Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
27.05.2003. Der Schmerz der anderen, ein großes Ja, Gottesliebe: Arno Widmann hat Bücher von Michael Kohlhaase, Susan Sontag, Ana Nobre de Gusmao, Istvan Eörsi, Claudia Scherer, Ulla Berkewicz und Wolfgang Büscher vom Nachttisch geräumt.
Kohlhaase

Als 1978 Wolfgang Kohlhaases erstes Buch "Silvester mit Balzac" erschien, hieß es im Klappentext, es sei das Erstlingswerk eines für seine Bücher berühmten Mannes. Das war die Wahrheit: Wolfgang Kohlhaase (Bild) war einer der bekanntesten Drehbuchautoren der DDR. Zu seinen Filmen gehören "Berlin-Ecke Schönhauser" und natürlich "Solo Sunny". Er arbeitete u.a. mit den Regisseuren Volker Schlöndorff, Bernhard Wicki und Konrad Wolf. Für Philipp Stölzls ersten Spielfilm "Baby" schrieb Wolfgang Kohlhaase das Drehbuch. Sein Ruhm als Drehbuchautor stand dem des Erzählers Kohlhaase von Anfang an im Wege. Aber es gab Leser, die, wann immer sie zum Beispiel auf der farbigen Banderole um Sinn und Form den Namen Wolfgang Kohlhaase entdeckten, die vier Mark für das Heft hinlegten, um etwa im September 1982 sein Gespräch mit Konrad Wolf zu lesen. Damals war der Fast-Nichts-Veröffentlicher Sekretär der Sektion Literatur und Sprachpflege der Akademie der Künste der DDR.

Die früheste Veröffentlichung unter seinem Namen fand ich im "Illustrierten Blatt der jungen Generation" Start vom 7. Januar 1949. "Mondsucht" ist der Titel des Artikels. Kohlhaase leistet ein gewaltiges Stück Empathie. Der noch nicht einmal achtzehnjährige Journalist fantasiert sich in den Kopf des damaligen US-Außenministers, der in der kleinen Erzählung zu James F. Forrestal mutiert, und träumt in dieser Rolle von einem System künstlicher, die Erde umkreisender Monde, auf denen sich Atomraketen stationieren ließen, die dann in aller Ruhe die Erde beschießen könnten. Wir wissen nicht, ob John Foster Dulles damals wirklich solche Träume hegte, aber wir wissen, dass Wolfgang Kohlhaase damals einen sehr kühnen, aber gerade darum beneidenswert realistischen Blick in die Zukunft warf. Heute, da der amerikanische Kongress dabei ist, solche "Mondsucht" zu finanzieren, ist Wolfgang Kohlhaase 73 Jahre alt, und noch immer weiß die Gesellschaft, in der er lebt, ihn nicht zu nutzen. Dabei könnte er so viel beitragen zur Aufklärung über uns. Zu seinem schlafwandlerisch sicheren Blick in die Zukunft ist im Laufe der Jahre ein ebenso realistischer auf die Vergangenheit gekommen.

Wir sollten beginnen, von Wolfgang Kohlhaase Gebrauch zu machen. Ein Anfang wäre, sein alter Verlag, der Aufbau-Verlag, würde seine gesammelten Erzählungen herausbringen. Mit einem nicht zu kurzen Nachwort von ihm, in dem er auf ihre Entstehungsumstände einginge. Das Buch wäre eine kleine, sehr persönliche Geschichte der DDR und der Jahre, die ihr vorangingen und ihr folgten. Die ersten Erzählungen sind bei allem Realismus zart gezeichnete Bilder der Liebe mitten im Krieg. Sie nehmen den Leser in Beschlag, er folgt ihnen Seite für Seite. Auch und gerade wenn er das eine oder andere nicht versteht. Zum Erzählen, das weiß Kohlhaase, das wusste er von Anfang an, gehört das Rätsel. Wer die Reaktionen der Menschen beschreibt, der weiß um ihre Unberechenbarkeit. Manches dagegen, das damals, als Kohlhaase die Geschichte veröffentlichte, eine exakt kalkulierte Anspielung war, mag uns erst heute rätselhaft erscheinen. Zum Beispiel wenn es von den Plakaten der russischen Besatzungsmacht heißt "sie begannen mit dem ungewohnten Wort 'Bürger'", dann mag 1978 der Leser gelächelt haben, denn so oft er als "Bürger der DDR" angesprochen wurde, so wenig hielt man doch von seinem Bürgertum.

