9punkt - Die Debattenrundschau

Freiheit muss man können

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2021. In einem flammenden Plädoyer ruft die Schriftstellerin Katja Lange-Müller in der SZ die Deutschen zur Wahl auf, nur nicht zur Wahl der AfD. Bundespräsident Steinmeiers Rede zur offiziellen Einweihung der außereuropäischen Sammlungen im Humboldt Forum wird in die Geschichtsbücher eingehen, versichert der Tagesspiegel. Auch die SZ lobt Steinmeiers Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Die FAZ staunt über die Universität Bonn, die Studenten nur als Affektbündel zu kennen scheint. In der Zeit lobt Navid Kermani den Pragmatismus Angela Merkels, hätte in sechzehn Jahren aber auch gern mal eine Rede gehört, die übers Machbare hinaus blickt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.09.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

In einem flammenden Plädoyer ruft die Schriftstellerin Katja Lange-Müller in der SZ die Deutschen zur Wahl auf und warnt die Ostdeutschen davor, aus Rache AfD zu wählen: "Verdrängen sie, dass es ihr Wunsch gewesen war, und dass nicht der Staat BRD manchen der 'unsrigen' zu einem unselbständigen, pessimistischen Menschen gemacht hatte? Sie sind im Wortsinn enttäuscht, heimlich wohl auch von sich selbst. Denn mittlerweile dürfte auch denen klar sein, dass man Freiheit nicht nur wollen, sondern können muss. Frei zu sein, muss man lernen; es bedeutet: Übernimm Verantwortung für dein Wohl und Wehe, also für dich und deine Nächsten." Und die Westdeutschen hören vielleicht auf, "auf ihre Landsleute in den neuen Bundesländern runterzugucken wie auf plebejische Kohlköpfe", ergänzt sie.

Thomas Thiel hat für die FAZ die vom Gleichstellungsbüro der Universität Bonn verschickten "Informationen und Anregungen zum Umgang mit Inhaltshinweisen in der Lehre"studiert und staunt über das Bild, das die Uni von ihren Studenten hat, denen sie in ihren Räumen einen kuscheligen "Safe Space" verspricht: "Der Leitfaden entwirft Studenten als Affektbündel, die nicht über die Fähigkeit verfügen, Dinge intellektuell zu distanzieren. Schon persönliches Beleidigtsein reicht als Grund, sich in der Tat verstörenden Themen wie Klassenkampf, Kriminalität oder sexuelle Gewalt zu entziehen. Was drückt sich darin anderes aus als die Aufkündigung der Solidarität mit jenen, die davon betroffen sind? Und welchen Wert hat ein Bildungsabschluss, der auf selektiver Wahrnehmung beruht? Hier stößt der Leitfaden auf einen praktischen Widerspruch, denn mit dem Stoff soll sich der Student trotzdem vertraut machen, etwa in der gefühlten Sicherheit der eigenen vier Wände, die offenbar viel besser dafür geeignet sein sollen als die schmutzige Hochschulwelt."

Außerdem: In der taz warnt die Kommunikationsdesignerin Dörte Stein im Streit um geschlechtergerechter Sprache: "Gendersprache schafft Irritationen, die teils sogar gewollt sind, um für geschlechtliche Vielfalt zu sensibilisieren. Relativ unsensibel ist dieses Vorgehen jedoch im Hinblick auf die Barrierefreiheit." In der FAZ erklärt Patrick Bahners den Begriff des Traumas. Und Christian Geyer ärgert sich über die seiner Ansicht nach unfaire und herablassende Behandlung der SPD-Ko-Vorsitzenden Saskia Esken.
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel lobt Rüdiger Schaper Bundespräsident Steinmeier, der in seiner Rede zur offiziellen Eröffnungsveranstaltung im Humboldt Forum, an die Verbrechen des Kolonialismus erinnerte: "Der Bundespräsident spricht zur Einweihung des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst - mit tiefer Verbeugung vor den Humboldt-Brüdern - in einer Art und Weise, die in die Geschichtsbücher gehört. Im Wegdrücken und Übersehen der kriminellen Vergangenheit sieht Steinmeier 'die tieferen Wurzeln des Alltagsrassismus, bis hin zu tätlichen Angriffen und furchtbaren Gewalttaten'."

