Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
21.07.2003. Widmann ergeht sich am Neusiedlersee, begegnet einer leibhaftigen Christa Wolf, rätselt über einen Maler namens O LO und beruft sich nicht auf das Völkerrecht.
Ein notwendig abgekühltes Verhältnis

Robert Kagan arbeitete von 1984 bis 1998 im Außenministerium der USA. Heute lebt er in Brüssel. Sein kleines, an einem ruhigen Nachmittag zu lesendes Buch "Macht und Ohnmacht - Amerika und Europa in der neuen Weltordnung" ist das Klügste zum Thema.

Kagan macht klar: Es geht beim Streit zwischen den USA und Europa nicht um Recht und Moral. Er erinnert daran, dass im 19. Jahrhundert die USA gegenüber den expandierenden europäischen Kolonialmächten den Standpunkt vom unbedingten Vorrang des Völkerrechtes gegenüber den nationalen Interessen vehement vertraten. Damals also redete die Regierung in Washington so, wie heute die europäischen Staaten. Kagan nennt den Grund: Damals waren die USA schwach und die europäischen Staaten waren stark. Wer stark ist, spricht die Sprache der Macht. Der Schwache braucht das Recht. Solange die europäischen Staaten das Gefühl hatten, sie könnten auch gegen den Widerstand der anderen ihre Interessen militärisch durchsetzen, solange redeten sie so, wie sie es heute den USA vorwerfen.

Es handelt sich also nicht um zwei völlig verschiedene Rechtskulturen oder gar um unterschiedliche Zivilisationsstufen, sondern um gewissermaßen konjunkturelle Phänomene. Solange niemand die Möglichkeit hat, den USA etwas vorzuschreiben, solange die USA fähig sind, gleichzeitig an mehreren unterschiedlichen Kriegsschauplätzen die Oberhand zu behalten, solange wird dieses Machtgefälle die Unterschiede in den Vorstellungen von Völkerrecht und Krieg und Frieden immer wieder neu produzieren.

Kagan schreibt: "Ein britischer Kritiker der amerikanischen Neigung zu militärischen Aktionen erinnert an die alte Redensart: 'Wenn du einen Hammer hast, fangen alle Probleme an, wie Nägel auszusehen.' Das stimmt. Aber militärisch schwächere Staaten unterliegen der gegenteiligen Gefahr: Wenn du keinen Hammer hast, willst du nirgends einen Nagel sehen." Kagan hat Recht. Er hat immer wieder Recht. Das macht die Lektüre ein wenig fad. Man fände gern ein Haar in der Suppe. Aber Kagan hat alles im Griff. Er formuliert auch so gut, dass man gerne mit ihm lacht - über die Europäer zum Beispiel, die "nicht bereit sind, sich mit China zu verbünden, das bereit ist, sein Verteidigungsbudget zu erhöhen, um ein Gegengewicht zu den USA zu bilden. Stattdessen hoffen die Europäer darauf, die Macht der USA zu beschränken, ohne selbst Macht ausüben zu müssen. Sie trauen sich ein unerhörtes Meisterstück an Raffinesse zu: Sie möchten den Koloss dadurch bändigen, dass sie an sein Gewissen appellieren." An dieser Stelle hört man einen Augenblick lang das Echo eines von Kagan niemals erwähnten Autors, der sich über das Verhältnis Macht und Moral sehr ähnlich geäußert hat: Friedrich Nietzsche.

Aber Kagan ist kein aufgeregter Menschheitsbeglücker, sondern ein kühler Beobachter. Seine Überlegungen reflektieren die Lage. Das Verhältnis zwischen den USA und Europa ist nicht während der Vorbereitung des Irak-Krieges abgekühlt. Aber der Grund ist grundsätzlicher Natur. Solange die USA das Sagen haben und keiner die Macht hat zu widersprechen, ist es notwendiger Weise abgekühlt. Es sei denn, Europa verwandelte sich in eine Applausmaschine. Kagans Buch macht klar, dass wer die Macht will, das Machtspiel spielen muss. Wer es nicht spielt, hat es verloren. Das ist nicht verwerflich, aber es wäre naiv zu glauben, man könne beides haben: die Vorteile der Macht und die der Ohnmacht.

Robert Kagan, Macht und Ohnmacht - Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag Berlin 2003, 128 Seiten, 16 Euro. 3-88680-794-0. Bestellen.