Kohlhaases Erzählungen sind voll solcher Doppelbödigkeiten. Bei aller freundlichen Zartheit, die er gegenüber der Menschheit an den Tag legt, so kennt er sie zu genau, um sie sich nicht auch mit Hilfe einer sehr persönlichen Ironie vom Leibe zu halten. Eine seiner eindrücklichsten Erzählungen handelt von einem Überlebenskünstler, der vorgibt, seinem KZ-Aufseher Persisch beizubringen, eine Sprache, die er nicht kann. Er erfindet also Grammatik und Vokabular, Redewendungen. Der SS-Mann lernt - noch vor dem Mai 1945, da beide, auf getrennten Wegen, heil das Lager verlassen, wie man höflich ist auf persisch: "Ich bin ein Herr aus dem Ausland. Ich bin Geschäftsmann. Darf ich mit der Dame tanzen? Ta muli asa okadir. Ta muli lem basarmelko. Neli ta ramadamda donga?" Man beachte basarmelko heißt Geschäftsmann, und ist die kleine syntaktische Veränderung, die das Tanzen - "ramadamda" - vor die Dame rückt, nicht wunderbar? Man sieht den Witz des Knechts und den Schweiß des Herrn, aber man vergisst keine Sekunde, wie viel Schweiß den Knecht sein Witz gekostet hat.

Hochgeschätzter Bernd F. Lunkewitz, nehmen Sie "Silvester mit Balzac" zur Hand, dann werden Sie begeistert Wolfgang Kohlhaase anrufen und ihn bitten, im Aufbau-Verlag einen Band seiner Erzählungen herausbringen. Aber eilen Sie sich.

Wolfgang Kohlhaase, Silvester mit Balzac und andere Erzählungen, Aufbau-Verlag 1978 (nur noch antiquarisch)


Meisterstück

Eine Frau ist ihrem Mann und dessen Geliebter aus Lissabon nach New York gefolgt. Sie rast vor Eifersucht. Sie will ihren Verletzer verletzen. Am Ende ist ihr Mann tot. Es macht Spaß, diesen Krimi zu lesen. Man ist schnell fertig damit. Man bewundert die Kälte, mit der er konstruiert ist. Es macht der Autorin Ana Nobre de Gusmao nichts aus, dass das Skelett der Geschichte an jeder Stelle durchscheint. Sie fürchtet nicht die Verstimmung derer, die die Absicht spüren. Sie scheint im Gegenteil davon auszugehen, dass ihr emphatisches Porträt einer Betrogenen und die Banalität des Betrügers erst erträglich werden durch den stets gerne offerierten Blick auf die Struktur der Geschichte, in der sie erzählt werden.

Der große Erfolg des Buches in Portugal mag damit zusammenhängen. Es befriedigt die Lust auf Geschichten, und gleichzeitig erlaubt es eine blinzelnde Distanzierung davon. Dabei ist es frei von Ironie. Es sei denn, man betrachte, einer großen Tradition folgend, die Tatsache, dass es auf jeder Seite als Erzählung sich zeigt, schon als solche. "Spiegel der Angst" ist die geschickte Verbindung von Betroffenheitsprosa mit dem Spaß an der die Betroffenen sich vom Leib haltenden Konstruktion. Das hätte auch sehr daneben gehen und Ana Nobre de Gusmao hätte beide Spezies von Lesern verstoßen können. Stattdessen gelang es ihr, mit ihrer Collage beide zu gewinnen. Man nannte früher, als das Schreiben noch ein Handwerk schien, so etwas ein Meisterstück.

Ana Nobre de Gusmao, Spiegel der Angst, Roman, aus dem Portugiesischen von Ulrich Kunzmann, Weidle Verlag, Bonn 2002, 171 Seiten, 19 Euro. ISBN 3-931135-64-0.