In der SZ applaudiert Jörg Häntzschel der Rede Steinmeiers, der auch gesagt hat, in Deutschland lebten nicht "Menschen mit Migrationshintergrund - wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!" Noch größeren Beifall zollte Häntzschel der Rede der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie: "Sie sagte den Zuhörern, von denen ein großer Teil den Wiederaufbau der historischen Fassade mit ihrer Spende finanziert hatten, das Schloss stehe 'für Deutschlands Sehnsucht nach imperialen Zeiten'. 'Als Wilhelm II hier lebte, töteten deutsche Soldaten Kinder, Frauen und Männer in Südwest-Afrika'". Adichie forderte ein Ende der Diskussionen der Diskussionen über geraubte Kunst und endlich Rückgaben. Sie ließ die Museumschefs Hartmut Dorgerloh und Hermann Parzinger zu Häntzschels Freude vor dem Publikum dastehen "wie von der Lehrerin gemaßregelte Schulkinder". Auf Spon fordert Ulrike Knöfel: "Die Vitrinen und Depots müssten leerer werden, dann wäre auch Platz für den Dialog der Weltkulturen, den die zuständigen Kulturpolitiker und auch die Schlossherren so gern heraufbeschwören."

Den Eröffnungsakt mit den Reden Steinmeiers und Adichies (ab 1:19:56) kann man hier verfolgen:



Hanno Rauterberg hat für die Zeit die außereuropäischen Sammlungen im Humboldt Forum besichtigt und stellt staunend fest: "Die ewig währende Debatte, der Streit um den Sinn und Zweck des Schlosses, um koloniale Schuld, alles weicht einer anderen Wirklichkeit. ... Eine Fülle tut sich auf, die einen davonträgt, ein Reichtum an schrulligen, kühnen, erhabenen, bedrohlichen, oft rätselhaften Dingen, dem sich wohl kaum jemand entziehen kann. Denn ganz gleich, welche Geschichte, welche Bedeutung sie haben, aus ihnen spricht eine ungeheure Hingabe an die Form. Und aus der Hingabe die Lust an der Verwandlung. ... Es ist ein Museum der gemischten Gefühle geworden, das macht die Stärke des neuen Humboldt Forums aus. Über weite Strecken gelingt es, die Balance zu wahren. Das Museum lässt uns die Eigenmacht der Dinge spüren, ihre Würde; zugleich bleibt die Frage nach Schuld und Verantwortung nicht außen vor."
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Ideen

In der NZZ skizziert der Philosophiehistoriker Christoph Lüthy "die berüchtigte Mehrdeutigkeit" von Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus". Die habe "nicht zuletzt damit zu tun, dass Wittgenstein seine Begriffe nicht - oder jedenfalls zu wenig - definiert und dass auch kaum ein argumentatives Baugerüst steht, an dem man hochklettern könnte."
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Europa

Navid Kermani denkt in der Zeit über Angela Merkel nach, die er schätzt, ohne ihre Fehler zu übersehen. Ihr größter Schwachpunkt, erkennt er, ist eine fehlende Programmatik, mit der sie auch mal über den Tellerrand des Machbaren hätte blicken können: "In sechzehn Jahren hat sie nicht eine einzige Rede gehalten, die über den Tag hinausgewiesen hätte, nicht über Europa, nicht über Deutschlands Rolle in der Welt, schon gar nicht über Kultur, und man kann es beinah verstehen. Eine Grundsatzrede von Angela Merkel hätte wie ein Widerspruch in sich selbst gewirkt. Im Ergebnis freilich liegt Deutschland zum Ende ihrer Kanzlerschaft auf zahlreichen Gebieten zurück ... Vollends desolat ist der Zustand, in dem sie die Christdemokratie hinterließ. Das hat Ursachen und ist nicht einfach so passiert."

Heuchlerisch und wehleidig findet Klaus Geiger in der Welt die Reaktion der Europäer auf den geplatzten U-Boot-Deal Frankreichs mit Australien und das neue Aukus-Bündnis zwischen den USA, Australien und Britannien. Denn "Der U-Boot-Deal ist die Antwort auf Angela Merkels Verrat. Sie hatte mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron heimlich und leise ein Wirtschaftsabkommen mit China schlussverhandelt. Joe Biden war da gewählt, aber noch nicht im Amt. Die US-Regierung wurde nicht konsultiert - und musste ohnmächtig zusehen, wie Europa mit dem Deal klarmachte, dass es den USA in deren scharfer China-Politik nicht folgen will. Bei Biden kam die Botschaft an: Wir wollen den militärischen Schutz der Supermacht USA, aber gleichzeitig gute Geschäfte mit den Feinden der USA machen."

