Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
25.10.2006. "Ich saß in entlegenen Abteilungen auf dem Boden und las." Über Leibniz' Briefe an die Jesuiten in China, Karl Buchholz' Buchhandlung in Bogota, die Begeisterung deutscher Maler für Indianer, Gudrun Ensslins Briefe an ihre Schwester, Christopher Pinneys Geschichte des indischen Kunstdrucks und einen Roman von Linn Ullmann, der ins Reich der absoluten Unterwerfung führt.
Kah-ge-ga-gah-bowh

Die Ausstellung heißt "I like America". Sie bietet das erste Mal einen Überblick über die Geschichte der Wild-West-Begeisterung. Sie beginnt 1821, als die US-Regierung die Vertreter verschiedener Indianerstämme nach Washington einzuladen beginnt. Die feine Gesellschaft ist begeistert von den fast nackten muskulösen Männern, die sich in den Salons so exotisch machen. Im Laufe der Jahre malt allein Charles Bird King 140 Porträts dieser Indianer. Die Ausstellung endet mit Joseph Beuys' Auftritt in den USA, bei dem er sich vom 23. bis zum 25. Mai 1974 in der Rene Block Gallery in New York mit einem Kojoten - einem heiligen Tier der Indianer - einschloss. "I like America and America likes me" war der Titel von Beuys' Aktion (Video hier, Bilder hier und hier). Die Indianer waren damals sehr aktiv dabei, an den Versuch ihrer Ausrottung, an ihre fortdauernde Unterdrückung zu erinnern. Erst Ende Februar 1973 hatten indianische Aktivisten demonstrativ die historische Stätte des Massakers von Wounded Knee besetzt.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der die Ambivalenz der deutschen Indianerbegeisterung herausarbeitet. Natürlich zeigt er die prächtigen Bilder der Landschaft des Wilden Westens wie sie zum Beispiel von Absolventen der Düsseldorfer Malerschule - Albert Bierstadt war einer davon - Mitte des 19. Jahrhunderts auf zwei mal drei Meter großen Leinwänden festgehalten wurden. Daneben Indianerbilder von August Macke und wilde Cowboys und Pistoleros von George Grosz und Walter Trier. Von ersterem zeigt der Katalog auch ein schönes Foto, für das sich der Maler als Trapper verkleidet vor sein Gemälde "Wild West" stellte. Der Wildwest-Film spielt eine wichtige Rolle und natürlich Karl May. Der Katalog informiert über die Ausstellungsstücke, über Menschenschauen und über Kah-ge-ga-gah-bowh, der auf dem dritten Weltfriedenskongress 1850 in Frankfurt/Main als Vertreter der christlichen Indianer zu einer viel bestaunten Sensation wurde. Emanuel Leutze, auch ein in die USA emigrierter "Düsseldorfer", porträtierte ihn im selben Jahr, einsam auf einem Felsen stehend in Anspielung auf Coopers, 1826 erschienene Erzählung als "letzten Mohikaner".

Verherrlichung und Vernichtung gingen neben einander her oder gar Hand in Hand. Es ist schade, dass der Katalog diese Ambivalenzen zwar erwähnt, aber die Autoren außerstande sind, sie wirklich zu thematisieren. Manche Beiträge zu lesen fällt, selbst wo sie eingehend über die einzelnen Arbeiten informieren, sehr schwer. So durchsetzt sind sie von durch Ahnungslosigkeit genährten Vorurteilen.

Der einleitende Aufsatz der Kuratorin Pamela Kort, die nicht nur die Energie und das Geschick zur Herstellung der Ausstellung, sondern auch die ausgezeichnete Idee zu ihr hatte, bringt es fertig, die Vorstellung, die USA seien offenkundig dazu bestimmt, den nordamerikanischen Kontinent zu kolonisieren, Charles Darwin in die Schuhe zu schieben. Das logische Bindeglied bildet die "evolutionistische Theorie". Nun, der anstößige Kern von Darwins Evolutionstheorie ist gerade der Verzicht auf jede Art von "Bestimmung". Es entstanden unter den zahlreichen Varianten des Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts auch solche, die diese Pointe der darwinistischen Erklärung der Entstehung der Arten missverstanden oder leugneten. Auf sie könnte Pamela Kort verweisen. Auf Darwin auf keinen Fall. Sie wiederholt Unsinn, den sie anderswo gelesen hat. Das macht den Leser misstrauisch gegenüber den Äußerungen, bei denen er auf Korts Sachkenntnis angewiesen ist. Schade.

