Aicard. Zum Beispiel hier.

Der Dichter wurde 1848 in Toulon geboren. Vater und Mutter waren nicht verheiratet. Sein Vater hatte eine andere Familie. Mit zehn, als sein Vater starb, konnte Jean noch nicht schreiben. Der kleine Junge bat dann seine Halbschwester, ihn zu unterrichten. Sie tat es in dem Haus, das heute das Musee Aircard beherbergt. 1921 starb Aicard in Paris. Man wüsste gerne mehr über diesen Jungen, ob die anderen Kinder ihn Bastard gerufen haben, und wie er es geschafft hat in die Akademie zu kommen? Manfred Hammes versteht die Kunst, unsere Neugierde zu wecken glücklicherweise noch besser als die, unsere Wissbegierde zu befriedigen.

Manfred Hammes: "Erzähl mir vom Süden...". Eine literarische Reise durch Languedoc, Provence und Cote d'Azur. Wunderhorn, Heidelberg 2005. 454 Seiten mit vielen s/w Abbildungen, 24,80 Euro ISBN 3884232304.


Wehrmachtskrimi

Ben Pastor wurde 1950 in Rom geboren. Seit dreißig Jahren lebt sie in den USA. An der ältesten privaten Militäruniversität des Landes, der 1819 gegründeten Norwich-University in Vermont, unterrichtet Maria Verbena Pastor Geschichte. Im Nebenberuf schreibt sie Krimis. Sie schreibt sie auf Englisch. Jetzt ist endlich einer auch auf Deutsch erschienen: "Kaputt Mundi" heißt er. Es geht um die Aufklärung des Todes einer Frau. Die übliche Detektivgeschichte also? Ganz und gar nicht. Die Erzählung spielt in Rom während der letzten Wochen der deutschen Besatzung.

Der Detektiv, der Held, heißt Martin-Heinz Douglas Freiherr von Bora und ist Major der deutschen Wehrmacht. Martin Bora ist der Held aller fünf Krimis der Autorin, und alle spielen sie im Zweiten Weltkrieg. Das größte Massaker des zwanzigsten Jahrhunderts, die Vernichtung der Juden und Europas als Hintergrund für die genrekonforme "whodonit"-Spannung. Das ist einigermaßen frivol. Die stärksten Gefühle des Lesers werden mobilisiert, um ihn bei einer ansonsten mäßig aufregenden Suche nach dem Täter bei der Stange zu halten. So dachte ich, als ich das Buch noch nicht gelesen hatte.

Jetzt weiß ich: Es ist alles ganz anders. Schlimmer könnte man sagen. Und besser, viel besser. Beides ist richtig. Viel besser, weil der Hintergrund nicht der Hintergrund ist. Der Druck, unter dem alle Beteiligten stehen - die Römer, weil die Deutschen ihre Stadt besetzt halten, und die Deutschen, weil sie wissen, sie müssen bald vor den anstürmenden Alliierten nach Norden fliehen - ist auf jeder Seite, in jedem Absatz zu spüren. Die Angst, dass die Besatzungsmacht, je bedrängter sie sich fühlt, in einem letzten Aufbäumen desto wilder um sich schlagen könnte, hat der Leser fast von der ersten Seite an. Die Detektivgeschichte interessiert ihn nicht wirklich. Er verliert sie aus den Augen, zu sehr wird er hineingezogen in die Atmosphäre dieser Stadt.

Ben Pastor zitiert die großen Filme des italienischen Neorealismus. Roberto Rossellinis "Roma citta aperta" aus dem Jahre 1945 ist die Vorlage, mit der und gegen die Ben Pastor ihre Geschichte schreibt. Damit hat das Buch gleich vom ersten Augenblick an den richtigen Ton angeschlagen. Desto radikaler darf es sich dann von dieser Konvention lösen. Der deutsche Wehrmachtsoffizier Martin Bora ist nicht nur der Held des Buches. Er ist auch moralisch integer. Im Zentrum des Buches steht folgende Szene: am Sonntag, dem 28. Mai 1944 um 10.55 steht Major Bora auf der Piazza San Giovanni in Laterano und wartet, bis die Zielperson ihm nahe genug gekommen ist. Er hebt den Revolver und erschießt die junge Frau. Er rennt zu ihr, bückt sich und nimmt ihr einen Zettel aus der Hand. SS-Standartenführer Eugen Dollmann hatte Bora den Auftrag gegeben, die Widerstandskämpferin zu erschießen. Die Szene ist klar. Aber diese Klarheit täuscht.

