Vom Nachttisch geräumt

Terror, Krieg, Islam, Afghanistan

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
21.12.2001. Terror, Krieg, Islam, Afghanistan - Eilig hingeworfene Hinweise auf lehrreiche Bücher zum alles beherrschenden Thema.
"New York September 11" (Deutsche Verlagsanstalt, 58,48 Mark) heißt der Band, aber er bringt vor allem Fotos aus den Tagen nach dem 11. September. Fotografen der Agentur Magnum haben ihre besten Aufnahmen zusammengestellt (einige sind hier zu sehen). Menschen mit Staubmasken vor Mündern und Nasen, Feuerwehrmänner, Kerzen, Zettel mit Gesichtern und darüber: "missing". Vor allem aber immer wieder und jedesmal erschütternd: Staub und Tränen. Gilles Peress' Bilder, auf denen Gebäude und Menschen in einen grauen Hintergrund wie ins Schattenreich verschwinden, werden die Erinnerung an den New Yorker Anschlag prägen wie die in die Twintowers eindringenden Flugzeuge, wie die aus den Fenstern sich hunderte von Metern in die Tiefe stürzenden Menschen.

Über den modernen, weltweit agierenden Terrorismus, der von kleinen, hoch mobilen, extrem effizienten Einheiten organisiert wird, informiert klar und übersichtlich Bruce Hoffman in "Terrorismus - der unerklärte Krieg" (Aus dem Englischen von Klaus Kochmann, Fischer Taschenbuch, 352 Seiten, 44 DM). In Hoffmans Darstellung ist der islamistisch inspirierte Terrorismus, auf den sich zur Zeit die Aufmerksamkeit konzentriert, nur eine von vielen der religiös motivierten Varianten. Aber auch die sind nur eine der vielen Spielarten nichtstaatlicher politischer Gewalt. Natürlich müht auch Hoffman sich ab, den Begriff des Terrorismus zu klären. Das ist bei einem emotional derartig aufgeladenen Wort unmöglich. Der Terrorist erkennt sich heute nur in seltenen Ausnahmefällen als solcher. Er sieht sich als Freiheitskämpfer oder gar als Heilsbringer. Glücklicherweise verlässt Hoffman nach fünfzig Seiten das unergiebige Feld der Semantik und wendet sich der Praxis und ihren unterschiedlichen Formen und Begründungen zu. Er ist glänzend informiert, er versteht es seinen Stoff darzustellen und auch wo der eine oder andere Leser lieber von "Befreiungskampf" sprechen würde als von Terrorismus, wird er Hoffman in der Darstellung der Praktiken der PLO, der PKK oder anderer Organisationen kaum widersprechen können. Einen Essay von Hoffman über die PLO finden wir übrigens in der neuen Nummer von Atlantic Monthly.

Robert Jay Liftons "Terror für die Unsterblichkeit" (Carl Hanser Verlag, 389 Seiten, 49,80 Mark) beschäftigt sich vor allem mit der japanischen Aum-Sekte, die am 20. März 1995 in der Tokioter U-Bahn das Nervengas Sarin freisetzten. Ihr Ziel war die Erlösung der Menschheit durch Vernichtung. Lifton ist Psychiater und hat durch aufwendige Recherchen und zahlreiche Interviews ein eindrückliches Bild der Täter, ihrer Ideologie und ihres Wahns gezeichnet. Lifton zeigt, wie zentral die Guru-Jünger-Beziehung ist. Er macht deutlich, dass die Zerstörung des Individuums diesem nicht aufgezwungen, sondern von ihm als Erlösung begriffen wird. Es fühlt sich befreit und will auch andere - zur Not mittels des Nervengases - befreien. Es gibt eine Sehnsucht nach Vernichtung. Die terroristische Gruppe erniedrigt ihre Mitglieder, aber nur zu oft mit deren lustvollem Einverständnis. Es geht Lifton aber nicht um Krankheitsbilder, nicht um abweichendes Verhalten, sondern um eine Seite des Dispositivs Mensch, die gerne weggeschoben wird auf die zu vernichtenden "Anderen". Lifton gelingt es, diese heiklen Zusammenhänge wesentlich klarer und deutlicher zu formulieren als ich es hier kann. Das macht sein Buch zu einem zentralen Beitrag zur Terrorismus-Debatte. (Informationen zu Lifton finden sich hier, einige ältere Essays präsentiert die New York Review of Books.)

