9punkt - Die Debattenrundschau

So etwas tötet den freien Gedanken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2021. Die Welt fragt entgeistert, was woke Linke dazu treibt, in eine innerjüdische Debatte einzumarschieren. Deutschland ist eine Säule für die Zivilisation, schmeichelt in der SZ der Politikwissenschaftler Parag Khanna, und fordert ein modernes Einwanderungsprogramm, damit das auch so bleibt. Auch Araber können Demokratie, ihre Führer müssten sie nur wollen, ruft der palästinensische Politikwissenschaftler Khaled Hroub mit Blick auf Tunesien in Qantara. Nicht Bullerbü, Hameau ist das Symbol für grüne Stadtpolitik, seufzt die FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.09.2021 finden Sie hier

Ideen

Was - außer dem "heimeligen Gefühl, im warmen Mief der Gruppe auf der moralisch vermeintlich richtigen Seite zu stehen", veranlasst 278 überwiegend nicht-jüdische, aber "woke" Linke mit einem offenen Brief in eine innerjüdische Debatte "einzumarschieren" (unsere Resümees), fragt entgeistert Deniz Yücel auf zwei Feuilleton-Seiten der Welt: "Merken die nicht, wie anmaßend das ist? Vermutlich nicht. Souffliert von Frantz Fanon und Judith Butler, Achille Mbembe und Kimberlé Crenshaw hat die 'intersektionale' Linke eine Welt erschaffen, in der die Zentralkategorie Diskriminierung lautet und das Ziel 'Diversität'. Objekt der Begierde ist, wer als Opfer einer ethnischen, kulturellen, geschlechtlichen, sexuellen, 'klassistischen' Diskriminierung ausgemacht werden kann. Dazu gehören die Muslime als Leidtragende von Islamophobie. Und auch die Juden kann man in diese Täter-Opfer-Welt einfügen, zumal sie nicht nur den Antisemitismus mitbringen, sondern auch Auschwitz, wobei diese diskursive Eingemeindung nur funktioniert, solange man Israel außen vor lässt ."

Deutschland ist ein "Musterbeispiel für die Welt", eine "Säule für die Zivilisation", sagt der Politikwissenschaftler Parag Khanna im SZ-Gespräch mit Moritz Baumstieger. Und damit das so bleibt, fordert er Digitalisierung an Schulen und ein "Einwanderungsprogramm, eine Mischung der Systeme von Singapur und Kanada, mit einer Art Punkteskala": "Eine niedrige Punktzahl müsste ja nicht bedeuten, dass man gar keine Chance hat. Ich halte eine Art Leitersystem für ideal. Für weniger Qualifizierte müsste es heißen: Lerne Deutsch, such dir einen Job und mach keinen Ärger - wenn du diese Bedingungen erfüllst, kommst du auf die nächste Stufe. Wer die innehat, weil er aufgestiegen ist oder wegen seiner Qualifikation so eingestuft wurde, kann in ein paar Jahren permanenten Aufenthalt beantragen. In der nächsten Stufe dann die Staatsbürgerschaft. Diese Transparenz wäre für Immigranten gut, aber auch für die deutsche Gesellschaft. Sie müsste nicht bei jedem Ausländer fragen: Wer ist das, ein Sozialfall, ein Terrorist?"
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Gesellschaft

Anlässlich von 60 Jahren Migration aus der Türkei nach Deutschland schaut sich Can Dündar in der SZ die Einwanderer von heute an, die mit der aktuellen Migrationswelle nach Deutschland kommen: "Jetzt kommen nicht wie damals anatolische Arbeiter, sondern Akademiker und Politikerinnen, Schriftsteller und Journalistinnen, Kunstschaffende und Studierende. Gut ausgebildete Eliten der Türkei, die im Parlament, auf dem Campus, in den Medien und Ateliers Einfluss hatten. Menschen, die wegen eines Wortes, das sie ausgesprochen, einer Unterschrift, die sie unter eine Kampagne gesetzt, eines Bildes, das sie angefertigt, oder eines Textes, den sie geschrieben hatten, Repressalien ausgesetzt waren und, freiwillig oder notgedrungen, in die Freiheit flüchteten. Berlin wird immer mehr zur Exil-Hauptstadt der türkischen Diaspora."
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Stichwörter: Dündar, Can, Türkei, Migration