Die Guten sind hier der Wehrmachtsoffizier und der SS-Mann. Die Widerstandskämpferin dagegen ist die Böse. Sie war eine Verräterin. Sie war auf die Piazza San Giovanni gekommen, um ihrem Verbindungsmann in der SS einen Zettel zu überreichen, auf dem die Namen und die Adressen der vom Vatikan versteckten italienischen Juden standen. Dollmann und Bora wollten mit allen Mitteln verhindern, dass diese Liste in die Hände der SS kam. Sie wollten die Juden retten. So verrückt geht es zu in Ben Pastors "Kaputt Mundi". Politisch nicht korrekt. Jedenfalls nicht bei uns. Wie es von der Norwich University aus aussieht, weiß ich nicht.

Ben Pastor: "Kaputt Mundi". Deutsch von Sylvia Höfer und Barbara Krohn. Piper Verlag, München 2005. 486 Seiten, 14 Euro. ISBN 349227093X.


Wie dumm es ist, Recht zu haben

Im Jüdischen Museum Berlin gibt es bis zum 5. Februar eine Ausstellung "Roman Vishniacs Berlin" zu sehen. Dazu ist ein Katalog erschienen, der die Lektüre lohnt. Er erzählt von Vishniacs Leben (1897-1990), vor allem natürlich von seinen Jahren in Berlin, wo er, aus Lettland kommend, von 1920 bis 1939 lebte. Roman Vishniac wurde berühmt mit "Verschwundene Welt", eine Sammlung von Aufnahmen, die er in den dreißiger Jahren bei Reisen zu den jüdischen Gemeinden Osteuropas gemacht hatte.

Hier jetzt Fotos aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit. Es sind Aufnahmen der Familie und Freunde, daneben "Berliner Szenen" und Ansichten aus dem Umland. Vor allem aber auch Fotos aus der Nazizeit, die zum Beispiel Sprechstunden im Büro des Hilfsvereins der Juden in Deutschland zeigen oder jene an Tom Sawyer erinnernde heitere Aufnahme, die, liest man die Bildunterschrift, zu einem Sinnbild des Schreckens wird: "Jungen einer zionistischen Jugendgruppe bei Renovierungsarbeiten in der Meinekestraße 10, 1936."

Wegrennen hätten sie sollen, statt es sich schön zu machen, denkt man, und schon während man es denkt, weiß man, wie dumm es ist, so Recht zu haben. Ist nicht doch ein Zufall denkbar, der es den beiden Jungen ermöglichte zu überleben? Dann die Fotos, auf denen fröhliche junge Leute in Brandenburg und Holland 1938 das Landleben üben, um sich vorzubereiten auf den Umzug nach Palästina. Je harmloser die Aufnahmen sind, desto schrecklicher wirken sie. Jede von ihnen erinnert uns vor allem an das, was sie nicht zeigt. Das mag eine moralische Stärke sein. Aber es ist eine Sinnestäuschung. Wir werden damit anfangen müssen, diese Fotos genau anzusehen. Wir müssen aufhören, sie zu überschwemmen mit dem, was wir wissen oder zu wissen glauben. Wenn wir Soldaten der Reichswehr im Nebel über die Schlossbrücke gehen sehen, dann ist das kein Schnappschuss von einer Wachablösung vor der Neuen Wache, sondern ein uns ergreifendes Symbol. Wer diesen Band aufmerksam durchsieht, der glaubt nicht mehr, dass Roman Vishniac diese Aufladung wollte. Er wollte registrieren und festhalten. Wir sollten versuchen, es ihm nach zu tun.

"Roman Vishniacs Berlin". Herausgegeben von James H. Fraser, Mara Vishniac Kohn und Aubrey Pomerance im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin. Nicolai, Berlin 2005. Format: 21 x 22,5 cm, 132 Seiten, 102 Seiten im Duotone, 24,90 Euro. ISBN 3894792566.