"I like America". Fiktionen des Wilden Westens. Katalog zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main. Herausgegeben von Pamela Kort und Max Hollein. Prestel Verlag. 399 Seiten, mit sehr vielen s/w und farbigen Abbildungen, 59 Euro. ISBN: 3791337343.


Licht am Licht entzünden

Zwischen 1689 und 1714 führte der deutsche Philosoph und Lutheraner Gottfried Wilhelm Leibniz einen Briefwechsel mit einer Reihe von in China lebenden Jesuiten. Der Briefwechsel wurde in Latein und Französisch geführt. In den grünen Bänden der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlages ist dieser Briefwechsel jetzt zusammen mit einer deutschen Übersetzung erschienen. Eine Einführung von 130 Seiten informiert über die chinesischen Erfahrungen dieser Jesuitenmission, über den durch sie aufgeworfenen berühmt-berüchtigten Ritenstreit und natürlich über Leibniz' chinesische Interessen.

Leibniz setzte auf Globalisierung. Er wollte den Austausch nicht so sehr von Waren als vielmehr den von Ideen, von wissenschaftlichen Kenntnissen. So schrieb er am 21. März 1692 an Claudio Filippo Grimaldi: "Der Inbegriff unserer Wünsche zielt auf eines: dass Sie vermöge Ihrer Klugheit die große Aufgabe bedenken, die Ihnen die Vorsehung zum Besten der Menschheit übertragen hat, nämlich einen neuen Austausch ('commercium' ist Leibniz' Terminus) von Erkenntnissen zwischen weit von einander entfernt lebenden Völkern in Gang zu bringen. Sie bringen den Chinesen unsere Wissenschaften, denn in Ihnen und so vielen bedeutenden Männern in Ihrer Begleitung erblicke ich gleichsam ein Handbuch des Wissens Europas; da ist es nur recht und billig, dass wir im Austausch insbesondere die verborgenen naturwissenschaftlichen Einsichten der Chinesen erlangen. Allein diese Art des Austausches ist gerecht; die Chinesen sind uns durch Beobachtungen, wir den Chinesen durch Erfindungen überlegen. Lasst uns unsere Verdienste zusammenwerfen, das Licht am Licht entzünden."

Dass die Jesuiten nicht einfach Missionare nach China schickten, sondern Wissenschaftler und Künstler, lag allerdings nicht an den sich ihrer Neugierde nicht nur heute gerne preisenden Europäern, sondern an den Chinesen. Der chinesische Kaiser und die chinesischen Wissenschaftler waren von Grimaldis Kenntnissen auf den Gebieten von Optik und Mathematik beeindruckt gewesen und hatten ihn gebeten, ihnen so viel wie möglich davon beizubringen. Man muss, um eine realistische Ansicht über diesen Commercium zu haben, freilich noch den Satz lesen, der den zitierten unmittelbar folgt: "Doch ich mahne Sie, darauf zu sehen, dass unsere Leute nicht gänzlich ihre Überlegenheit einbüßen durch die Verbreitung unserer Wissenschaft."

Man wird davon ausgehen müssen, dass die chinesische Seite ähnliche Befürchtungen hegte. Dieser Lernprozess glich einem Ringkampf, bei dem jeder Kämpfer die Taktik des Gegners genau studierte, ihm seine Griffe abluchste, um ihn niederzuzwingen. Gleich zu Beginn des Briefwechsels steht eine lange Liste, auf der Leibniz verzeichnet, worüber er gerne genauer Bescheid wüsste. Es sind dreißig Fragen, bei denen es in erster Linie um so praktische Dinge geht wie zum Beispiel Feuerwerk, Ginseng, Firnis, Horizontalwindmühlen, zusammenfaltbare Segel. Eine detaillierte Antwort auf diese Liste hat Leibniz, das lassen seine Nachfragen noch Jahre später vermuten, nie bekommen. Der Briefwechsel war natürlich extrem beschwerlich. Acht Monate dauerte bei einigem Glück allein die Schiffsreise von La Rochelle bis Kanton. Aber es gab ja keinen regelmäßigen Postverkehr, sondern es musste gewartet werden bis wieder jemand Vertrauenswürdiges nach China fuhr.