Schmerz

Wer die letzten Jahre aufgehört hat, Susan Sontags Bücher zu lesen, weil er nicht zusehen wollte, wie eine der klügsten Autorinnen freiwillig auf die Benutzung ihres Verstandes verzichtete, um langweilig-konventionelle Romane zu schreiben, der hat jetzt das große Vergnügen, wieder einen Essay von ihr zu bekommen, der nicht nur thematisch an "On Photography" von 1977 anknüpft, sondern auch wieder scharfsinnig analysiert und souverän urteilt wie sonst kaum jemand. "Regarding the Pain of Others" heißt das Buch. Es ist gerade in den USA erschienen. Im Herbst soll es in Deutschland im Hanser-Verlag herauskommen. Von Goltzius über Goyas "Desastres de la Guerra", Capas Fotos vom spanischen Bürgerkrieg bis zu den Bildern der jüngsten Schrecken. Sie betrachtet sie alle, beugt sich über sie und versucht dahinter zu kommen, wie sie haushalten zwischen Ekel und Lust.

Herausgekommen ist der Entwurf zu einer Kritik der ästhetischen Ökonomie des Grauens. Susan Sontag berichtet von Aufnahmen, die der Betrachter heute wahrnimmt als Ausdruck des Entsetzens vor den auf ihnen festgehaltenen Untaten, die aber von den Fotografen, die auch die Täter waren, als Verherrlichung ihrer Werke begriffen wurden. Sie zeigt, wie Salgados berühmte Emigranten-Fotos ihren Effekt gerade der Tatsache verdanken, dass sie die Machtlosen auf ihre Machtlosigkeit reduzieren. Eine hoffnungsraubende - schlimmer noch: die Wirklichkeit nicht darstellende, sondern verstellende - Manipulation. Der Leser merkt, dafür sorgt die Autorin, dass die Fotografen es nicht Recht machen können. Was sie auf der einen Seite an Mitleiderzeugung durch Rückgriff auf vertraute Pathosformeln leisten mögen, verkleistert auf der anderen Seite den Blick auf die Realität. Susan Sontag ist viel zu klug, um der Illusion anzuhängen, die Bilder könnten die Realität einholen. Sie weiß, dass sie immer Konstruktionen sind. Sie weiß aber auch, dass es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen. Capas berühmtes Bild eines vom Schuss getroffenen republikanischen Soldaten aus dem Jahre 1937, hat seinen Wert nicht als Kunstwerk, sondern als Dokument. Der wahrscheinlich angebrachte Verdacht, es handele sich um ein gestelltes Bild, entwertet es.

Susan Sontag erinnert daran, dass wir die ersten Kriegsfotos einem "embedded journalist" verdanken. Prinz Albert, der Gemahl der Königin Victoria, hatte 1855 die britische Regierung angeregt, Roger Fenton, einen bekannten Fotografen in den Krimkrieg mit zu nehmen und unter die Fittiche der Militärs zu nehmen. Erklärter Zweck der Aktion war, durch seine Aufnahmen ein positives Bild vom - nicht zuletzt durch die immer kritischere Berichterstattung der schreibenden Kollegen - zunehmend unbeliebter werdenden Krieg zu liefern. Die Probleme haben sich nicht geändert. Sie haben sich verschärft. Durch die Geschwindigkeit und durch die Kosten.

Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, Farrar, Straus and Giroux, New York 2003, 131 Seiten, 18.38 Euro ISBN: 0-374-24858-3.


Ein großes Ja

An den Texten des1931 geborenen ungarischen Autors und Essayisten Istvan Eörsi reizt immer wieder sein Witz, sein hoch entwickelter Sinn für die Freuden das Paradoxen. "Der rätselhafte Charme der Freiheit - Versuche über das Neinsagen" heißt eine Sammlung seiner Essays. Sie erschienen ursprünglich zwischen 1985 und 2003. Es macht Spaß, sie wieder zu lesen. Sie haben nichts von ihrer Widerspenstigkeit, von ihrer heiteren Klarheit verloren. Die Patina, die sich auf sie gelegt hat, hat ihnen nichts von ihrer beharrlichen Zudringlichkeit genommen. Sie sind nicht nur noch ebenso stark wie damals. Sie haben an Stärke zugenommen. Denn heute sind sie auch Ausdruck, Dokumente einer Zeit, einer verschwundenen Art zu denken und zu argumentieren.

