Efeu - Die Kulturrundschau

Kollektive Halluzinationen

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08.08.2023. Der große Filmregisseur William Friedkin ist tot: Die SZ zeichnet ihn als zähen Hund, den nichts klein kriegt - außer eine Auszeichnung mit dem Oscar. Warum zeigt das Filmfestival Locarno eigentlich weiterhin Filme des Israelhassers Ken Loach, wundert sich die NZZ. Tausende Frauen werden jedes Jahr in Mexiko ermordet: Zumindest spricht man hier nicht mehr von "Verbrechen aus Leidenschaft", erzählt die Autorin Cristina Rivera Garza der taz. Der Welt schwirrt der Kopf von den Videoinstallationen Christopher Kulendran Thomas'. Die FAZ reist mit dem Architekturkollektiv "Cave-bureau" zurück an den Ursprung der Menschheit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.08.2023 finden Sie hier

Film

William Friedkin, 2017 (Bild: GuillemMedina, CC BY-SA 4.0)

Der große William Friedkin ist gestorben - tragischerweise nur wenige Tage vor der Premiere in Venedig seines nunmehr letzten Films, seinem ersten seit über zehn Jahren. Für die meisten Redaktionen kam die Meldung gestern Abend zu spät, aber David Steinitz legt in der SZ einen ersten Nachruf vor und zeichnet Friedkin als zähen Hund, der sich als Junge in einem Armenviertel von Chicago durchschlug, sich ins Kino rettete und sich das fürs Filmemachen nötige Handwerk in der harten Schule des Fernsehens drauf schaffte, bevor er mit Scorsese, Lucas, Bogdanovich und anderen "New Hollywood" aus der Taufe hof. Er "war einer der ersten der neuen Regiegeneration, der großen Erfolg hatte. 1971 drehte er 'French Connection'" und "krempelte das biedere Genre des Cop-Films gründlich um. Gut und Böse sind nicht mehr klar zu unterscheiden in diesem Film, die Action ist hart, ohne heroisch zu sein, und es herrscht ein kalter, desillusionierter Zynismus. Die Zuschauer liebten diese neue Härte (und vor allem die irre Verfolgungsjagd), der Film war ein großer kommerzieller Erfolg und gewann insgesamt fünf Oscars. Friedkin bekam den Oscar als bester Regisseur. ... Ein Grund zum Feiern? Nicht für Friedkin. Er hatte Angst, dass es von nun an nur noch bergab gehen könne: 'Am Tag nach der Oscarverleihung bin ich das erste und einzige Mal zum Psychiater gegangen.'" Weitere Nachrufe schreiben die Branchenblätter Variety und Hollywood Reporter. Der Guardian hat eine große Bildergalerie zusammengestellt. Wer heute ganz viel Zeit hat, kann sich bei der Director's Guild of America ein über neun Stunden dauerndes Gespräch mit Friedkin über Leben und Werk ansehen.

Zeit für eine Zwischenbilanz beim Filmfestival in Locarno: Andreas Scheiner ärgert sich in der NZZ, dass neben Cannes auch Locarno Ken Loach, dessen neuer Film heute Abend im Tessin gezeigt wird, weiterhin hofiert: Nicht nur ist Loach glühender BDS-Anhänger und Israelkritiker, sondern seine Filme auch einfach wenig avanciert: "Filmhandwerklich, von der Kamera- über die Schauspielführung, war und ist Loach schwach." Außerdem findet Scheiner, dass Locarno seinen Wettbewerb nicht so verschämt ins Kino abschieben sollte, während auf der großen Piazza Grande unter freiem Himmel vor allem kuliinarische Kost gezeigt wird. Standard-Kritiker Marian Wilhelm freut sich über Voodoo Jürgens' "kurzen, aber freizügigen Auftritt" in Sofia Exarchous "Animal" mit der "phänomenalen Hauptdarstellerin Dimitra Vlagopoulou. Ihre Karaoke-Performance zu 'Yes Sir, I Can Boogie' hat das Zeug zum schönsten traurigen All-inclusive-Musikmoment seit 'Aftersun' und 'Rimini'." Im Filmdienst wirft Irene Genhart Schlaglichter aufs Locarno-Programm, wo "oft feinste Cineasten-Kost" läuft, darunter neue Filme von Radu Jude und Lav Diaz.