Ganz abgesehen von diesen Schwierigkeiten hatten die Jesuiten aber auch ganz andere Probleme, als chinesische Software an Herrn Leibniz zu schicken. Sie waren in erster Linie damit beschäftigt, auf der einen Seite am kaiserlichen Hof eine gute Figur zu machen und andererseits dafür nicht zuhause als Verräter christlicher Tugenden angezeigt zu werden. Am 15. September 1701 meldet Jean de Fontaney Leibniz einen großen Erfolg der jesuitischen Arbeit: "Während meiner Abwesenheit hat der Kaiser einen für die Religion möglicherweise folgenreichen Schritt getan. Er hat erklärt, dass das Wort 'Himmel', das in den chinesischen Büchern so gebräuchlich und unter den Missionaren so umstritten ist, im Verständnis der Gelehrten und der alten Chinesen ein höchstes, intelligentes Wesen, Herrscher über Himmel und Erde, bezeichne und nicht etwa den physikalischen Himmel. Dies wird also von nun an eine in ganz China gültige Lehre sein, und niemand wird es wagen zu leugnen, dass die alten Chinesen und ihre Ahnen einen Gott gekannt haben, der Herr ist über Himmel und Erde, dass sie ihn angerufen haben usw. Der Kaiser hat ferner erklärt, dass die Ehrungen, die man Konfuzius und den Ahnen entgegenbringt, ihnen ausschließlich aus Dankbarkeit dargebracht werden", nicht etwa, weil man sie damit um einen Gefallen bitten möchte.

Der Kaiser hat den Jesuiten damit deren Interpretation der chinesischen Bräuche bestätigt. Das sollte ihnen helfen gegen andere Orden, die im chinesischen Ahnenkult Opferdienste sahen. "Himmel" als Gottesname zu nehmen, war auch eine jesuitische "Übersetzung". Chinesische Lehren rückten so näher an die christliche Terminologie. Genau das wurde den Jesuiten als Anpassung angekreidet. Dagegen mussten sie sich wehren, sollte nicht das ganze Projekt scheitern. Am Ende tat es das. Exakt aus diesem Grund.

Leibniz wiederum arbeitete an der Idee einer Universalsprache, die nicht Wörter, sondern Gedanken auszudrücken vermochte, wie er es aus der Algebra kannte. Leibniz war darum elektrisiert von den chinesischen Schriftzeichen, die ihm ein erster Versuch in der von ihm angestrebten Richtung schienen. Sein Interesse an China hatte hier seine stärkste Triebkraft. Leibniz verfolgte die Debatte um den Zusammenhang der chinesischen Schriftzeichen mit den ägyptischen Hieroglyphen, er war begierig alles zu erfahren und bat um die Übersendung von Wortlisten und Grammatiken. Man wird über diese Marotte des Philosophen den Kopf schütteln, aber man wird auch beeindruckt sein von dem festen Willen, alles Wissen der Welt einzusetzen, um dem Menschen neue Wege zu erschließen.

Diese Buchhinweise schreibe ich in einen Computer, ein Rechner, der bekanntlich aus der Differenz zwischen 0 und 1 alles hervorgehen lässt. Ich lese darum mit besonderem Interesse, was Leibniz in einem zwischen Mitte Januar und Anfang Februar 1697 geschriebenen Brief an Grimaldi zu seiner Entdeckung des binären Zahlensystems, seiner Dyadik, schreibt. Leibniz ist spürbar erregt, die Vorstellung, dass die Mathematik belegt, dass die Einheit aus dem Nichts alles schafft, begeistert ihn. Man muss seine Sätze langsam lesen, dann spürt man in der Freude, wie sehr die Aufklärung diesen Glauben, von dem er nicht lassen wollte, nicht lassen konnte, immer wieder bedroht hatte und wie glücklich er darum war, durch sie - des Glaubens größten Widersacher - ihn auch einmal bestätigt zu bekommen: "Ich habe noch eine andere Entdeckung im Zahlenreich gemacht, die mir eine so große Kraft, Frömmigkeit zu wecken, wie nur irgend etwas sonst im Bereich der gesamten Mathematik oder auch Philosophie zu haben scheint und auch an und für sich im höchsten Grade bewunderungswürdig ist. Nicht leicht dürfte einem in der Natur etwas begegnen, das ein schöneres und anschaulicheres Bild böte von der Schöpfung aller Dinge, die Gott aus dem Nichts geschaffen hat. Manche meinen, dass dieser Artikel unter den Glaubensinhalten, die unsere Religion uns vorgibt, mit die größten Schwierigkeiten bietet; es wird daher um so nützlicher sein, wenn die am wenigsten angefochtene unter den Wissenschaften mit dieser Entdeckung auch für die christlichen Dogmen ein neues, glänzendes Zeugnis beibringt, das vielleicht auch bei Ihnen einige Wirksamkeit entfalten wird, das Licht der Wahrheit zu mehren."