Eine ganz andere Ebene spricht der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld in "Die Zukunft des Krieges" (Gerling Akademie Verlag, 58 Mark) an. Ihm geht es um eine markante Verschiebung des Kriegsbildes. Der Krieg zwischen Staaten und ihren kolossalen Rüstungssystemen spielt längst nicht mehr die Rolle, die unsere Verteidigungsminister und deren Kritiker ihm zuschreiben. Er ist seit Jahrzehnten eine Randerscheinung. Kriege werden heute von kleinen, schwach militarisierten Einheiten geführt. Wir nennen sie Stammesfehden und waren, solange sie sich in Afrika und Asien abspielten, bereit über sie zu lächeln. Das verging uns, als wir hörten, dass diese an den dreißigjährigen Krieg erinnernden Scharmützel über die Jahre Millionen Tote forderten. Kindersoldaten sind dank der modernen Technologie, die immer leichter zu handhabende und immer leichtere Waffen produziert, keine seltene Ausnahme mehr, sondern werden fast überall auf der Welt zur Regel. Van Creveld, der den Krieg und seine Geschichte studiert hat, der Homer kennt und Clausewitz, erkennt in dieser jüngsten Entwicklung den schmutzigen Krieg Mann gegen Mann wieder, den Krieg, der nicht unterscheidet zwischen Armee und Zivilbevölkerung, den Krieg, der Jahrtausende alt ist und immer schon mordend und brandschatzend durch die Dörfer der Welt zog. Den sauberen Hightech-Krieg, bei dem nur Waffensysteme einander den Garaus machen, hat es nie gegeben. Es wird ihn nie geben. Wer den Krieg bekämpfen will, muss ihn kennen. Van Crevelds "Die Zukunft des Krieges" ist eine Warnung vor den Illusionen der Technikenthusiasten bei Kriegern und Pazifisten. Van Creveld täuschte sich, was die Widerstandskraft der Taliban in Afghanistan anging. Er war davon ausgegangen, dass die amerikanische Hochtechnologie von den Taliban unterlaufen werden würde. Er weiß, dass motivierte Kämpfer sich vom Tod nicht schrecken lassen. Vom eigenen nicht und auch nicht von dem der Freunde.

Das ist richtig, aber genauso richtig ist, was Edward Luttwak im Juli 1999 in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs in seinem Aufsehen erregenden, aber dann doch nicht genug gewürdigten Artikel "Give War a Chance" (Abstract) feststellte. Es gibt verfrühte Friedensbemühungen, die scheitern müssen, schrieb er. Kriege sind eben nicht nur ein Übel. Die von vielen gern wiederholte Formel "Kriege lösen keine Konflikte" ist falsch. Eine ganze Reihe von Konflikten wurden und werden durch Kriege gelöst. Luttwak erinnert daran, dass Frieden oft erst dann geschlossen werden kann, wenn die Gegner nicht mehr bereit sind, Krieg zu führen. Solange sie eine Chance sehen, einander besiegen zu können, werden sie es immer wieder versuchen. Man wird den schnellen Sieg der amerikanischen Intervention in Afghanistan auch auf dem Hintergrund sehen müssen, dass nach mehr als zwanzig Jahren Krieg, die Motivation der Kämpfer und vor allem der sie umgebenden Bevölkerung deutlich nachgelassen hatte. Der Krieg zerstört alles. Also auch sich. Man kann, so Luttwak, nicht jeden Krieg schon im Ansatz verhindern. Je stärker die einander befehdenden Parteien noch sind, desto teurer und schwieriger wird es Frieden zu stiften. Man handelt klug daran, so Luttwak, auch dem Krieg eine Chance zu geben, die Lage zu klären.