Im Filmdienst porträtiert Ralph Eue den Selfmade-Filmemacher Sobo Swobodnik, der als Ein-Mann-Filmstudio mit niedrigen Budgets und sehr viel Unabhängigkeit Film an Film an Film reiht: "Überhaupt bekennt Swobodnik selbstbewusst sein Fremdeln mit Traditionen, Schulen oder Stilen, 'weil sie in der Regel apodiktisch und dogmatisch sind und der Freiheit die Butter vom Brot nehmen. Für mich gibt es nur zwei, sagen wir mal Referenzen, die für mein Filmemachen eine Rolle spielen. Die eine geht auf Adorno zurück: 'Wertfreie Ästhetik ist Nonsens, Form ist sedimentierter Inhalt.' Die andere orientiert sich an einem Satz von Jean-Luc Godard (der Gottvater!) und heißt: 'Kino ist ein Kinderspiel, das nur der spielen kann, der an keine Regeln glaubt.' Bei jedem Film, den ich mache, inhaliere ich diese beiden Sätze bis zum Abwinken, schmeiße sie dann über den Haufen und fange an.'"

Besprochen werden die (hier und dort) vom ZDF gezeigten, auf Romanen von Sally Rooney basierenden Serien "Conversations with Friends" und "Normal People" (taz), die auf Netflix gezeigte Blaxploitation-Hommage "They Cloned Tyrone" mit John Beyoga, Jamie Foxx und Teyonah Parris (FR) und die Netflix-Serie "Heartstoppers" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Ausstellungsansicht "For Real" im Kunsthaus Zürich. Foto:Kunsthaust Zürich.

Wo die Realität aufhört und die Fiktion beginnt, kann Welt-Kritiker Andreas Rosenfelder in der Ausstellung "For Real" in der Kunsthalle Zürich nicht mehr sagen. Wie nach einer "kleinen Gehirnwäsche" fühlt er sich, nachdem er die Videoinstallationen von Christopher Kulendran Thomas gesehen hat. Das ist aber Absicht, denn was der Londoner Künstler ergründen möchte, sind die "kollektiven Halluzinationen" der heutigen Gesellschaft, so der Kritiker: 'In seinen Videoarbeiten erkundet Kulendran Thomas diesen psychedelischen Albtraum mit den hyperrealistischen Mitteln der digitalen Bilderzeugung. So hat er einen Avatar von Kim Kardashian erzeugt, der mittels Text-zu-Sprache-Algorithmus in echter Kardashian-Stimme medienphilosophische Theoreme ausführt und etwa erläutert, wie Social Media durch die Ausschüttung von Dopamin unser neuronales Netzwerk, ja den Menschen als Spezies dauerhaft verändert. Und das ist kein Gag auf Kosten der Reality-TV-Heldin, die Kulendran Thomas ernsthaft bewundert: 'Ihr Vater war Anwalt und hat O.J. Simpson vor Gericht vertreten', sagt er. Schon als Kind habe Kim Kardashian so durch die Beobachtung des Prozesses gesehen, wie Wahrheit 'geformt und verdreht' werden könne: 'Die Institutionen der Demokratie', das wisse sie seither, 'können durch Storytelling manipuliert werden.'

In der SZ skizziert Peter Richter die Folgen des Urteils des Münchner Landgerichts, das dem Maler Götz Valien Co-Autoren-Rechte an Werken von Martin Kippenberger zugesprochen hat (Unsere Resümees). "Im Kern ging es dabei um die Frage, ob ein Künstler, der bei einem anderen mit genauen Anweisungen die Anfertigung eines Gemäldes in Auftrag gibt, als Schöpfer des Kunstwerks zu betrachten ist, weil von ihm schließlich Idee und Konzept stammen - oder der, der es umsetzt und ausführt." Aber Ideen kann man nicht schützen, "predigt dagegen wieder und wieder der Anwalt Peter Raue, der in dieser Sache Valien vertritt: Das werde leider offensichtlich von Juristen besser verstanden als im Kunstbetrieb. Tatsächlich ist damit nämlich gewissermaßen das Konzept der Konzeptkunst berührt. In der Fachöffentlichkeit hatten sich jedenfalls viele eher für die Position der Kippenberger-Seite ausgesprochen."