Gottfried Wilhelm Leibniz: "Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689-1714)". Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Rita Widmaier. Textherstellung und Übersetzung von Malte-Ludolf Babin. Französisch/lateinisch-deutsch. Philosophische Bibliothek 548. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2006. CXXXVII, 894 Seiten, s/w. Abbildungen, eine Karte, 128 Euro. ISBN 378731623X.


Vom Abenteuer, Linn Ullmann zu lesen

Die ersten Seiten von Linn Ullmanns neuestem Roman "Ein gesegnetes Kind" las ich begeistert. Der erste Satz "Im Winter 2005 fuhr Erika zu ihrem Vater Isak Lövenstad" ließ mich an "Wilde Erdbeeren" denken, jenen wunderbaren Film Ingmar Bergmans, dessen Held, ein berühmter Arzt, sich auf eine lange Autoreise begibt, um geehrt zu werden am 50. Jahrestag seiner Promotion. Es ist eine Fahrt durch Erinnerungen und Träume in den Tod.

Ich las die ersten Seiten von Linn Ullmanns Roman mit dieser Brille auf der Nase. Überall entdeckte ich eine Anspielung. Isak heißt auch der alte Mann in Bergmans Film. Der Vater in Linn Ullmanns Erzählung ist Arzt. Vor allem aber bei beiden diese bittersüße Melancholie, die das Schöne aufnimmt, es strahlen lässt, nur um es alsbald sinken zu lassen in den allgegenwärtigen, unausweichlichen, allerdings immer auch - angesichts der Schrecklichkeiten des Lebens - ein wenig tröstlichen Tod. Linn Ullmanns Geschichte ist bei allen Ähnlichkeiten Lichtjahre entfernt von Bergman, und doch schien sie mir immer auch bei ihm. Es schien mir dieselbe, freilich gegenläufig komponierte Melodie. Ich mag das: Es liegt eine große Schönheit in der verehrenden Anspielung, ein Genuss im Erkennen des Gleichen mitten im Ganz-Anderen.

Nach einer Weile aber war Linn Ullmanns Buch ganz bei sich und meine Brille, die mir zunächst verborgene Schönheiten gezeigt hatte, versperrte mir jetzt die Sicht auf das Neue. Ich langweilte mich. Was soll dieses dauernde Winken mit irgendetwas Schrecklichem, das geschehen wird? Es entwickelt sich nichts. Die Verweise darauf sind eingestreut wie Vogelscheuchen auf einem herbstlichen Feld.

Dachte ich. Aber dennoch las ich weiter. Mit einem Male merkte ich, dass ich nicht weiterlesen wollte. Nicht, weil ich das Buch, die Geschichte langweilig fand. Nein, ich hatte das Gefühl, vor Angst nicht mehr weiterlesen zu können. Angst genau vor dem Schrecklichen, über das ich mich ein paar Seiten zuvor noch lustig gemacht hatte. Ich wollte nicht lesen, wie die Kinder ihren Spielgefährten Ragnar umbringen. Linn Ullmann hatte mich inzwischen so gefangen genommen, dass ich wusste, wenn sie wollte, würde ich auf dem Sofa liegen und über jemanden weinen, den sie zu keinem anderen Zweck erfunden hatte.

Ich wollte nicht. Aber ich musste. So oft ich auch unterbrach. Ich musste immer wieder nach dem Buch greifen. Als gleich nach der Stelle, an der Vater Isac und Molly, seine dritte Tochter, beide hilflos vor einem schwer verwundeten Vogel hocken und es nicht fertig bringen, ihn mit einem Spatenschlag von seinen Schmerzen zu erlösen, die "Walderdbeeren" auftauchen und ich mich daran erinnere, dass Bergmans "Wilde Erdbeeren" nur eine andere Übersetzung des gleichen Wortes sind, da überrieselt es mich, weil meine erste Liebe zu diesem Buch, nun da ich aus ganz anderen Gründen nicht von ihm lassen kann, so plötzlich, als ich sie schon fast vergessen hatte, bestätigt wird. Es gibt wahrscheinlich kein Buch, das die Diktatur innerhalb einer Gruppe pubertierender Mädchen so klar, mit so viel liebender Brutalität, so intensiv, so körperlich schmerzhaft schildert.

