9punkt - Die Debattenrundschau

Unmissverständliches Symbol

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.01.2022. Emma erklärt, warum der "World Hijab Day" abgeschafft gehört und verweist auf Masih Alinejads Kampagne #LetUsTalk. In der taz wundern sich die Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk und Rainer Eckert doch sehr über das kompakte Schweigen der Kollegenschaft zur Auflösung von Memorial. Der "Radikalenerlass" war verlogen, weil er vor allem gegen Linke gerichtet war, schreibt Ronen Steinke in der SZ und fordert endlich ein Disziplinarrecht vor allem gegen Rechtsextreme. Den Stuttgarter Zeitungen geht der Arsch auf Grundeis, notiert Kontext.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.01.2022 finden Sie hier

Religion

Seit eine Designerin "bescheidener" Mode den 1. Februar zum "World Hijab Day" erklärt hat, wird in vielen Kanälen Reklame für das Kopftuch gemacht. Etwa bei Funk, dem Jugendsender der ARD:



Die Exil-Iranerin Masih Alinejad hat dagegen die Kampagne #LetUsTalk ins Leben gerufen, in der sich Frauen aus Ländern mit Kopftuchzwang gegen das Kopftuch aussprechen. Sie selbst schreibt: "Mir wurde gesagt, wenn ich keinen Hidschab trage, fliege ich von der Schule, werde ins Gefängnis geworfen, ausgepeitscht, verprügelt und aus meinem Land vertrieben. Im Westen sagt man mir, dass das Erzählen meiner Geschichte 'Islamophobie' auslösen würde. Ich bin eine Frau aus dem Nahen Osten und ich habe Angst vor der islamistischen Ideologie. Lasst uns reden."

"Der 1. Februar ist kein zufälliger Termin", schreibt Annika Ross bei emma.de: "Es ist der Tag, an dem 43 Jahre zuvor Ajatollah Khomeini zu Zeiten der sogenannten 'islamischen Revolution' aus dem Pariser Exil in den Iran zurückkehrte. Das Land kippte quasi über Nacht in den Gottesstaat, der fundamentalistische Islam wurde zur Staatsdoktrin erklärt. Khomeini und seine Gefolgsleute hatten ein unmissverständliches Symbol für ihren Triumph auserkoren: Die Zwangsverschleierung der Iranerinnen. Und der 'World Hijab Day' fordert Frauen heute dazu auf, aus 'Solidarität mit den Kopftuchträgerinnen mal einen Tag lang ein Kopftuch aufzusetzen'."
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Europa

Großbritannien ist eine Demokratie der Praxis ohne Verfassung. Alle Hoffnungen auf ein regelgeleitetes Agieren der Regierung liegen auf der "good-chap theory of government", erläutert der Times-Kolumnist Ferdinand Mount in der FAZ. Aber was ist, wenn der Kumpel, der gerade im Amt ist - ein gewisser Boris Johnson -, nicht gut ist und die Institutionen skrupellos für seine Interessen missbraucht? "Wir werden uns beklommen unserer verfassungsmäßigen Blöße bewusst, die sich vor allem im Fehlen jedes dauerhaften und übergreifenden Rahmens für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs zeigt. Die gegenwärtige Regierung besteht aus englischen Nationalisten, denen auf zynische Weise gleichgültig ist, was in Schottland, Wales und Nordirland geschieht." Mount sieht die Erneuerung der Idee des "Dienstes an der Krone" als einzigen Weg für eine Reform.

Europa steht mit Blick auf die Ukraine-Krise vor einer der "größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg", schreibt Rüdiger von Fritsch, bis 2019 Botschafter Deutschlands in Russland und fordert in der SZ klare Kante gegen Russland: "Da der Konflikt, dessen Opfer die Ukraine war und ist, militärisch nicht zu lösen ist, müssen wir jene Instrumente einsetzen, die geeignet sind, Moskau zum Einlenken zu bewegen: Die russische Führung muss erkennen, dass ihre eigene Machtbasis wirtschaftlich und finanziell gefährdet wäre. So groß seine finanziellen Reserven derzeit auch sein mögen - am Ende ist Russland ein Koloss auf tönernen Füßen."
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Geschichte

Ein kompaktes Schweigen benennen die beiden Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk und Rainer Eckert in der taz im eigenen Metier beim Thema Memorial, der Organisation, die die Verbrechen des Stalinismus aufarbeitet und sich aktuell für Menschenrechte einsetzt und die von Wladimir Putin abgeschafft wurde. Einige Organisationen und Akteure wie die Zeitschrift Osteuropa gaben zwar ihrer Empörung Ausdruck. Aber insgesamt sei "das eisige Schweigen der historischen Zunft enttäuschend. Auch die Stimmen der meisten Russlandkenner waren kaum zu hören. Woran könnte das liegen? Geht es vielleicht doch um eine ungestörte Zusammenarbeit mit russischen Einrichtungen, um den Zugang zu Archiven, um die Fortsetzung begonnener Projekte und darum, deren Finanzierung nicht zu gefährden? Wenn dies so wäre, dann käme es einer moralischen Bankrotterklärung gleich und wäre ein Verrat an den Ideen und dem Engagement von Memorial."