Wer sich über Bin Laden informieren will, der kann auf Roland Jacquards "Die Akte Osama bin Laden" (List Verlag 366 Seiten, 43,03 Mark) zugreifen. Er erhält einen etwas verwirrten und verwirrenden, aber detailreichen Einblick in die Akten vor allem französischer Geheimdienste. Nicht dass ihm das offen gesagt würde, aber dieser Eindruck drängt sich bei der Lektüre auf und soll es auch wohl. Jacquard breitet diese Unterlagen aus. Er zeigt uns das Material. Durchdrungen hat er es nicht. Er dräut mehr als er aufklärt. Peter L. Bergens "Heiliger Krieg, Inc." (Siedler Verlag, 346 Seiten, 39,92 Mark) dagegen ist besser organisiert, er verliert sich nicht auf geheimnisumwitterten Nebengeleisen, er hat über Bin Laden und Al Kaida jahrelang recherchiert, hat mit vielen Leuten gesprochen und zeigt übersichtlich und anschaulich wie Osama Bin Laden auf die Welt blickt, was er will und was er macht. Ähnliches lässt sich auch von Yossef Bodansky sagen. Sein Buch "Bin Laden - The man who declared war on America" (Random House Forum, 439 Seiten, 43,72 Mark) ist nicht weniger übersichtlich, bringt aber noch mehr Einzelheiten und ist für den mehr Geduld aufbringenden Leser das Buch, aus dem er am meisten über den arabischen Terroristen erfährt.

Das beste Buch zum Thema islamischer Extremismus stammt von Gilles Kepel und heißt "Das Schwarzbuch des Dschihad". Aufstieg und Niedergang des Islamismus" (Piper Verlag, 560 Seiten, 58,48 Mark). Das Buch erschien im Jahre 2000 und nach dem 11. September musste der Pariser Politikprofessor den Spott der Dummen ertragen. Er habe Aufstieg und Niedergang des Islamismus beschrieben, dabei wäre doch nichts ferner als dessen Niedergang, wie die Attentate vom 11. September zeigten. Die so sprachen, hatten sein Buch nicht gelesen. Darin zeigt er, dass islamisch fundamentalistische Gruppen gerade darum in den Terrorismus abgleiten, weil es ihnen nicht gelingt, die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Der Terrorismus mag von einzelnen Terroristen zwar als Mittel der Massenmobilisierung begriffen werden, in Wahrheit aber ist er das letzte Instrument, nachdem alle anderen versagt haben. Wenn der gesellschaftliche Einfluss nachlässt, wenn die Aussicht auf eine Veränderung der Verhältnisse in die Ferne rückt, dann wollen die Vertreter extremer Ansichten nicht mehr überzeugen, sondern bomben. Aber ganz unabhängig von diesen Schlussfolgerungen bietet Gilles Kepel eine eindrückliche Darstellung des Aufstiegs der Idee einer fundamentalislamischen Wende. Ihre Vorgeschichte mit den in den zwanziger Jahren in Ägypten gegründeten Moslembrüdern und ihr epochaler Sieg 1979 im Iran als Khomeini den Schah stürzte. Kepel betrachtet die Ideologen und die Aktivisten, den Bosnienkrieg und den gegen die russische Inavasion in Afghanistan und er achtet auf Ölpreise und Intifada. Er tut das mit hellwacher Intelligenz, mit Einfühlungsvermögen und stilistischer Eleganz.

Eine Aufsatzsammlung beschäftigt sich mit "Sendungsbewusstsein oder Eigennutz: Zu Motivation und Selbstverständnis islamischer Mobilisierung"(Herausgegeben von Dietrich Reetz, Verlag das Arabische Buch, 246 Seiten, 29,80 Mark). Die Beiträge des sich an Spezialisten wendenden Bandes informieren über islamistische Bewegungen in Tunesien, Marokko, Ägypten, Usbekistan, der Türkei und Südasien. Interessant ist zu erfahren, dass einer der Begründer des modernen Islamismus, einer der "Helden" auch in Gilles Kepels "Dschihad", der aus einer alten Sufifamilie stammende pakistanische Intellektuelle Maududi (1903-1979)sich systematisch mit westlicher Philosophie beschäftigt haben soll. Seine Vorstellung von der Wiederbelebung des Islam, von der Revolutionierung der muslimischen Welt sind, so meint der Autor, undenkbar ohne seine intensive Auseinandersetzung mit westlicher Geschichte und westlicher Geschichtstheorie. Die Fundamentalisten kennen uns. Wir kennen sie nicht. Wir sollten das ändern. Übersetzungen würden da helfen. Aber außer ein paar Reden und Schriften Khomeinis liegt keiner der Grundtexte des islamischen Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts auf deutsch vor. So bleiben wir dumm.