Ein sadistisches Geflecht von Sexualität und Gewalt. Man kommt auf die Idee, dass die Liebe, die zum anderen Geschlecht, nur erfunden wurde, um uns zu befreien aus diesem Reich absoluter Unterwerfung, das wir - erwachsen werdend - aus unserem Gedächtnis getilgt haben. Linn Ullmann erinnert uns daran. Das tut weh, wie alle Aufklärung weh tut. Nicht nur, weil wir uns bei der Lektüre, die ja nicht nur Lektüre ist, sondern fast ein "Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten", vielleicht an Szenen unseres eigenen Lebens erinnern, die nicht weit entfernt sind von dem, was Linn Ullmann schildert, sondern vor allem, weil uns klar wird, wie verstrickt ineinander unsere menschlichsten Impulse mit unseren brutalsten sind.

Wie schön wäre es, die einen ohne die anderen zu haben. Aber das ist dann der wirklich menschenmörderische Traum. Natürlich habe ich geweint als Ragnar starb. Nein, ich habe kurz davor geweint als Erika, seine Freundin, ihm den Judaskuss gab, ihn an ihre Clique auslieferte. Bis dahin hatte ich mich bei der Lektüre nur daran erinnert, wie ich einmal als Elfjähriger durch einen Badeort in Nordportugal von einer Horde Steine werfender Gleichaltriger gejagt wurde. Wie Ragnar. Erst Seiten später fiel mir ein, dass ich ein Jahr danach mir einen Spaß daraus gemacht hatte, einen Schulkameraden jeden Tag nach der Schule zu verprügeln. Wieviel sich selbst unklare Sexualität in diesem täglich gesuchten Körperkontakt gelegen haben muss! Wie unklar war sie sich? Wie eng hängen Sexualität und Gewalt zusammen? Der sich in der Pubertät entwickelnde neue Körper - wie erfährt der Mensch dessen Kraft, wie erfährt er sie als die seine? Und literarisch? Was sollen diese Psychogeschichten? Schreibt sie gut diese Ullmann? Fragt der Leser den Rezensenten. Wie soll ich das sagen? Sie haut mich um.

Salieri soll Mozart vorgeworfen haben: "Zu viele Noten!" Vielleicht kommt jemand und sagt: "Zu viele Gefühle!" oder ein anderer bemängelt "Zu viele Adjektive!" Die sollen sich schlafen legen in ihrer reinen, in ihrer unbeschmutzt schönen Literatur. Ich lasse mich lieber von Linn Ullmann durchschütteln, bis ich Angst vor mir und allen anderen bekomme. Das tue ich um so lieber, als sie mich - das hört nun niemand mehr gern - tröstet. Sie macht das so: Ragnar ist vor seinen Kameraden ins Wasser geflohen, ist darin gestolpert, und sie steinigen ihn zu Tode. Stunden später: "Und die Wellen spülten an den Strand und zogen sich wieder zurück, spülten an den Strand und zogen sich wieder zurück, mit immer größerer Kraft, und Ragnar löste sich aus einem Netz aus Tang und Seegras, worin sich sein Fuß verfangen hatte. Er stieg zur Oberfläche auf, wurde auf den Strand geworfen und wieder in die Tiefe gezogen, auf den Strand geworfen und wieder in die Tiefe gezogen, bis er schließlich von einer Welle erfasst und beinahe behutsam am Strand abgelegt wurde (in einer kleinen Mulde, geformt aus vierhundert Millionen Jahre alten Steinen und Fossilien), damit ihn bald jemand fand." Für die vierhundert Millionen Jahre hätte ich Linn Ullmann wieder und wieder küssen mögen.

Linn Ullmann: "Ein gesegnetes Kind". Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Droemer Verlag, München 2006. 381 Seiten, 18 Euro. ISBN 3426197340.


Viele erste Male

1966 kam ich nach Bogota. Ich wohnte in einer kleinen Pension. Meine Wirtin, die geschiedene Frau eines deutschen jüdischen Emigranten, der sie in den frühen fünfziger Jahren unter Zurücklassung seiner Bibliothek und seiner Plattensammlung in Richtung USA verlassen hatte, nahm mich am zweiten oder dritten Tag beiseite und erklärte mir, ich müsste unbedingt in die Libreria Buchholz. Ich sollte mich unten bei der Dame an der Kasse melden und sagen, ich käme von Carlota, dann wäre schon alles in Ordnung.