Man lese aus dem Jahre 1985 "Der Sowjetmensch: ein verlorenes Vorbild". Eörsi erzählt von der Gusew-Gasse in Budapest. Sie wurde nach dem zweiten Weltkrieg benannt nach einem russischen Offizier, der sich 1848 auf die Seite der ungarischen Revolutionäre geschlagen hatte und dafür 1849 hingerichtet wurde. Es hat diesen Gusew nicht gegeben. Er war eine Erfindung des stalinistischen ungarischen Autors Bela Illes. Jeder wusste das, aber keiner durfte es sagen. Eörsi schrieb 1985: "Wir wissen, es ist nicht wahr, und die Macht weiß es auch, und wir wissen ebenfalls, dass sie wissen, dass wir es wissen, doch wir tun so, als wäre nichts geschehen. Dieses 'so tun als ob' ist heutzutage in den Ländern Mittel- und Osteuropas die allgemeine politische Haltung - nicht nur im Zusammenhang mit Gusew und dem importierten Ideal des Sowjetmenschen."

Eörsis wacher Blick auf die Welt richtet sich ebenso kritisch auf sich selbst. Er erinnert sich, bei der Nachricht von Stalins Tod im März 1953 geweint und im Juni 1953 glücklich der Regierungserklärung Imre Nagys gelauscht zu haben, als der dem Stalinismus den Kampf ansagte. Eörsi liebt die Widersprüche, in die auch die Intelligentesten sich verstricken, so lange sie leben. Das macht ihn weise. Zu dieser Weisheit gehört seine Treue. Wer seinen Artikel "der unliebsame Lukacs" aus dem Jahr 1986 liest - veröffentlicht wurde er erst 1993 -, der erfährt nicht nur etwas über die Schwierigkeiten eines treuen Dieners seiner Kirche mit dem sacrificium intellectus, sondern er beginnt auch zu ahnen, wie groß das Verlangen werden kann, etwas zu geben - gerade denen, die es nicht haben wollen. Eörsi sieht auf seinen Lehrer voller Bewunderung und voller Mitleid. Dass beides und beides zugleich möglich ist, das sollten wir von ihm zu lernen versuchen. Die "Versuche über das Neinsagen" sind für die, die sie zu lesen verstehen, ein großes Ja zum, eine Liebeserklärung an das Leben. (Einen Essay von Eörsi, "Grenzen und Grenzfälle", finden Sie hier.)

Istvan Eörsi, Der rätselhafte Charme der Freiheit - Versuche über das Neinsagen, aus dem Ungarischen von Anna Gara-Bak, Peter Mate, Gregor Mayer, Angela Plöger und Hans Skirecki, Edition Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003, 198 Seiten, 10 Euro ISB 3-518-12271-1.


Gottesliebe

Claudia Scherer
veröffentlicht ihre Gedichte in Schwäbisch und Hochdeutsch. Als Einsprachler steht man den schwäbischen Texten einigermaßen hilflos gegenüber. Man weiß nicht, ob die Komik, die man ihnen abgewinnt, nicht doch eher ungewollt ist.

Vielleicht aber ist es einfach so, dass der Autorin im Schwäbischen die Durchdringung von Spaß und Ernst leichter über die Lippen kommt als im Hochdeutschen:

bescherung

die schenscht
bescherung
sind wiedr emol
träne
was wär au
so e fescht
ohne die zuchtperle.

Die letzte Zeile, in der das Schwäbische keine Spur hinterlassen hat, verwirrt ganz unverhältnismäßig. Man kommt auf den Gedanken: So ist leicht dichten. Mehrbödigkeit stellt sich fast von selbst her. Es gibt Texte von Claudia Scherer, die rufen einem in Erinnerung, dass man Hegel auf Schwäbisch lesen muss, um ihn zu verstehen:

traur

gege stand
wo de it vrlupfsch
verschlupfsch di
in en dunkle winkl
s gibt ibrall ecke
im e runde leabe

Die meisten ihrer Gedichte handeln von Liebe, aber manchmal verschwindet das Objekt. Die sind gelungen:

traum

zählen möchte ich
die flecken und punkte
auf deiner glückshaut
wie sterne leuchten sie
seit du mir verloren bist
namen möchte ich geben
den sternen auf deiner haut
wie du vor meiner zeit
den sternen namen gabst
in einer fernen nacht
bestehen möchte ich
den tag der mit dir
zur nacht geworden

Da wandelt sich das irdische Vergnügen in die himmlische Liebe zu Gott und wieder zurück. Ohne dass man sagen könnte, wo genau es passiert und vielleicht stimmt es ja nicht. Vielleicht passiert gar nichts. Aber eine Sehnsucht ist da.