Dumm bleiben wir auch, wenn wir die Erkenntnisse, die wir beim Studium der europäischen Gesellschaften gewonnen haben, sofort vergessen, wenn wir uns mit anderen Gesellschaften beschäftigen. Kaum einer der von Kepel, Bergen, Rashid oder in den anderen Büchern befragten Terroristen vergisst darauf hinzuweisen, dass die Muslime und ihre Kultur seit Jahrhunderten vom Westen gedemütigt werden, dass der Westen seine technologische und ökonomische Überlegenheit mit brutaler Gewalt ausspielt, dass er die religiösen und kulturellen Traditionen des Islam schmäht und lächerlich macht. So sehr diese Äußerungen auch an die von pubertären Jugendlichen erinnern - "Du hast meine Ehre beleidigt!" - so ernst wird man sie dennoch nehmen müssen. Man spürt fast immer eine grandiose Selbstüberschätzung, eine schwer zu ertragende Überheblichkeit, weil von keiner Kenntnis, geschweige denn von Ironie erhellte Einsicht in die eigenen Fähigkeiten. Die aber wäre allererste Voraussetzung für eine Veränderung der Lage. Selbst wenn das alles stimmt, bleibt doch das objektive Kräfteverhältnis und vor allem dessen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Der Kolonialismus war eine Demütigung: Dass nach Jahrzehnten staatlicher Selbständigkeit die islamischen Länder nicht besser sondern in vielen Fällen schlechter als zur Kolonialzeit dastehen, wird als eine weitere - als wahrscheinlich die schlimmere - Demütigung erfahren.

Man wird die politische Dimension dieses Gefühls, seine eminente Bedeutung besser verstehen, wenn man die "Politik der Würde" des in Jerusalem lehrenden Philosophieprofessors Avishai Margalit (Alexander Fest Verlag und Fischer Taschenbuch, 332 Seiten) liest. Margalit erinnert an Kant und die Arbeiterbewegung, an die Figur des Snobs und das Strafrecht. Er macht klar, dass ein Individuum nur als anerkanntes möglich ist. Das stoische Argument, man könne jemanden zwar seines Lebens, nicht aber - so er sie denn habe - seiner Würde berauben, ist zwar richtig, aber es gilt nur für den Einzelnen und nur für den, dessen Ich in einer identitätsstiftenden Gruppe sich hat herausbilden können. Aus der es sich freilich, um ein Ich bleiben zu können, auch wieder herausbilden können muss. Es ist der Blick für diese Vertracktheit, der Margalits Erörterungen so interessant und so fatal aktuell macht. (Hier ein Auszug aus einem Essay Margalits in der Lettre international über den Holocaust, und einige Essays aus der NY Review.)

Die Taliban waren eine Organisation, die Tausenden Jugendlichen und Erwachsenen eine Möglichkeit gegeben hat, Ichstärke zu entwickeln, die sie dann aber gerade an der Entfaltung ihrer Individualität gehindert hat. Wer Ahmed Rashids großartiges Buch "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad" (Droemer Knaur, 400 Seiten, 38,92) liest, der bekommt nicht nur einen Einblick in die Herausbildung einer radikal islamistischen Organisation, in ihre internationalen Verflechtungen, ihren logistischen und finanziellen Aufbau, er beginnt auch zu ahnen, was sie für ihre Mitglieder bedeutet und worin ihr Reiz für ihre Gefolgsleute liegt oder gelegen hat. Man sagt heute gerne, für die in den Kriegen geborenen und nichts als den Krieg kennenden Männer seien die Taliban ohne Alternative gewesen. Rashid macht klar, warum es keine Alternativen gab, wie sie zerstört und verschlissen wurden. Man wird die jüngste afghanische Vergangenheit und seine nächste Zukunft nichjt verstehen können ohne Ahmed Rashids "Taliban". (Ein sehr ausführliches Interview mit Rashid findet sich bei Atlantic Monthly.)