Vor einigen Wochen forderte der Historiker Wolfgang Reinhard in der FAZ das "Recht auf Vergessen" und ein Ende einer angeblichen deutschen "Holocaust-Orthodoxie", Widerspruch kam unter anderem von den evangelischen Theologen Peter und Gabriele Scherle, ebenfalls in der FAZ. (Unsere Resümees) Reinhards mit "antisemitischen Klischees gespicktem" Text will heute in der Welt auch der Historiker Michael Wolffsohn nicht beipflichten, Erinnerungskultur dürfe sich aber auch nicht in "Bevormundungen und leeren Phrasen" ergehen, meint er: "Was spräche für die 'Gnade des Verschweigens'? Es bedeutet keinesfalls Vergessen schlechthin, sondern: kein versteinertes, inflationäres und somit entwertetes Erwähnen."

"Der Radikalenerlass von damals war so dermaßen überzogen und verlogen, dass er die Demokratie nicht gestärkt, sondern geschwächt hat. Er war verlogen, weil er (fast) nur Linke aus dem Staatsdienst aussperrte", meint Ronen Steinke in der SZ: "Was es heute braucht, ist ein Staat, der präzise und individuell die eindeutigen, aggressiven Protagonisten wie Björn Höcke oder Jens Maier vor die Tür setzt. Und das rasch - mit einem Disziplinarrecht, das viel zügiger ist, ohne elendig lange Fristen, und in dem Beamte sich nicht den Status eines kaum Antastbaren ersitzen können. Es ist eine blamable Vorstellung: Das nach bisherigem Recht realistischste Szenario, um den AfD-Hetzer Maier in Sachsen von einem Richterstuhl fernzuhalten, sieht so aus: Der ganze Landtag in Dresden müsste zusammenkommen, um eine 'Richteranklage' zu beschließen. Die geht dann ans Bundesverfassungsgericht. Das kann Jahre dauern."

In der FR erinnert heute auch Arno Widmann noch einmal an den Radikalenerlass: "An den Gerichten, die jetzt über die Verfassungsfeindlichkeit linker Demonstranten und Demonstrantinnen zu urteilen hatten, saßen immerhin Menschen, die hier bereits in den Nazijahren Urteile gefällt hatten. Das sollten die Hüter der Verfassung sein? Waren das nicht doch eher die, die sich an den Demonstrationen beteiligten?"
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Gesellschaft

Für die NZZ hat sich Fatina Keilani den am Donnerstag von fünf Bundestagsabgeordneten aus SPD, Union, FDP, Grünen und der Linken vorgestellten Gesetzesentwurf zum assistierten Suizid angeschaut, der ihr doch sehr "restriktiv" erscheint: "Zwei ärztliche Gutachten sollen nötig sein, um die Ernsthaftigkeit des Sterbewunsches zu beglaubigen. (…) Der Gesetzentwurf versucht die Schutzgüter auszutarieren. Minderjährigen verwehrt er den Zugang zum assistierten Suizid vollständig. Begleitet wird er von einem Antrag auf Stärkung der Suizidprävention. Der Entwurf wird vermutlich so nicht beschlossen, sondern durchläuft mit den beiden anderen Entwürfen den parlamentarischen Prozess, der bei den großen Fragen immer auch eine Standortbestimmung der Gesellschaft mit sich bringt. Andere Länder, darunter die Schweiz, sind hier schon viel weiter. Es ist nötig, auch in Deutschland Rechtssicherheit zu schaffen. Die Letztverantwortung sollte bei dem Sterbewilligen selbst liegen."
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Kulturpolitik

Gegen eine Parlamentspoetin hätte Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda in der Zeit nichts einzuwenden: "Ist die Kunst näher bei sich, wenn sie ein konservativer Staat zur Opposition zwingt? Oder ist das Beharren auf einer Kunst, die den Staat blöd finden muss, nicht ein zu einfacher Ersatz für die Mühen, sich einen Standpunkt zu erarbeiten?" Statt eine Parlamantspoetin zu fordern, wäre es sinnvoller, wenn Künstler sich zusammentäten, meint indes Jagoda Marinic in der SZ: "Wo ist derzeit ein Ort, an dem Künstler gemeinsam und wirkmächtig darüber nachdenken, was etwa soziale Medien für die Zukunft der Kunst bedeuten? Wo denken Schriftsteller und Verlage derzeit gemeinsam darüber nach, was es für das Kulturgut Buch bedeutet, wenn immer mehr Bücher es nötig haben, mit dem Gesicht eines Fernsehpromis vermarktet zu werden, um an die Leser heranzukommen?"
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Medien

In den Stuttgarter Zeitungen, die beide der SWMH-Holding gehören (die auch die Süddeutsche Zeitung besitzt) werden bekanntlich 55 Redakteurs- und andere Stellen gestrichen. Die Ressorts werden aufgelöst, statt dessen verbreiten Rubriken wie "Freizeit/Unterhaltung", "Stadtleben/Events" und "Liebe/Partnerschaft" Fröhlichkeit. Josef-Otto Freudenreich erzählt bei Kontext von der Verzweiflung der Journalisten. Die wirtschaftliche Lage ist allerdings tatsächlich ernst, scheint es: "Elf Prozent Umsatzrückgang, Einbruch der Werbeerlöse um 30 Prozent. Die digitalen Reichweiten rutschen, Schuld ist die 'allgemeine News-Verdrossenheit', die Papierpreise steigen um 82 Prozent gegenüber dem Vorjahr, der Mindestlohn erhöht sich, die Kurzarbeit fällt weg, und zu allem Übel hat Springer auch noch seinen Druckauftrag für die Bild-Zeitung beim 2017 gekauften Eßlinger Bechtle-Verlag gekündigt. 'Der Arsch geht auf Grundeis', fasst ein früherer Topmanager zusammen."
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