Besprochen werden die Ausstellungen "Abe Frajndlich. Chameleon" im Fotografie Forum Frankfurt (FAZ) und "Les derniers Soulages 2010-2022" im Musée Soulages in Rodez (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Diana Nava porträtiert in der taz die mexikanische Autorin Cristina Rivera Garza, die mit "Liliana's Invincible Summer: A Sister's Search for Summer" den über 30 Jahre zurückliegenden Mord an ihrer Schwester aufgreift. Jährlich werden über 3500 Frauen in Mexiko ermordet, viele davon durch ihren Ex-Partner. Die feministische Bewegung des Landes habe aber zumindest das Reden über diese Morde geändert: "Noch vor einigen Jahren wären Morde wie der an Liliana als an Seifenopern erinnernde Ereignisse angesehen, medial als 'Verbrechen aus Leidenschaft" dargestellt worden.' ... 'Die Frauen, die auf die Straße gegangen sind, die die Sprache selbst in die Hand genommen haben, haben diese Worte hervorgebracht, dieses Vokabular, das uns jetzt erlaubt zu sagen, dass es sich nicht um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt, sondern um einen Femizid." Mit dem Vokabular könne sie als Schriftstellerin diese eher konventionellen und auf Macht basierenden Erzählungen, die so viele Jahre lang den Opfern die Schuld an der erlittenen Gewalt gegeben haben, umkehren und unterminieren."

Mit "The Girls" glückte Emma Cline vor ein paar Jahren ein sensationeller Erfolg, nun liegt ihr zweiter Roman "Die Einladung" vor, in dem eine junge Frau sich auf einer Odyssee durch ein Villenviertel befindet. Wer will, möge dies als Sozialkritik verstehen, räumt die Autorin gegenüber Joachim Hentschel im SZ-Gespräch ein, aber ihr Ziel war das nicht zwingend. "Die Siedlungen in den Hamptons sind archetypische Querschnitte durch die Machtgefüge Amerikas. Fast so, als hätte man New York da draußen noch einmal aufgebaut, auf begrenztem Raum, sodass die Klassen- und Machtsysteme und ihre pathologischen Dimensionen noch deutlicher sichtbar werden. Trotzdem geht es mir an keiner Stelle darum, die Emotionen des Publikums gezielt zu steuern. Solche Techniken vermeide ich. ... Ich fälle keine moralischen Urteile über meine Figuren, es gibt bei mir keine Guten oder Bösen."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Lars von Törne blickt im Tagesspiegel zurück auf zehn Jahre Comicförderung in Deutschland. Der Schriftsteller Linus Reichlin denkt in der NZZ darüber nach, wie die Italiener ihre Straßenköter zu lieben begannen und als Schoßhündchen adoptierten. Außerdem empfiehlt Florian Welle in der SZ Hörbücher für den Sommer, darunter Gottfried Kellers "Leute von Seldwyla" - es lesen unter anderem Eva Mattes, Ulrich Noethen und Peter Simonischek.

Besprochen werden unter anderen Chava Rosenfarbs "Durch innere Kontinente" (taz), Lion Feuchtwangers Essaysammlung "Bin ich ein deutscher oder jüdischer Schriftsteller? Betrachtungen eines Kosmopoliten" (FR), Amélie Nothombs "Der belgische Konsul" (FR), Maike Wetzels "Schwebende Brücken" (Tagesspiegel), Mahlers Comic "Akira Kurosawa und der meditierende Frosch" (taz), Sabine Grubers "Die Dauer der Liebe" (Tagesspiegel), Henning Ahrens' Neuübersetzung von Richard Adams' Klassiker "Watership Down" (online nachgereicht von der FAS), J.O. Morgans Erzählungsband "Der Apparat" (Tagesspiegel), Lot Vekemans' Thriller "Der Verschwundene" (Tagesspiegel), Andrzej Stasiuks "Grenzfahrt" (NZZ) und Hanna Mittelstädts "'Arbeitet nie!' Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags" (FAZ). Außerdem sammelt das Deutschlandradio hier die Audios und PDFs der Buchrezensionen des laufenden Monats.
Archiv: Literatur

Musik

Juliane Liebert liest für die SZ amüsiert ein als "Autobiografie" getarntes PR-Buch der K-Popband BTS und zählt dabei, wie vielen Musikern auf dem Cover das Kinn abgeschnitten wurde. Besprochen werden ein Konzert des National Youth Orchestra Jazz beim Berliner Festival Young Euro Classic (Tsp) und Speech Debelles Album "Sunday Dinner On a Monday" ("Stetig wechseln düstere Momente mit daseinsfreudigen", bezeugt Stefan Michalzik in der FR).