Wer mehr über die Geschichte Afghanistans wissen möchte, der muss sich in Antiquariaten tummeln (bei sfb zum Beispiel). Dort wird er von Burchard Brentjes "Völkerschicksale am Hindukusch - Afghanen, Belutschen, Tadshiken" finden. Das interessant zu lesende Buch erschien 1983 bei Koehler & Amelang in Leipzig. Also zur Zeit der völkerfreundschaftlichen Verbundenheit zwischen DDR und Afghanistan. Der Autor, einer der führenden Orientalisten der DDR, erzählt die Geschichte der Bergländer und seiner Bewohner von der Jungsteinzeit bis zum 19. Jahrhundert. Anekdotenreich und mit einem folkloristischen Blick. Fast vierzig Zeichnungen mit Karten, Grundrissen, Geschirr und Kostümen, dazu schwarz-weiße und farbige Fotos, führen einem vor Augen wie viele Kulturen, Religionen und Völker hier immer wieder auf einander eingeschlagen und immer wieder auch friedlich neben einander lebten.

Über das Afghanistan des zwanzigsten Jahrhunderts informiert Jan Heeren Grevemeyer (Express Edition, 1987). Hier wird nicht erzählt, sondern analysiert. Es ist der Versuch die sozialen Veränderungen Afghanistans und ihr Scheitern zu begreifen. Die immer neuen Versuche großer und kleiner Agrarreformen, die rapide expandierende Bürokratie - am Anfang des Jahrhunderts gab es sieben afghanische Provinzen, am Ende 28 -, die Orientierung auf technische Großprojekte, die damit einhergehende Staatsverschuldung - über all das klärt Grevemeyer auf. Die so erworbene Kenntnis über die zahlreichen Versuche dieses Jahrhunderts, Afghanistan zu modernisieren, es herauszubringen aus der Herrschaft der Clans, lassen einem kaum noch die Hoffnung, es könnte diesmal klappen.

1939 fuhren zwei Schweizerinnen in einem Ford Roadster DeLuxe, 18 PS von Genf nach Kabul. Der Reisebericht der Ella Maillarts erschien 1948 das erste Mal und wurde jetzt wieder aufgelegt. ("Der bittere Weg", Lenos Pocket, 277 Seiten, 19,80 Mark) Er ist beeindruckend, denn er ist auf klugen Beobachtungen basierend glänzend geschrieben und rührend zugleich. Ella Maillart will nach Afghanistan, weil sie dort von der Zivilisation unverdorbene, aufrechte, freie Menschen zu finden hofft, die noch nicht "durch künstliche Bedürfnisse versklavt sind." Als sie in Afghanistan ist, erfährt sie, dass dort mit dem Tode bestraft wird, wer seine Ziege Baumrinden abknabbern lässt. Ihr wird erklärt: "nur durch die Androhung solcher Strafen sei es möglich, den Afghanen Verständnis für die Aufforstung beizubringen." Von ihrem Traum einer besseren Gesellschaft ließ sich Ella Maillart durch diese Erfahrungen nicht abbringen.

Ihre Begleiterin, die Klaus- und Erika-Mann-Freundin Annemarie Schwarzenbach, hat ihre Reiseeindrücke ebenfalls notiert. Sie sind jetzt erstmals erschienen. (Annemarie Schwarzenbach "Alle Wege sind offen" (Lenos Verlag, 172 Seiten, Fotos, 36,90 Mark). Wer die Schwarzenbach liebt, wird ihre Aufzeichnungen verschlingen. Aber unbedingt sollte er - es wird sich in den meisten Fällen der Schwarzenbach-Verehrung um eine sie handeln - das Buch der Maillart dazu lesen. Das Verhältnis der beiden Frauen zu einander ist ebenso interessant wie ihre Ansichten zu Afghanistan. Aber auch die haben ihre Schrecken: "Die kleinen Schülerinnen von Kabul waren sehr begabte, lebhafte, aufnahmebereite Geschöpfe, den Buben gewachsen, hübsch und mit so strahlenden Augen, dass es schwer war, sich vorzustellen, diese schmalen Figürchen und aufmerksamen zarten Gesichtchen würden jemals in den Schatten der Haremsmauern, in die trübe Gefangenschaft des Tschadors verbannt werden."

