9punkt - Die Debattenrundschau

Die Geschlossenheit dieses Klerus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2020. "Das ist keine Transformation, sondern eine Revolution", schreibt der polnische Journalist Konstanty Gebert in der SZ über  die Säkularisierung in seinem Land - aber Erfolg hat in diesem Moment eine Politik der Angst. In der Türkei dreht Erdogan unterdessen die Säkularisierung zurück: Die Hagia Sophia wird grün ausgelegt, denn das ist die Farbe des Islams - und der Präsident zahlt den Teppich selbst, so die Zeit. Dafür werden die sozialen Netze unter ein strenges Regime gestellt, so Netzpolitik: Einer muss immer den Kopf hinhalten.  Und für unsere Breiten sagt der amerikanische Geograf Joel Kotkin in der Welt einen Schulterschluss zwischen der "Oligarchie des Silicon Valley" und einer Klasse von "linken Klerikern" an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.07.2020 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Türkei

Bauarbeiten in der Hagia Sophia. Man soll verstehen, dass es sich um eine Moschee handelt, schreibt Marion Sendker in der Zeit: "Am vergangenen Sonntag tauchte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in der Hagia Sophia auf. Sichtlich zufrieden stand er im Innenraum; hinter ihm auf der Empore ein Scharfschütze zu seiner Sicherheit und vor ihm eine massive Teppichrolle. Der Boden der Hagia Sophia soll türkisgrün werden. Darin steckt eine Botschaft: Grün ist die Farbe des Islam. Erdogan habe den Teppich selbst ausgesucht und finanziert, schreiben türkische Zeitungen."

Völlig zahnlos reagiert die angeblich säkulare und kemalistische Oppositionspartei CHP, schreibt Dogan Akhanli im Freitag zu Erdogans jungtürkischem Jihad (als nächstes kommt die "Befreiung der al-Aqsa-Moschee" in Jerusalem ließ er die islamische Welt von "Buchara bis Andalusien" wissen). Aber dies Verhalten der CHP ist nicht neu: "Obwohl die CHP wusste, dass die Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 willkürlich und rechtswidrig war, erhob sie keinen Widerspruch, sondern kollaborierte mit der Regierungspartei. Obwohl sie wusste, dass der Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien und die Vertreibung der Kurd*innen völkerrechtswidrig waren, verbündete die CHP sich wiederholt mit der Regierung."

Und während die Hagia Sophia grün ausgelegt wird, nimmt die AKP die sozialen Netzwerke an die Kandare, angeblich natürlich um "Hassrede" zu bekämpfen. Soziale Medien brauchen ab eine bestimmten Größe jetzt eine "Repäsentanz" in der Türkei, die den Kopf hinhält. Markus Reuter erzählt bei Netzpolitik, wie das funktionieren soll: "Diese Repräsentanz muss innerhalb von 48 Stunden reagieren, wenn Postings gegen Persönlichkeitsrechte oder die Privatsphäre verstoßen, berichtet Al-Jazeera. Bei Nichtreagieren droht den Repräsentant:innen der Unternehmen laut heise.de eine Strafanzeige. Außerdem sollen die Nutzerdaten in der Türkei gespeichert werden müssen. Sollte ein Unternehmen 30 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes keine Repräsentanz vorweisen, dann soll die Bandbreite des jeweiligen Anbieters standardmäßig um 90 Prozent gedrosselt werden. Das dürfte die Dienste, die nicht kooperieren wollen, unbenutzbar und damit unattraktiv machen."

"Immer mehr Femizide in der Türkei", berichtet unterdessen Jügen Gottschlich in der taz. Die Lage der Frauen verschlechtert sich aber auch ganz allgemein auf Betreiben Erdogans: "Islamistische Ordensführer und ihre Strohmänner in der AKP fordern seit Langem, dass die Türkei aus der 2011 beschlossenen Istanbul-Konvention des Europarats, in der Frauenrechte völkerrechtlich verbindlich festgelegt wurden, wieder austreten soll... Bei einer Parteiversammlung Ende Februar kündigte der Präsident an, man werde die Konvention noch einmal 'überprüfen'..."