Ein Versuch über den Schmerz

Christa Wolfs Erzählung "Leibhaftig" erschien im Februar 2002. Die Zeitungen sprechen nur noch über die Neuerscheinungen des kommenden Herbstes. So sollen die Journale es halten. Wir brauchen das nicht zu tun. Wir lesen und lesen wieder. Und gerade habe ich Christa Wolfs Erzählung wieder gelesen. Sie ist noch großartiger, als sie es bei der ersten Lektüre war. Es ist das mutigste Buch, das seit vielen, vielen Jahren auf deutsch erschienen ist. Die Autorin erwähnt Thomas Manns "Schwere Stunde" und die Kunstfertigkeit, mit der Mann in dieser kleinen Geschichte seine eigene Krise in der Schillers verbirgt und zugleich offenbart. Christa Wolfs Erzählung bedient sich keiner anderen Person. Christa Wolf spricht von sich. Aber wer das ist, bleibt unklar. Einmal sagt sie "ich", einmal "du", dann wieder aus gewaltigem Abstand "ihr". Das ist kein erzählerischer Trick, nicht die Attitüde eines heiter-verrückten "ich bin viele". Es ist der Zustand einer Person, die in äußerster Bedrängnis ihr Ich, über das sie einmal in aller Selbstverständlichkeit verfügte, zusammen zu halten versucht.

Der Schmerz reißt die klaren Trennungen von Innen und Außen ein. Die Patientin leidet an Tachykardie, einer Herzrhythmusstörung, bei der nicht der Sinusknoten, unser biologischer Herzschrittmacher, den Pulsschlag beschleunigt, sondern andere, dafür im Normalfalle nicht zuständige Herzzellen dieses Geschäft besorgen. Diese erläuternden Details findet der Leser nicht in Christa Wolfs Erzählung. Er findet sie in den Lexika, die er konsultiert, um klarer zu sehen. So wirkt das Buch nach. Man erkennt mit dem Pschyrembel in der Hand, wie lebensbedrohend es ist, wenn der eine sich ins Handwerk des anderen mischt. Bei Christa Wolf aber erfährt man, wie notwendig dieser Schrecken für den Fortgang der Geschichte - der großen, in der wir alle leben und der kleinen, die Christa Wolf uns erzählt - ist und wohl immer sein wird. Christa Wolf sagt uns das nicht. Wir erfahren es beim Lesen ihres Buches. Sie brauchte dieses Wissen als ein Gerüst, das ihr ermöglichte, dieses Buch zu schreiben. Wir - die Leser - brauchen es nicht. Wir haben ihr Buch.

Christa Wolf hat keine Angst vor dem Kitsch. Für einen intelligenten Autor gibt es kaum etwas, das größeren Mut erfordert. In "Leibhaftig" treten wie in einem lyrischen Drama um 1900 der Gevatter Tod auf, es gibt einen veritablen Engel, der eine schöne junge Frau ist wie vom Campo Santo di Genova, und mit dem fliegt die Erzählerin mal ernst schweigend, dann alles durchhechelnd übers nächtliche Berlin. Der Leser belächelt Christa Wolf, dann verfällt er ihr, und mitten im Überschwang schlägt er sich gegen die Stirn und sagt: "Die spinnt!" Und wie sie das tut, und wie wunderbar sie das tut!

Da ist die Stelle, wo die Erzählerin in einem Fiebertraum einen Mauerdurchbruch erlebt und erschrickt, als sie danach auf einem Terrain sich bewegt, das sich exakt spiegelbildlich zu dem verhält, in dem sie sich davor bewegte. Solche Stellen herausgreifen, heißt sie zerstören. Sie bekommen dadurch etwas Dumm-Allegorisches, das sie in der Geschichte, dessen lebendiger Teil sie ja sind, nicht haben. Man steckt schließlich mit der Erzählerin in ihrem Albtraum im Kellerlabyrinth, während der Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges, und man hatte dieses "exakt spiegelbildlich" nur als einen weiteren Schrecken gelesen, bis irgendeine überwache und darum etwas langsamere graue Zelle die weiterschweifenden Augen anhält und dem dadurch in einen wilden Erregungszustand versetzten Verstand mitteilt, was Christa Wolf da gerade mit ihm gemacht hat.

Der Schluss, wie ist der Schluss? fragt jeder Christa Wolf-Leser. Sie liebt Schlüsse, sie orchestriert sie. Es gibt Scheinschlüsse bei ihr. Daran sieht man, dass ihre Texte gesprochen gehören. Man sollte nicht sehen, dass noch ein paar Seiten kommen, dass also noch gar nicht Schluss sein kann. "Leibhaftig" hat einen ersten sehr schönen Schluss auf Seite 171 von 185 Seiten: "Sie lieben das Leben?" "Ja." Wäre das der Schluss, dann wäre klar: das "happy end" ist das Leben, das wir alle führen, so lange wir keine Schmerzen haben. Aber dann kommen noch ein paar Gespräche über die DDR, traurige Nachrufe, Versuche der Befreiung aus einer Illusion, die auch eine Schuld war. Das Wort "Sünde" fällt. Und dann, nachdem sie sich vom Engel, der sie dem Tode abgejagt hatte, verabschiedet hat, kommen die definitiv letzten Worte:

"Du sollst ja nicht weinen, sagst du.
Das, sage ich, steht auch in einem Gedicht."