Die Buddhas von Bamiyan, so sieht es jetzt aus, waren die letzten Opfer der Taliban. Wer mehr über sie erfahren möchte, wer sich mit ihrer Geschichte und unserer Geschichte ihrer Wahrnehmung beschäftigen möchte, für den gibt es von Pierre Centlivres "Les Bouddhas d'Afghanistan" (Editions Favre, Lausanne, 172 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, 18,20 Euro). Der Autor erinnert anlässlich der Zerstörung der Statuen durch die Taliban an große bilderstürmerische Tradition des Christentums, an Tertullian (155-222) zum Beispiel, für den jede Form, groß oder klein, ein Betrug, ein Werk des Teufels war. Er berichtet aber auch von der Arbeit der Archäologen, die zwischen 1920 und 1970 herausarbeiteten, wer alles beteiligt war an der Herstellung und Konservierung nicht nur der Statuen, sondern auch der sie umgebenden Kloster- und Wohnanlagen.

In unseren Kinos läuft zur Zeit der Film des persischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf "Kandahar". Von ihm gibt es eine kleine Broschüre, deren französische Übersetzung den Titel trägt "En Afghanistan, les bouddhas n'ont pas ete detruits, ils se sont ecroules de honte" (Editions Mille et une nuits, 110 Seiten, farbige Abbildungen, 8,99 Euro). Es sind Artikel über die Taliban, über die Clans, über die Seidenstraße, die zu einer Sackgasse geworden ist, Über Mollah Omar, über die Rolle der internationalen Hilfsorganisationen, über Drogen. Einer der zentralen Sätze lautet: das einzig Moderne in Afghanistan sind die Waffen. (Hier ein langer englischer Auszug auf Makhmalbafs Homepage.)

In der neuesten Ausgabe von Lettre International (Heft 55, IV/ 2001) findet sich derselbe Artikel in deutsch: "Die Tragödie Afghanistans" (Auszug). Das Heft muss jeder, der sich für Terrorismus, Islam und Zentralsien und New York den 11. September interessiert, lesen und betrachten. 29 Künstler haben es illustriert. Es sind Arbeiten zum Thema "Der Schock des 11. September - das Geheimnis des Anderen": Roberto Longo, Rebecca Horn, Georg Baselitz, Max Neumann, Marina Abramovic, Hans Haacke usw. Es ist eine großartige Kollektion, die natürlich vor allem eines deutlich macht: die Sprachlosig-, die Hilflosigkeit auch der Künstler. Es sollte sich einmal jemand die Mühe und die Freude machen, die Arbeiten zu analysieren, zu sehen, wie sie mit dem, was schon immer ihre Techniken und ihre Materialien waren, spielen, um sich heranzupirschen an den eigenen Schrecken über das, was geschehen ist und das noch Schrecklichere, das sie kommen sehen. Es könnte ein Spiegel sein, in dem wir unsere eigene Verwirrung besser erkennen können.

Wer bisher nur aus den Debatten der Feuilletons Jean Baudrillards Überlegungen zum 11. September kennt,kann sie nachlesen. An zentraler Stelle wird man an Mohsen Makhmalbaf und die Buddhas erinnert, "die nicht zerstört wurden, sondern vor Scham versanken". Da heißt es: "Der symbolische Zusammenbruch eines ganzen Systems vollzog sich in einer unvorhersehbaren Komplizenschaft, so als ob die Türme dadurch, dass sie selbst einstürzten, dass sie Selbstmord begingen, das Spiel mitgemacht hätten, um das Ereignis zu vollenden." Das ist hochspekulativ, also politisch ganz und gar nicht korrekt und schon darum, auch wo es direktemang theologisch wird, sehr, sehr lesenswert. Wen es nach solider Aufklärung, nach klitzeklarer Vernunft dürstet, der lese Bernard Lewis. Sein Aufsatz "Die Revolte des Islam. Wann begann der Konflikt mit dem Westen, wie könnte er enden?" ist die schönste, klarste Skizze zur jüngsten Geschichte des christlich-islamischen Bruderkrieges.Wer mehr wissen will über die Entstehung des Islam, über seine früheste Auseinandersetzung mit Juden- und Christentum und über die Auseinandersetzungen darüber in der Islamwissenschaft, der wird auf 111 Seiten bestens informiert von Ludwig Ammann in "Die Geburt des Islam - Historische Innovation durch Offenbarung" (Wallstein, Verlag, 28 Mark).