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Weder geografisch noch sozial verläuft die Trennlinie zwischen den Duda- und den Trzaskowski-Wählern so scharf, wie angenommen, konstatiert der polnische Journalist Konstanty Gebert in der SZ: Auch jüngere Wähler mit höherer Bildung wählten Duda. Dessen Wähler eint aber vor allem die Angst, so Gebert: "Als ein Drittel der polnischen Landkreise sich zu 'LGBT-freien Zonen' erklärten, begriffen sie dies aufrichtig als Akt der Selbstverteidigung, angeblich sei sie notwendig geworden, um unter anderem ihre Kinder vor einer vermeintlichen 'Sexualisierung' zu bewahren. Die herrschende Mehrheit begriff sich selbst als bedroht und aufgrund dessen fast als Minderheit im eigenen Land - gewiss aber in Europa. Die traditionelle polnische Gesellschaft verändert sich tatsächlich grundlegend. Eins von vier Kindern ist heute unehelich, doppelt so viele wie noch zur Jahrhundertwende. Während bei den über Vierzigjährigen noch 40 Prozent angeben, es sei ihnen wichtig, wöchentlich zur Messe zu gehen, sind es bei den unter Vierzigjährigen nur noch 16 Prozent. Das ist keine Transformation, sondern eine Revolution."
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Gesellschaft

Nach den Krawallen in Stuttgart erforschte die Polizei zwar den Migrationshintergrund der Tatverdächtigen, aber keine weiteren soziologischen "Marker" ärgert sich die Ethnologin Judith Beyer in der taz: "Es stellt sich die Frage, ob eine derartige Ermittlung verhältnismäßig ist. Wenn der Eindruck entsteht, dass dem Migrationshintergrund ein besonderes oder isoliertes Interesse entgegengebracht wird, so ist nachvollziehbar, warum in den Medien seither über 'Stammbaumforschung' debattiert und der Polizei struktureller Rassismus vorgeworfen wird, auch wenn die Ermittlung ja erst im Nachgang der Tat erfolgte. Das prinzipiell zulässige Abfragen der elterlichen Herkunft wird so in einen Zusammenhang mit straffälligem Verhalten gestellt und spielt in erster Linie populistischen Parteien in die Hände."

Wir haben ein Integrationsproblem, sagt hingegen der Psychologe Ahmad Mansour mit Blick auch auf die Krawalle in Frankfurt im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Es dürfe deshalb keine Scheu geben, in der Berichterstattung auch den Migrationshintergrund zu benennen, meint er: "Eine der großen Herausforderungen dieser Menschen besteht, wenn sie auf eine Gesellschaft treffen, wo patriarchalische Strukturen nicht gern gesehen sind, wo Gleichberechtigung herrscht, wo Frauen bestimmte Rechte haben, wo sexuelle Selbstentfaltung zum Grundgesetz gehört. Das macht manchen Menschen Angst und führt dazu, dass in ihrer Interaktion mit der Gesellschaft gewisse Konflikte entstehen. (...) Da entstehen Identitätsverluste. Es geht ihnen häufig darum ihre Identität behaupten und ihrer Community zeigen zu wollen: Ich lebe in Deutschland, aber ich bin immer noch Muslim, Syrer oder Afghane."

Der gegenwärtige Zeitgeist, der "aufklärerische Religionskritik als Islamophobie" ächtet und "Selbstzensur als Übung in Political Correctness" erzwingt, ist nichts anderes als Totalitarismus, schreibt Bassam Tibi in der NZZ, einmal mehr für eine "Leitkultur" werbend: "In der bisherigen Geschichte kamen Muslime zweimal als Jihad-Krieger nach Europa, heute kommen sie friedlich im Rahmen von 'hidjra / Migration'. Im Jahre 711 kamen sie als Eroberer nach Spanien und wieder, 1453, nach Konstantinopel (heute Istanbul) und anschließend auf den Balkan. Anders als damals erfolgt Eroberung heute ohne Gewalt unter Berufung auf Minderheitsrechte und 'Identity Politics' in übergeordneter Vereinnahmung von Demokratie und Völkerrecht, beide sind europäisch, nicht islamisch, aber instrumentalisierbar."
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Internet