Das ist sehr schön. Nicht nur, weil das letzte Wort dieser ergreifenden Erzählung "Gedicht" ist. Es hat auch etwas von einem Rondo, wenn der Schluss eines Textes auf einen anderen verweist, der ein Neuanfang sein könnte. Es ist weniger Neugierde, die mich nach dem "Gedicht" suchen lässt, das Christa Wolf meint. Ich will einfach noch nicht aufhören mit "Leibhaftig". Also gehe ich den Weg weiter, den Christa Wolf zeigt. Es ist ein berühmtes Gedicht. Seit seiner Erstveröffentlichung 1968 in Enzensbergers "Kursbuch" heißt es "Enigma". Ingeborg Bachmann hat es geschrieben. Gewidmet war es "Für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi". Die Schlussverse lauten:

"Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.
Sonst
sagt
niemand
etwas."

Henzes Ariosi waren die Klagelieder eines verlassenen, todessehnsüchtigen Menschen. Ingeborg Bachmanns Gedicht ist eine geistvoll-humane, ja witzige Replik: "Sonst sagt niemand etwas" sagt sie. Man sollte das als Trost lesen. Das Geschwätz hat ein Ende, aber die, die du hören möchtest, sie spricht. Das ist am Ende eines in einem Fieberrausch gelesenen Buches, ein sehr, sehr sanftes, ein gelöstes Ende. Ein Andante.

Wer Gustav Mahlers dritte Sinfonie kennt, der weiß, woher Ingeborg Bachmann die Zeile "Du sollst ja nicht weinen" her hat. Er weiß auch, dass der von Glockengeläut begleitete fünfte Satz, in dem "Du sollst ja nicht weinen" steht, laut Mahler "lustig im Tempo und keck im Ausdruck" vorgetragen gehört. Das "Du sollst ja nicht weinen" singen die Engel einer sündigen Seele. Mahler hat diesen Satz dem "Armer Kinder Bettlerlied" aus des Knaben Wunderhorn, das er in seine dritte Sinfonie einbettete, hinzu gefügt. "Du sollst ja nicht weinen" hat da nichts Resignatives, nicht einmal etwas Melancholisches. Es ist eine frohe Botschaft, ja es klingt ein wenig so, als würde eine Mutter zu einem verzweifelten Kind sagen: Jetzt höre auf mit der Heulerei, lass gut sein. Gustav Mahler hat übrigens das Glockenspiel für den fünften Satz, nach dem er lange gesucht hatte, schließlich im Dezember 1895 in Berlin gefunden. Das wird Christa Wolf freuen. Auch wenn es eine Gießerei in Zehlendorf war.

Christa Wolf, Leibhaftig, Luchterhand Literaturverlag, München 2002, 185 Seiten, 18 Euro ISBN 3-630-87112-7. Bestellen.


O LO heißt das Buch

Giambattista Tiepolo (1696-1770) ist einer der überzeugendsten Belege dafür, dass große Kunst sehr affirmativ sein kann. Kaum jemand hat vor oder nach ihm sich so sehr auf die Entfaltung von überwältigender Herrlichkeit verstanden wie der Venezianer. Er ist der Erfinder der weißblauen Himmelspracht, und niemand stemmt den rechten Arm so lässig auf die Hüften wie Tiepolos Engel. Seine Nackten sind immer schön. Vom babyspeckigem Cupido bis zur Greisenbrust des Heiligen Bartholomäus. Die Liebhaber von Anzüglichkeiten schätzen die Geste, mit der Amor den gewaltigen Hintern der schlafenden Danae dem Betrachter enthüllt. Wer hätte sich nicht amüsiert beim Blick hinauf zum Deckenfresko der Würzburger Bischofsresidenz, als ihm der Museumsführer erklärte, dass die Herren, die von dort oben so betont desinteressiert auf ihn herabsehen, eben jene Herren sind, denen wir die ganze Pracht dieser Decke verdanken. Unter ihnen Giambattista mit seinem Sohn Giandomenico und das Architekturgenie Balthasar Neumann, breitköpfig, dickwangig in der Uniform eines Leutnants der Artillerie. Sie lassen es sich gut gehen, schweben weit über uns im Vorhimmel. Neben diesen Bildern, die keine Handlung erzählen, sondern einfach nur prächtig sind, gibt es Heiligengeschichten, Hochzeiten, Bankette und die literarischen Fresken in der Villa Valmarana bei Vicenza. Sie schildern Szenen aus den Werken von Homer, Vergil, Ariost und Tasso. Wer davor stand, wird niemals den festen Griff vergessen, mit dem die heran eilende Minerva Achill am Schopf packt, um zu verhindern, dass der Rasende Agamemnon tötet. Oder die innige Drehung, mit der Rinaldo sich zu Armida wendet. Giambattista Tiepolo gehört zum Schönsten, was das alte Europa der Welt geschenkt hat. Die Abbildungen in dem bei DuMont erschienenen Band von Filippo Pedrocco machen das jedem klar.