Ich ging hin. Noch nie hatte ich eine so große Buchhandlung gesehen. Sie erstreckte sich über mehrere Stockwerke, und als ich mich der weißhaarigen Dame hinter der Kasse vorgestellt und nach Werken von Ernst Cassirer gefragt hatte, lächelte sie, erklärte mir, ich müsse die schmale gewundene Treppe hochgehen und dann gleich rechts - ich weiß nicht mehr ob im ersten, zweiten, dritten, vierten oder fünften Stock - fände ich nahezu alles, was Ernst Cassirer veröffentlicht habe. Cassirers Werke standen in voller Pracht in den Erstausgaben da. Ich nahm mir - mein Budget war blamabel beschränkt - eine Taschenbuchausgabe von "The myth of the state" mit und war von da an fast jeden Tag in der Buchhandlung. Es gab in Deutschland damals - noch weniger heute - keine einzige Buchhandlung, die auch nur im Entferntesten mit der Libreria Buchholz hätte verglichen werden können. Ich saß in entlegenen Abteilungen auf dem Boden und las. Ich entdeckte Eco. Nicht Umberto, sondern "La revista de la cultura del occidente", die von Karl Buchholz und seiner Frau, eben jener weißhaarigen Dame an der Kasse, gegründete Zeitschrift, die mir erstmals klar machte, was Weltläufigkeit war. Auf ihren Seiten las ich auch - wieder ein erstes Mal - Gabriel Garcia Marquez.

Jahre später erst, als ich in München die Galerie Buchholz entdeckte, kam ich dahinter, dass ich 1966 im Zentrum des Buchholz-Universums gewesen war, dessen Geschichte ich freilich erst jetzt, erzählt von der letzten Überlebenden des Clans, Godula Buchholz, kennen lerne. Die 1935 in Berlin geborene Tochter von Karl Buchholz (1901-1992), des Gründers von Buchhandlungen und Galerien in Berlin, Bukarest, Lissabon, New York, München und Bogota, beschreibt das Leben ihres Vaters. Er war das uneheliche Kind einer jungen Frau, die den kleinen Karl erst der Säuglingspflege überlässt, ihn dann bei einer Arbeiterfamilie in Pflege gibt, bis sich endlich ihre Schwester des sechsjährigen annimmt und ihn aufzieht. Tante Minna - sie wurde neunzig Jahre alt - schickt den eifrig lesenden Jungen bei einem Buchhändler in Frankfurt/Oder in die Lehre.

Zehn Jahre später ist er verheiratet und führt von der kleinen Berliner Wohnung aus, in der das Paar mit der Schwiegermutter lebt, eine eigene Versandbuchhandlung. Daraus wurden im Laufe der nächsten 15 Jahre allein in Berlin acht Buchhandlungen. Eine Erfolgsgeschichte im Dritten Reich, mit dem Dritten Reich, gegen das Dritte Reich. Die verfemten Autoren wurden noch lange in den Buchholz-Buchhandlungen verkauft und auch die Galerien führten die geschmähten Künstler. Die Berliner Galerie Buchholz wurde 1941 von den Nazis geschlossen. "Anlass war vermutlich eine Lithographie von Käthe Kollwitz, 'Hunger', die, wie man glaubte, eine Anspielung auf die Lebensmittelknappheit war." Trotz des Verbotes der Galerie organisierte Buchholz immer wieder Einzelausstellungen. Die Gründung der Galerie Buchholz - Curt Valentin 1937 in New York diente vor allem dem Zweck, die Werke von in Deutschland verbotenen Künstlern dort verkaufen zu können. Godula Buchholz hat die Geschichte ihrer Familie geschrieben. Damit einen Nachruf auf das, was Buchhandlungen einmal waren - Treffpunkte für Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler. Es ist ein sehr melancholisch stimmender Seitenblick auf die Pracht und die Verwüstungen des 20. Jahrhunderts.

Godula Buchholz: "Karl Buchholz". Buch- und Kunsthändler im 20. Jahrhundert. DuMont Verlag, Köln 2005. 272 Seiten, 260 s/w Abbildungen, 34,90 Euro. ISBN: 3832179437.


Raum für Korrekturen

Heute gibt es so klare Vorstellungen über die Ursachen von Terrorismus und über die aussichtsreichsten Methoden seiner Bekämpfung, dass es gut ist, sich einmal an einen Terrorismus zu erinnern, den man keiner fremden Religion zuschreiben konnte, der direkt aus dem deutschen Bildungsbürgertum stammte. Gelegenheit dazu bieten die Briefe, die das RAF-Gründungsmitglied Gudrun Ensslin in den Jahren 1972 und 1973 aus dem Gefängnis in Essen an ihre ein Jahr ältere Schwester Christiane und ihren sechs Jahre jüngeren Bruder Gottfried schrieb. Gudrun Ensslin bestellt Kosmetika, Kleidung und Bücher bei ihrer Schwester. Sie versucht auch - so weit das in einem von der Anstalt kontrollierten und zensierten Schriftverkehr möglich war - ihren Geschwistern klar zu machen, was und warum sie so denkt wie sie denkt.