Politik

Auch in Tunesien scheint die Arabellion an ihre Ende gelangt zu sein, seit dort Kais Saied zum Präsidenten gewählt wurde. Mit Hilfe beratender ägyptischer Generäle entließ er den Regierungschef, suspendierte das Parlament und will jetzt per Dekret regieren. Tunesien hatte schon mehrmals Aussichten, eine echte Demokratie zu werden, jetzt sind sie wieder gescheitert. Können die Araber Demokratie nicht, fragt bang der palästinensische Politikwissenschaftler Khaled Hroub in Qantara. "Der Behauptung, das Volk sei noch nicht bereit für Demokratie, haftet ein Hochmut, eine Grundhaltung der Bevormundung an, wie ihn unsere gesellschaftlichen und politischen Eliten beständig an den Tag legen. Ebenjene Eliten werden immer nervöser in diesen Tagen mit Blick auf ein Volk, das auf Antworten wartet: Wer soll diese Demokratie versuchen, wenn nicht wir? Wann ist das Volk bereit und wer lässt uns dies wissen? Wer bereitet das Volk auf den demokratischen Übergang vor? Etwa die autoritären Regime selbst, am eigenen Ast sägend, in einem heroischen Akt der Selbstaufopferung? Die Antworten darauf sind sie dem Volk bislang schuldig geblieben."
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Kulturpolitik

Mehr Bullerbü wagen, fordert in Berlin die Grünen-Politikerin Bettina Jarasch. In der FAZ rollt Niklas Maak mit den Augen. In Berlin-Mitte vielleicht, wenn die "weiße Oberschicht" das denn will. Aber "wie sähe eine grüne Utopie in den Plattenbauvierteln aus? In den Vorstädten? Sie zu begrünen, dort neue Schwimmbäder und Gemeinschaftseinrichtungen zu bauen und wirklich attraktive Verkehrsmittel anzubieten für den Weg ins Zentrum wäre noch etwas dringlicher, als das Innere der Städte auf das Behäbige und Enge eines Dorfs herunterzupegeln. In Berlin wie in Paris erinnern die Innenstadt-Bilder, die eine ökologische Zukunft der Städte zeigen sollen, an die falsche Idylle des Hameau, des Bauerndorfs, das sich Marie Antoinette kurz vor der Revolution im Park von Versailles bauen ließ. Die pittoreske Kulisse, in der sich die privilegierte Klasse ihren nostalgischen Träumen hingab, wusste nichts von der Not, die in den echten Dörfern jenseits des Wohlstandsgürtels herrschte."
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Europa

Selten gab es einen "unpolitischeren" und "anspruchsloseren" Wahlkampf, klagt Thomas Schmid in der Welt, der dafür vor allem die "unerträgliche Moralisierung des politischen Raums" verantwortlich macht, "die eine ernsthafte und vorbehaltlos kontroverse Auseinandersetzung über die Zukunft der Gesellschaft inzwischen beinahe unmöglich macht": "Wer Wahlen gewinnen will, muss vorsichtig, muss stets auf der Hut sein. Er darf kein Wort sagen, das man später gegen ihn wenden könnte, er muss stets korrekt bleiben. Und unfrei. So etwas tötet den freien Gedanken. Und es scheint viele Politiker zu zwingen, um mehrere Ecken herum zu argumentieren, um nur niemanden zu verschrecken. Das vollkommene Ziel wäre erreicht, wenn alle Kandidaten unter dem Taktstock von Linda Zervakis den Choral anstimmten: 'Wir werden fortan alles tun, um den Klimawandel zu stoppen und ihn sozial zu gestalten.' Bizarre schöne neue Welt."

Zwei Dinge sind für Herfried Münkler in der SZ sicher: Die Regierungsbildung wird lange dauern und mit dem "Ende der Ära Merkel" wird sich einiges ändern: "Eine (…) Folge dürfte sein, dass es künftig keine so langen Kanzlerschaften wie die von Merkel und Kohl, aber auch von Adenauer und Schmidt mehr geben wird. Die Ära Merkel war wohl die letzte dieser Art. Das ist eine Folge des relativen Niedergangs der Volksparteien, den die SPD seit mehr als einem Jahrzehnt erfahren hat und der diesmal auch bei der CDU Spuren hinterlassen wird. In der Folge werden, wie schon jetzt beobachtbar, die Richtungskämpfe in der CDU zunehmen, wie das seit Längerem bei der SPD der Fall ist. Das wiederum wird starke Parteivorsitzende verhindern, die die 'geborenen' Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten wären."

Für Kurt Kister ist ebenfalls in der SZ eine Ampelkoalition unter Scholz indes fast ausgemachte Sache, auch weil Grüne und FDP in die Regierung drängen werden. Große Änderungen erwartet er aber nicht: "Viele Angehörige der Mitte sind - gerade in den sozialen Medien, soweit sie diese nutzen - verbal zu großer Veränderung, Erneuerung, Reform etc. bereit. Tatsächlich aber hält die Mehrheit der bürgerlichen Mitte, die auch diese Wahl wieder entscheiden wird, zum Beispiel die Leute von 'Fridays for Future' für bewundernswert engagiert, aber eben auch für jung und, freundlich gesagt, entsprechend kompromissungewohnt und etwas gaga."
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