Mit einigen muslimischen Exegeten des Koran im zwanzigsten Jahrhundert beschäftigt sich Stefan Wild in "Mensch, Prophet und Gott im Koran" (Rhema Verlag, 55 Seiten, 18 Mark). Der Laie erfährt hier von Absonderlichkeiten der Koran-Exegese, die den christlichen Trinitäts- oder Jungfraudebatten in nichts nachstehen. Der Koran ist, erläutert Wild, vor allem gesprochenes Wort. In den Augen frommer Muslime ist er das Wort Gottes und der Prophet war gewissermaßen nur der Resonanzkörper des göttlichen Wortes. Mohammed soll, so lehren die meisten muslimischen Theologen, des Lesens und Schreibens unkundig gewesen sein. Andere notierten, was Gott durch ihn sagte.

Wer sich eine Ahnung von dieser Magie verschaffen will, dem bietet das Versandhaus Zweitausendeins eine sehr preiswerte Möglichkeit. Auf 32 CDs gibt es den ganzen Koran. Gesprochen, gesungen - wie man es nennen will - von Sheik Doctor Mohamed Ayoub Bin Mohamed Yousef. Auf arabisch natürlich. Für nur 49,95 Mark.

Wer aber den Zauber und Gemeinheit, die Größe und das Hässliche, die Schönheit und das Böse alles in einem Roman lesen möchte, der ihm die Gegenwart in die Vergangenheit spiegelt und sie ihm so erst sichtbar macht, der wird begeistern greifen nach: Amin Maalouf "Samarkand" (376 Seiten, 19,90 Mark). Da ist die Geschichte Omar Khajjams, eines der bedeutendsten Dichter der islamischen Welt, und die seiner Freunschaft zu einem der mächtigsten Männer des Orients des 11. Jahrhunderts, zu Nisam al-Mulk, der auch ein Handbuch der Regierungskunst verfasst hat und beider Verhältnis zum Begründer des Assassinenordens. Wir entdecken, dass der Terrorismus nichts Neues ist, dass er die Macht begleitet, dass Baudrillard, der die beiden als heimliche Genossen zu betrachten scheint, im Ganzen so unrecht nicht haben kann. Maalouf bricht die Geschichte noch einmal in einer Episode des frühen 20. Jahrhunderts als das fortschrittliche Persien Amerika zu Hilfe rief gegen die beutehungrigen Großmächte Russland und England und gegen die eigenen Herren. Dieser erste Frühling endete in einem Desaster. Maalouf macht daraus Märchen, großartige, durch und durch erwachsene Märchen für neugierige, denkende Menschen.

Die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska schrieb:

Fotografie vom 11. September

Sie sprangen von brennenden Stockwerken abwärts -
einer, zwei, noch einige
höher, tiefer.

Die Fotografie hielt sie lebend fest,
und nun bewahrt sie sie auf
über der Erde zur Erde.

Jeder ist noch ein Ganzes
mit eigenem Gesicht
und gut verstecktem Blut.

Sie sind immer noch im Bereich der Luft,
im Umkreis jener Stellen,
die sich soeben geöffnet haben.

Zwei Dinge nur kann ich für sie tun -
diesen Flug beschreiben
und den letzten Satz nicht hinzufügen.

Aus dem Polnischen von Karl Dedecius

(Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.11. 2001)

Die Bücher von Wislawa Szymborska finden Sie im Suhrkamp-Verlag.