Claudia Scherer, viel-liebchen-spiel, Gedichte, Klöpfer und Meyer, Tübingen 2003, 85 Seiten, 14,80 Euro ISBN 3-421-05763-X.


Geburt eines Mythos

Gershom Scholem
(Biografie) war der beste Kenner der jüdischen Mystik. Mehr als sechzig Jahre hatte er sie erforscht. Als der groß gewachsene schlaksige alte Mann - er war Sohn eines Berliner Druckereibesitzers - kurz vor seinem Tode wieder einmal in Berlin war, wurde er danach gefragt, ob er denn an die Kabbala glaube, der er so viel seiner Lebenszeit geschenkt habe. Er schob die Frage beiseite. "Man glaubt nicht an die Kabbala" sagte er und rief den nächsten Frager aus dem Publikum auf. Wer sich für das rätselvolle Spiel zwischen Wissen und Glauben, zwischen Forschung und Offenbarung interessiert, der wird immer wieder bei Scholem nachlesen. Im Lauf der Lektüre wird er immer wieder auf Stellen stoßen, da glaubt er hinter dem wissenschaftlichen Text den Geist des Forschers zu spüren, ein Engagement, das mehr ist als die Freude über die Entdeckung eines Textes, einer alles neu beleuchtenden Bedeutungsnuance.

Das ist nicht der Persönlichkeitskult der Nachgeborenen. Schon seine Kinderfreunde fragten sich und ihn, ob er wirklich nur Erforscher der Kabbala war oder nicht doch ein großer Kabbalist. Er war sarkastisch und witzig, aber es hat in allen Religionen immer auch heilige Männer gegeben, deren oberste Tugend nicht die Sanftmut war. Scholems wäre nicht der einzige blitzklare Verstand gewesen, der sich zusammengetan hätte mit den wildesten Mystizismen. Aber Klarheit war darüber von ihm nicht zu bekommen.

Ulla Berkewicz erzählt in einem kleinen, schon um dieser Geschichte willen epochalen Büchlein, eine Anekdote aus dem letzten großen Kriege. Wie jeder Mythos wird auch der von Scholem von Mund zu Mund weitergetragen. So berichtet Berkewicz, was ihr Fania Scholem, die Witwe des Helden erzählt hat: "1940 kamen die sieben größten praktizierenden Kabbalisten der Welt zu uns nach Jerusalem in die Abarbanelstraße an unseren Küchentisch und wollten das eine Wort von Gerhard haben, das einzige, das Wort, das Hitler tötet. Die sieben größten praktizierenden Kabbalisten saßen vom Abendstern zum Morgenstern, beschworen Gerhard des einzigen Wortes wegen." Aber er sagt es nicht, "weil er gewusst hat, dass er nicht eingreifen darf in den Ablauf der Geschichte."

Das ist eine billige Ausflucht, eine feierliche Geste, aber es ist auch die Wahrheit über zweierlei Wissen. Die Kabbalisten, die Scholem besuchten, "die größten praktizierenden Kabbalisten der Welt", waren noch keine wirklichen Kabbalisten. Sie waren wie Wissenschaftler, die wissen wollen, um eingreifen zu können. Der Kabbalist dagegen, der es geschafft hat, wirklich einer zu sein, der weiß, aber weil er weiß, weiß er auch, dass er nicht eingreifen darf. Er weiß, weil er schaut. Täte er etwas, er wüsste nichts mehr. Dass die Geschichte endet mit einem Auftritt Hans Jonas', eines Wissenschaftlers, der sich, je älter er wurde, desto mehr für die Grenzen der Wissenschaft interessierte, ist eine schöne Pointe. Sie passt in den satirischen Ton dieser buffonesken Variante des entstehenden Scholem-Mythos.

Ulla Berkewicz, Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, 128 Seiten, 14,90 Euro ISBN 3-518-41379-1.


Nach Moskau!

In Tolotschin in Belarus lernt Wolfgang Büscher zwei Frauen kennen, die hier zwar zu Hause sind, aber Jahr für Jahr sechs Monate in Beirut kellnern. Wenn ihr Visum abgelaufen sei, kämen sie zurück, machten ein halbes Jahr Urlaub, dann ging es wieder zurück zum Geld verdienen. Es sind auch solche Begegnungen, die einen sein Buch "Berlin-Moskau - Eine Reise zu Fuß" nicht aus der Hand legen lassen. Er ist ein kluger Beobachter, einer, der die Zeichen zu deuten versteht. Aber auch einer, der nie vergisst, dass es nur Zeichen sind.