Die beiden Adressaten attestieren in ihrem Vorwort vom Januar 2005 den Briefen "begriffliche Schärfe und Veranschaulichungskraft", von einer "hellwachen Semantik" ist die Rede und von einem "Familiengefühl für Stil und Qualität". Wer die Briefe liest, wird nichts davon finden. Stattdessen Sätze wie diese: "Die Revolution findet entsprechend der Entwicklung der Kapitalherrschaftsformen neue Formen, den Kampf zu führen. Stadtguerilla ist eine davon, da bin ich sicher. Nimm einmal einen Globus zur Hand und such' drauf mal alle Länder, von denen Du zwar nur in der Süddeutschen Zeitung oder Frankfurter Rundschau vielleicht liest: Spanien, Portugal, Griechenland, Frankreich, Italien, Irland, Bundesrepublik, Türkei, Persien, Philippinen, USA, Peru, Chile, Argentinien, Brasilien, Uruguay, Mexiko zum Beispiel, die mir auf Anhieb einfallen als Länder, in denen Revolutionäre Stadtguerilla versuchen; das vermittelt auch den zwangsläufigen internationalen Zusammenhang, der existiert schon allein aufgrund der Entwicklung, die das Kapital seit Marx genommen hat."

"Begriffliche Schärfe"? "Veranschaulichungskraft"? "Hellwache Semantik"? "Stil und Qualität"? Ganz sicher nicht. Es fällt nicht ein Argument. Die Schreiberin träumt sich - machtlos in ihrer Zelle - in die Rolle einer Kämpferin in einer den Globus umfassenden Bewegung. Man mag, ja man sollte dafür Verständnis haben, aber darum sollte man noch nicht glauben, man habe es mit einer sich durch "Genauigkeit und Schärfe" auszeichnenden Analyse der realen Verhältnisse zu tun. Die sich so ausführlich gebende Liste lässt übrigens die palästinensische Bewegung aus, dabei hatte die RAF zwei Jahre zuvor von der ihre militärische Ausbildung erhalten.

Falsch wäre es freilich auch Gudrun Ensslin aufgrund dieser aus Fertigware gestanzten Sätze für dumm zu halten. Sie war es ganz sicherlich nicht. Sie war eine, auch das zeigt dieser Briefwechsel, an Kunst, Literatur und Philosophie ganz außerordentlich interessierte Frau. Sie bestellte bei ihrer Schwester nicht nur Fanon, Lenin und Malcolm X, sondern auch Lautreamont, Pound und Wittgenstein. Der Terrorismus kam nicht von den Unterprivilegierten, den Ahnungslosen. Er wurde geboren mitten im best-ausgebildeten Segment der bundesrepublikanischen Bevölkerung. Gudrun Ensslin war sicher auch keine, deren Mordlust in der politischen Theorie eine willkommene Legitimation fand. Sie war im Gegenteil jemand, der durch langes, lesendes Training auf Empathie trainiert war.

Wenn heute über Terrorismus diskutiert wird, kommt selten der Gedanke auf, dass auch unter den muslimischen Terroristen viele sein könnten, die von Herkunft und Ausbildung her, von Wissen und Sensibilität her, eher mit Gudrun Ensslin als etwa mit dem Kleinkriminellen Andreas Baader verglichen werden könnten. Man bringt sich um die Frage, wie wird jemand Terrorist?, wenn man nicht davon ausgeht, dass man ebenso gut kein Terrorist hätte werden können. Man muss also nicht, man darf also nicht, nach einer Zwangsläufigkeit suchen. Weder in den Individuen, noch in den Verhältnissen.

Ihre Briefe geben keine Auskunft darüber, wie Gudrun Ensslin zur Terroristin wurde. Sie schaffen aber ein Verständnis dafür, wie sie, als sie schon in der Falle saß, sich oder doch jedenfalls ihren Geschwistern den Weg dorthin beschrieb. Am 16. November 1972 schrieb sie in einem Brief an ihre Schwester diese erschütternden Zeilen: "Zu dem, was wir über Dich geredet haben: weißt Du, das Allerwichtigste ist, dass Du bestimmst, welche von den vielen Möglichkeiten Dir passen. Und weil man sich in Einschätzungen irren kann, ist es wichtig, dass Du Dir den Raum freihältst, der Korrekturen genau dann, wenn sie nötig sind, zulässt." Exakt diese Lehre hatte Gudrun Ensslin nicht befolgt.