Leider ist da noch der Text. Möchte man von jemandem über Kunst aufgeklärt werden, der es fertig bringt, Tiepolos Wandlungsfähigkeit dadurch zu rühmen, dass er ihm attestiert "sowohl im Stil des Spätbarock als auch in dem des beginnenden Rokoko zu malen"? Filippo Pedrocco hat nicht begriffen, dass die Abstraktionen der Kunsthistoriker den Künstlern folgen und nicht umgekehrt. Wer weiter liest, beginnt nicht nur Pedroccos Verstand, sondern auch seinen Augen zu misstrauen. Pedrocco betont zwar, dass dem Heiligen Bartholomäus und Abraham derselbe Mann Modell stand, aber er merkt nicht, dass der junge Mann, der den Heiligen in Händen hält, offensichtlich auch den Isaak spielte. Als Cicerone hätte man schon gerne einen etwas aufmerksameren Betrachter. Wenn Tiepolo einen Hund das Blut eines Märtyrers auflecken lässt, dann sieht Pedrocco nicht den Realismus mitten in Tiepolos Verklärungslust, sondern er spricht von einer "narrativen Entgleisung". Ein wenig zu viel Etepete für das 21. Jahrhundert.

Am verrücktesten freilich ist der Umschlag des Buches. Hier wurde "Groothuis, Lohfert, Consorten" erlaubt, über Tiepolo zu triumphieren. Kein Bild des Venezianers ziert ihn, sondern eine den ganzen Umschlag beherrschende Typographie. Vorne steht O L O, hinten T I E, auf dem Rücken P. Wie gaga sind die Herrschaften bei DuMont? Sie hätten Groothuis, Lohfert, Consorten, als sie diesen Entwurf brachten, hochkantig rausschmeißen sollen. Sie ließen sie gewähren, setzten - einzig - einen winzigen Kompromiss durch: Unter dem O L O steht jetzt klein Tiepolo. So großartig die Innengestaltung des Buches ist, man hasst es für diesen Kotau vor den dummen Modemacken einiger Typographie-Spezialisten.

1995 erschien ein großer Tiepolo-Band bei Hirmer. Er liegt jetzt in einer unveränderten, billigeren Ausgabe vor. Die Autoren waren Massimo Genin und Filippo Pedrocco. Die Bild- und textlichen Überschneidungen sind verständlicher Weise immens. An vielen Stellen gewinnt man den Eindruck, der DuMont-Band sei, was den Text angeht, eine Zusammenfassung des bei Hirmer erschienenen Buches. Der Werkkatalog freilich ist im neuen Buch wesentlich ausführlicher. Dafür zeigt der Umschlag des alten Bandes - ganz konventionell, aber sehr prächtig - Tiepolo.

Filippo Pedrocco, Tiepolo, übersetzt von Suzanne Fischer und Petra Trinkaus, DuMont Verlag, Köln, 2003, 342 S. mit ca. 120 ganz- u. doppelseitigen farb. u. 290 einf. Abb., 78,00 Euro ISBN 3832172297. Bestellen.

Massimo Gemin, Filippo Pedrocco: Giambattista Tiepolo, Leben und Werk, aus dem Italienischen von Ulrike Bauer-Eberhardt, Hirmer Verlag, München, 2003, Sonderausgabe, 294 Seiten mit 145 Abbildungen in Farbe. 39,90 Euro ISBN 3-7774-6745-5. Bestellen.