Büscher spricht des Lesers Intelligenz an und sein Gefühl, und er macht das gleichzeitig. Man liest jede Zeile. Man will nicht, dass es aufhört. So überblättert man nicht etwa die Danksagung, sondern es durchfährt einen noch einmal ein Schreck, wenn es heißt: "Peter Eduard Meier, München, für die wunderbaren Stiefel". Man hatte das ganze Buch durchgelesen, ohne ein einziges Mal an seine Stiefel zu denken. Die Füße hatte man bewundert, die Energie Büschers, seine physische Kraft, aber die Stiefel? Doch einmal, als Büscher schrieb, er habe Steinchen aus ihnen entfernt, da fiel einem ein, dass man keine zwanzig Schritt durch den Berliner Tiergarten machen kann, ohne, dass der winzige Schotter jeden Schritt zur Qual macht. Von den Anstrengungen spricht Büscher kaum. Er weiß, das ist nicht nötig. Jeder Leser kann sie sich vorstellen. Er extrapoliert von seinen 1. Mai-Spaziergängen auf die Entfernung Berlin-Moskau oder von seiner Mühe, einen zweistündigen Spaziergang anständig hinter sich zu bringen, auf Büschers 82 Tage.

Wenn Büscher abends sich überlegt, ob er in dieser Absteige Rast machen möchte, oder nicht doch lieber noch zwanzig Kilometer weiterläuft bis zum nächsten Ort, dann hat er die Bewunderung aller hartnäckigen Verkehrsmittelbenutzer. Büschers Weg ist einer der blutigsten der Weltgeschichte. Büscher erzählt davon, wie die Menschen, die an diesem Weg wohnen, das zu vergessen beginnen. Wie sie und ihr Besucher aber immer wieder daran erinnert werden. Wie sie gleichermaßen ankämpfen gegen das Vergessen und das Erinnern. Nach Katyn ziehen die hochdekorierten Soldaten des großen vaterländischen Krieges und sehen sich an, welche Verbrechen im Kampf gegen den Faschismus begangen wurden.

Büscher prägt dem Leser Orte und Menschen ins Gedächtnis. Da ist eine alte Frau, die vor mehr als fünfzig Jahren ein junges jüdische Mädchen war, das von einem verliebten deutschen Hauptmann vor der Vernichtung gerettet wurde. Sie hat ihre Geschichte schon oft erzählt. Aber da ist auch die Vorsteherin eines ehemaligen Schriftstellerheimes, in dem einst Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa, "der zähe ortlos durch Europa schwirrende, bettelarme, russische Kolibri" - so liebevoll beredt charakterisiert sie Büscher - gelebt hatten und das jetzt von Menschen auf- und heimgesucht wird, von denen die alte, zierliche Dame, nach ihrem Taschentuch greifend, nur sagt: "Wir haben so furchtbare Gäste".

Dergleichen vergisst man nicht. Man vergisst auch nicht, dass Wirklichkeit und Erzählung sich mischen. Büscher beschreibt einen nächtlichen Kampf, bei dem wir wohl davon ausgehen müssen, dass es ein Traum war, aber es ist damit wie bei Jakobs Kampf mit dem Engel. Es gibt Spuren am nächsten Tag, die zu belegen scheinen, dass dieser Kampf nicht eine Frucht von Büschers fantastischer Übermüdung war, sondern dass er zwei Tagesmärsche vor Moskau daran erinnert werden sollte, dass jemand auf ihn geachtet hatte auf seiner Reise, dass er einen Schutzengel hatte, der ihm die Leiter hinauf nach Moskau half. Nein, Büscher sagt es nicht. Büscher beschreibt, was ihm widerfuhr und er lässt es im Dunkeln einer einsamen Absteige an der Hauptstrasse Russlands, der M1. Er kennt die Obertöne seines Berichts und gerade darum nimmt er sich in Acht vor ihnen. Büschers Buch ist eine Reportage und gleichzeitig ist es die Geschichte einer Initiation. Auch des Lesers. Wer dieses Frühjahr nur ein Buch liest, der möge Büscher lesen.

Wolfgang Büscher, Berlin-Moskau - Eine Reise zu Fuß, Rowohlt, Reinbek 2003, 239 Seiten, 17,90 Euro ISBN 3-498-00631-2.