Gudrun Ensslin: "Zieht den Trennungsstrich jede Minute". Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973. Herausgegeben von Christiane Ensslin und Gottfried Ensslin. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2005. 198 Seiten, s/w Fotos, 15 Euro. ISBN: 3894582391. ()


Nazarener in Indien

Wer einmal in Indien oder auch nur in einem Indienshop in Deutschland war, der kennt die die Götter zeigenden knallbunten Farbdrucke. Sie sind in Indien in jedem Haus zu sehen. Der ganze hinduistische Götterhimmel ist zu haben, Buddhas in allen Varianten, die Heiligen der Sikhs und natürlich die Größen der indischen Politik. Aber auch Szenen aus Bollywood-Filmen, radikal antimuslimische Propagandaplakate und nationale Bilder, auf denen die friedlich vereinigten indischen Völkerschaften einer heiteren Zukunft entgegenblicken. Die Datierung dieser Werke bereitet dem ungeschulten Auge große Probleme. Manche Motive werden immer wieder nachgedruckt. Wen dieses Massenmedium interessiert, der wird in "Photos of the Gods" von Christopher Pinney aufgeklärt werden.

Er skizziert auf 230 Seiten in acht Kapiteln mittels mehr als 167 meist farbiger Abbildungen die Geschichte des farbigen Kunstdrucks in Indien. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eroberten die Farblithografien die privaten und die öffentlichen Räume Indiens. Die Voraussetzungen dafür wurden schnell geschaffen. Die neu gegründeten indischen Kunstinstitute bildeten Maler aus, die den alten Göttern neue, lebendigere - wenn man so will europäischere - Gesichter geben konnten. Die Drucktechnik verbilligte die Ware so sehr, dass Millionen sich einen Ganesh, einen Siva, eine Kali leisten konnten. Pinney macht klar, wie eng die Verbindung zwischen der nationalen Unabhängigkeitsbewegung und diesem neuen Medium war. Mit einem Schlag waren die alten Götter omnipräsent und sie waren es mittels modernster Technik und in einer Ästhetik, in der sich indische Tradition und die der - um es zugespitzter als Pinney zu sagen - Nazarener verband.

Die Besinnung auf die eigenen Traditionen geschah wie auch in der politischen nationalen Bewegung auf europäische Weise oder doch jedenfalls auf eine Art, die ohne europäisches Vorbild, zum Beispiel auch die Zentralperspektive, undenkbar gewesen wäre. Pinney beschäftigt sich aber nicht nur mit, so der Untertitel, "the printed image and political struggle in India". Er sieht sich die einzelnen Bilder auch sehr genau an. Er zeigt uns, wie manche Bilder südindische Bronzestatuen nachahmen, andere dagegen sich so sehr an Theateraufführungen orientieren, dass man annehmen muss, sie seien weniger als Götterbilder als vielmehr als Erinnerungen an Theaterabende, bei denen Szenen aus Götterkämpfen aufgeführt wurden, gedacht gewesen.

Pinney zeigt dem Leser auch, dass noch die scheinbar harmlosesten Bilder eine politische Botschaft transportierten, gegen die die englische Kolonialmacht nur schwer vorgehen konnte. Wenn zum Beispiel Rams Mutter gezeigt wird, wie sie einen Papagei aus dem Käfig holt, dann konnte der antikolonialistische Betrachter der Jahres 1880 darin mit Leichtigkeit eine Anklage gegen die bedrückende, die ganze Nation gefangen haltende Kolonialmacht sehen. Pinney lehrt uns sehen. Man begreift, dass die Abbildung eines indischen Chiefministers aus einem der noch nicht der englischen Krone unterworfenen Staaten für die bereits Kolonisierten ein Zeichen der Hoffnung war. Pinney macht uns klar, dass sich in ihnen oft Priester- und Kriegerkaste verbanden. Das stärkte die nationale Propaganda. Eine der besonders beliebten Abbildungen eines solchen Peshwas war die von Nana Phadnavis. So antikolonial der 1884 entstandene Druck gemeint war, er ging doch zurück auf ein Porträt des Ministers, das der englische Maler James Wales 1792 gemalt hatte. Offenbar ist Ost nicht Ost und West nicht West, es sei denn, die beiden kommen zusammen.

Christopher Pinney: "Photos of the Gods". The printed image and political struggle in India. Reaktion Books, London 2003. 239 Seiten, 167 meist farbige Abbildungen, 22,50 Pfund. ISBN: 1861891849.