Eine Art von Schönheit

Die Fotos von Manfred Horvath sind von jener fetten Prächtigkeit, um deretwillen das Blättern in teuren Reisemagazinen einem so schwer fällt. Ein Weinkeller - golden wie bei Jack Daniels. Draußen liebt Horvath das lange Schatten werfende Abendlicht. Die Schönheit, nach der er strebt, weckt Ekelgefühle bei den Anhängern einer strengen Arte Povera. Sie blättern in "Der Neusiedler See" und legen das Buch wieder weg. Ein Fehler. Sie sollten es lesen. Wenn Sie hinfahren wollen, um dort Urlaub zu machen, müssen Sie es lesen. Lesen Sie es, so werden Sie hinfahren und Urlaub dort machen.

Sie werden nicht genau wissen, wo. Denn auf den 207 Seiten war kein Platz für eine Karte. Aber die kleine Anstrengung, nach einem Atlas zu greifen und sich klar zu machen, wo dieses Nordburgenland und in ihm der Neusiedlersee liegt, macht man gerne. Denn der Autor hat einen hineingezogen in eine Schönheit, die nichts zu tun hat mit der Oberflächenglätte der Fotos. Oliver Lehmann, so heißt er, erzählt vom See und seiner Geschichte, von den Menschen, die dort leben und lebten, von Pflanzen und Tieren.

Er ist klug und man spürt, wie man, hört man ihm nur ruhig zu, klüger wird. Das ist seine Art von Schönheit. Sie ist unwiderstehlich. "Das kapriziöse Gewässer teilt mit Atter-, Wörther- und Bodensee nicht mehr als den Aggregatzustand: im Durchschnitt eineinhalb Meter tief, ohne wirklich relevante Zuflüsse, mit einem hydrografischen Einzugsgebiet, das nur dreimal so groß wie der See selbst ist (das Einzugsgebiet des Zeller Sees ist 12-mal, des Bodensees 20-mal, das des Traunsees 55-mal größer). Außerdem verschwindet er immer wieder völlig von der Erdoberfläche, zuletzt zwischen 1865 und 1872." An diesem See, der immer mal wieder auch keiner ist, haben seit Jahrtausenden die unterschiedlichsten Völker sich niedergelassen. Lehmann schwelgt darin wie jene Biologen, die nicht müde werden die Artenvielfalt des tropischen Regenwaldes zu preisen. Er tut das fast immer mit Zahlen und Zitaten.

So erinnert er seine Leser, und ich nun die dieser Rezension, an das Testament des ersten getauften Ungarnkönigs, Stefan I. (969-1038). Der erklärte darin seinem Sohn, er solle die Zuwanderer in Ehren halten, "denn aus wie viel Ländern Gäste kommen, so viele verschiedene Sprachen und Gewohnheiten bringen sie mit, die alle den Königshof schmücken und heben und die Anmaßung der Feinde in Schrecken setzen; denn ein Reich von nur einer Sprache und nur einer Sitte ist schwach und zerbrechlich." Die Vorstellung, wir hätten es in den letzten eintausend Jahren signifikant weiter gebracht, ist sehr verbreitet, aber dieses Wort des Heiligen Stefan lässt mich daran zweifeln.

Das Buch mit dem Untertitel "Natur- und Kulturlandschaft" ist auch ein Reiseführer mit sehr genauen Empfehlungen. Jedenfalls was Restaurants und Weinlokale angeht. Joseph Haydn und die Esterhazys spielen tragende Rollen in Lehmanns Erzählungen vom Neusiedler See, aber auch das Liebesleben der Brachvögel und Großtrappen beschreibt er so, dass man sofort mitmachen möchte. Allerdings er ist ein Gentleman, und wo es gar zu unzüchtig wird, da bricht er seine Erzählung ab und hilft den gar zu Neugierigen nur mit dem Hinweis Mose 9,20 weiter. Lehmanns aufgeklärte Heiterkeit, seine animierende Neugierde und seine niemals nachlassende Freude am Exakten wirken ansteckend, und ich werde nicht der einzige Leser sein, den er weitergetrieben hat zu Peter Esterhazy, James A. Michener - ja, ja der auch! -, Gerhard Roth, György Sebestyen und Franz Werfel. Am Ende werden wir uns alle treffen in den von Lehmann so beredt gepriesenen Lokalitäten "Taubenkobel" und "Blaue Gans". Oliver Lehmann ist ein großer Verführer. Selbst die Fotos hat man auf Seite 201 fast lieb gewonnen.

Oliver Lehmann, Manfred Horvath, Der Neusiedlersee - Natur- und Kulturlandschaft, Christian Brandstätter Verlag, Wien, 2002, 176 Seiten mit ca. 150 Farb-Abbildungen, 208 Seiten, 72 Euro ISBN 3-85498-011-6. .