Es geht bei dem geplatzten Deal nicht einfach nur um Geld, stellt der Diplomat Gérard Araud im Interview mit der Zeit klar: "Der Verlust der strategischen Partnerschaft wiegt schwerer: Wir haben in vielen Bereichen mit den Australiern kooperiert. Noch vor Kurzem haben unsere Marinen gemeinsame Manöver im Indischen Ozean durchgeführt. Minister haben sich getroffen, die letzten beiden Staatspräsidenten Frankreichs sind nach Australien gereist, obwohl das eine 20-stündige Flugreise bedeutet. In Frankreich wird diese Entscheidung als Killer unserer indo-pazifischen Strategie gesehen. Für uns ist es ein politischer Schlag auf die schlimmstmögliche Weise: über Nacht, ohne Warnung. Dann entdecken wir, dass auch die USA und das Vereinigte Königreich sich gegen uns verschworen haben."

John Lichfield, der 20 Jahre Paris-Korrespondent für den Independent war, kann den Ärger der Franzosen über Joe Biden dagegen gut verstehen: Schließlich seien die Franzosen direkt belogen worden, schreibt er in Unherd. Doch: "So wie die Dinge stehen - oder wie sie standen - gibt es nur wenige Abnehmer für Macrons Vision einer Europäischen Union, die eine viel größere Rolle bei der Verteidigung ihrer eigenen Sicherheit und ihres Wohlstands in Verbindung mit der Nato spielt. Nur wenige andere EU-Länder wollen die Konsequenzen tragen, wenn sie die amerikanische Garantie gegen Russland verlieren oder mehr für ihre eigene Verteidigung zahlen müssen. Das wird sich nicht über Nacht ändern, aber die tektonischen Platten könnten sich verschieben. Die europäischen Nato-Länder wurden bereits durch das Versäumnis der Amerikaner, sich über ihren Rückzug aus Afghanistan zu beraten, schwer erschüttert. Jetzt müssen sie sich mit den Auswirkungen der AUKUS-Affäre auseinandersetzen, bei der Washington die Interessen eines Verbündeten auf verlogene Weise unterdrückt hat. Die Nato in ihrer jetzigen Form hat Donald Trump überlebt. Kann sie auch Joe Biden überleben?"

Der Aukus-Streit steht "für ein Problem, das die Franzosen allein nicht lösen können", meint auch Nadia Pantel in der SZ. "Seit Beginn der Pandemie gehört 'Souveränität' zu Macrons Lieblingsvokabeln. Ob medizinisch, wirtschaftlich oder eben insbesondere militärisch: Er verspricht den Franzosen mehr Unabhängigkeit - gleichzeitig jedoch, und da steckt die Schwierigkeit: mehr Europa. ... Zugegeben, es ist kompliziert, dafür Partner zu finden, weil das alles klingt wie: 'Frankreich zuerst, aber ihr dürft mit.' Aber sein größtes Problem liegt nicht in europäischem Widerstand, sondern in europäischem Schweigen, in europäischer Ideenlosigkeit. Es ist bezeichnend, dass Deutschland von der Aukus-Krise kaum etwas mitzubekommen scheint, weil es so mit sich selbst beschäftigt ist."

Emmanuel Macron hatte die letzten Jahre "vollkommen recht", meint Sascha Lehnartz in der Welt: "Die Europäer müssen begreifen, dass sie ihre Sicherheit künftig in viel stärkerem Maße selbst gewährleisten müssen. ... Deutschland muss sich nun entscheiden, ob es den von Macron vorgeschlagenen Weg zu größerer strategischer Autonomie und europäischer Souveränität mitgehen will. Wenn es das will, muss es sich ziemlich rasch überlegen, wie dieser Weg zu gestalten wäre. Andernfalls wird es von Frankreich mitgeschleift. Wenn es das hingegen nicht will, muss es sich überlegen, was es Macron entgegensetzen soll."
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