Archiv: Musik

Bühne

Anna Netrebko hat die New Yorker Metropolitan Oper wegen "Diskriminierung am Arbeitsplatz und Verleumdung" verklagt, melden die Feuilletons. Opernintendant Peter Gelb hatte ihr Engagement aufgekündigt, weil sich die Sängerin nicht entschieden genug von Putin distanziert habe. Gelb, berichtet Frauke Steffens in der FAZ, steht allerdings selbst im Fokus der Kritik: "Manche Beobachter kritisieren, dass auch die New Yorker Oper sich erst spät eindeutig von Putin distanziert habe - obwohl dessen Absichten bekannt gewesen seien. Hauptgeschäftsführer Gelb war tatsächlich kurz vor dem Überfall noch in Moskau. Ensembles der Metropolitan-Oper und des Bolschoi-Theaters probten damals gemeinsam für Richard Wagners 'Lohengrin'. Tage danach, als Putin seinen Angriffskrieg begonnen hatte, kündigte die Met das Kooperationsprojekt auf. Gelb verteidigte seine Reise später." Empathie für die Ukraine würde anders aussehen, meint Manuel Brug in der Welt: "anstatt sich zu ducken und abzuwarten, feiert sie scheinbar unbeeindruckt auf Instagram für ihre 722.000 Fans ihren immerwährenden Kaufrausch durch die Luxusboutiquen der Welt, garniert mit üppigen Fressgelagen und Party bis zum Umfallen."

Weitere Artikel: In der FAZ stellt Andreas Rossmann fest: die "Unabhängigkeit der öffentlichen Kultureinrichtungen in Italien ist bedroht." Die Regierung unter Giorgia Meloni besetzt wichtige Positionen im Kulturbereich zu ihren Gunsten. So sei auch die Neubesetzung der Opernintendanz am Teatro San Carlo in Neapel durch Carlo Fuortes, der zuvor wegen Konflikten mit der Regierung als Chef der Rundfunkanstalt RAI zurückgetreten war, ein "politischer Handstreich".

Besprochen wird Stephan Viziolis Inszenierung von Vivaldis Oper "L'Olimpiade" bei den Innsbrucker Festspielen (FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Ausstellungsansicht "Cave_bureau" im Louisiana Museum in Kopenhagen. Foto: Cave_bureau. 

An den Ursprung der Menschheitsgeschichte reist Ulf Mayer in einer Ausstellung im Louisiana Museum in Kopenhagen zurück. Das kenianische Architekturbüro "Cave_bureau" hat hier die Shimoni-Höhlen bei Nairobi rekonstruiert, in der die ersten Menschen hausten, so Mayer. In den Höhlen spielte sich aber auch ein dunkles Kapitel der kenianischen Geschichte ab: im 17. und 18. Jahrhundert wurden hier Menschen gefangen gehalten, um sie als Sklaven nach Dänisch-Westindien zu verschleppen. Die Architekten "ließen die Shimoni-Höhle in drei Dimensionen einscannen. Um sie im Maßstab eins zu eins darzustellen und so die 'traumatische Geschichte' der Höhlen freizusetzen, hat der Brite Phil Ayres, Professor an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen, mit seinen Studenten die Form der Höhle von Hand weben lassen, sechs Personen brauchten dafür drei Monate. Die Wirkung der so entstandenen transluzenten Höhle ist atemberaubend, die Materialwahl fiel auf indonesisches Rattan, das in japanischer Kagome-Flecht-Technik verarbeitet wurde. Ein ausgeklügeltes Computerprogramm ermöglicht die Umwandlung von komplexen konvexen und konkaven Formen in Webmuster mit fünf, sechs oder sieben Ecken, um doppelte Krümmungen zu erzeugen, wie Shigeru Ban sie im Centre Pompidou in Metz verwendet hat."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Nairobi, Centre Pompidou