In seinem neuen Buch "Der kommende Neo-Feudalismus" warnt der amerikanische Geograf Joel Kotkin vor einem an das Mittelalter erinnernden Schulterschluss zwischen der "Oligarchie des Silicon Valley" und einer intellektuellen Klasse von "linken Klerikern", deren Dogmen alle andere Meinungen unterbinden. Im von der Welt übersetzten Gespräch mit Laura Mandeville (Le Figaro) erläutert er: Das Vermögen liege in der Hand der Tech-Giganten, Mittel- und Arbeiterklasse verarmen, während linke Intellektuelle "versuchen, die Werte der Familie und der individuellen Freiheit, die für den Erfolg Amerikas in der Nachkriegszeit und den Wohlstand der Mittelklasse gesorgt hatten, durch ein Credo zu ersetzen, das die Verteidigung des Globalismus, der sozialen Gerechtigkeit (definiert als Verteidigung von ethnischen und sexuellen Minderheiten; Anm. d. Red.) und ein dauerhaftes, von oben her vorgeschriebenes Entwicklungsmodell und eine Neudefinition der Rollen innerhalb der Familie verbindet. Sie sagen, dass eine nachhaltige Entwicklung wichtiger ist als das Wachstum, das die Arbeiterklassen aus der Armut führen könnte. Dieser Punkt wird für erhebliche soziale Spannungen sorgen. Wirklich verblüffend ist dabei die Geschlossenheit dieses 'Klerus'. Unter den Journalisten bezeichnen sich nur sieben Prozent als Republikaner..."
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Ideen

Den konservativen Zeit-Vordenker Josef Joffe erinnern die Proteste der "Woke"-Bewegung in den USA in ihrer Unbedingtheit an die 68er-Zeit: "Der Kniende von heute trägt keine Schuld an der Sklaverei, die der Kongress 1865 per Verfassungszusatz ächtete. Der Preis der Emanzipation waren 600.000 gefallene Amerikaner, mehr als in allen Kriegen danach. Wie kann der Bußfertige nach 150 Jahren den historischen Horror sühnen? In der Morallehre ist Schuld immer persönlich, deshalb wurden Nazi-Verbrecher einzeln in ordentlichen Verfahren verurteilt. Wokeness aber signalisiert Kollektivschuld ohne Ausweg. Wenn Rassismus 'systemisch' ist, hilft keine Reform, sondern nur die Revolution, die seit 1789 in neuer Unterwerfung mündet."

Ebenfalls in der Zeit empfiehlt Thomas Assheuer Richard Hofstadters Klassiker "Social Darwinism in American Thought" und eine Kolumne von Fintan O'Tooles in der NYRB um den Sozialdarwinismus Trumps zu verstehen. Außerdem, nachgetragen: Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, antwortet in der Berliner Zeitung auf die Attacke von Aleida Assmann (unser Resümee) und verteidigt die  Antisemitismusdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) , die neben Deutschland von 33 Staaten unterzeichnet wurde.
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Politik

Die zweite Corona-Welle macht den bisher von der guten wirtschaftlichen Lage überdeckten Zerfall der israelischen Gesellschaft offenbar, birgt aber auch die Chance für einen nationalen Neuanfang, glaubt der Judaist und Literaturwissenschaftler Alfred Bodenheimer in der NZZ: "Im größten Krankenhaus Haifas, wo (wie in allen Krankenhäusern in Israel) jüdisches und arabisches Personal Hand in Hand arbeiten, trugen arabische Mitarbeitende Gesichtsmasken mit der Aufschrift 'Partner im Schicksal, Partner in der Regierung'. Das ist durchaus als Forderung nach stärkerer politischer Beteiligung der heute gut organisierten arabischen Einwohner im Land zu lesen, aber eben auch als Bekenntnis zum gemeinsamen Staat. An der Partnerschaft zwischen den Bevölkerungsgruppen kommt heute niemand mehr vorbei".

Galt Beirut noch vor einiger Zeit als "arabisches New York", kämpfen die Beiruter unter der Staatschuldenkrise im Libanon nun ums Überleben, schreibt Tomasz Kurianowicz in der Berliner Zeitung: "Abends wird der Strom ausgestellt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Menschen haben nichts mehr zu essen. Die Inflation steigt rapide und die Banken zahlen keine Kredite aus. Die Beiruter gehen auf die Straße, demonstrieren, liefern sich Kämpfe mit der Polizei. Der Alltag ist außer Kraft gesetzt - nur kriegen wir es nicht mit. Der Starkoch Antoine El Hajj, der fünfmal die Woche eine Kochshow im Fernsehen leitet, dass er seine Rezepte jeden Tag neu anpassen muss, weil die Zutaten fehlen. Erst hat er Rindfleisch durch Schwein ersetzt. Jetzt konzentriert er sich auf Rezepte mit wenig Öl, wenig Ei und billigem Gemüse."
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