9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Hauch von Sarajewo

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2022. taz und Guardian erinnern an den Bloody Sunday von 1972, an dem britische Soldaten nordirische Demonstranten erschossen und den Toten anschließend Nagelbomben in die Taschen steckten, um sie als IRA-Kämpfer zu brandmarken. In der SZ schildert Sabine Simon, wie der Paragraf 219a die Arbeit der Beratungsstellen behinderte. In der taz gönnt sich der israelische Soziologe Natan Sznaider den Luxus der Gelassenheit gegenüber dem Postkolonialismus, in der FR setzt Aleida Assmann auf die Lebendigkeit der Erinnerungskultur.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.01.2022 finden Sie hier

Europa

In der taz erinnert Ralf Sotschek an den 30. Januar 1972 im nordirischen Derry, der als Bloody Sunday in die Geschiche einging, der Tag, an dem britische Soldaten auf unbewaffnete irische Demonstranten schossen: "Als die ersten Steine flogen, schossen Soldaten des 1. Fallschirmjäger-Regiments. Eine Stunde später lagen 13 Tote auf der Straße. John Johnston, der als erster von einer Kugel getroffen worden war, starb fünf Monate später an seinen Verletzungen. Der Schießbefehl, da sind sich die Experten einig, muss von oben, also der nordirischen Regierung in Belfast, oder von ganz oben, der Regierung in London, gekommen sein. Die Soldaten behaupteten, sie seien von Demonstranten beschossen und mit Nagelbomben angegriffen worden. Die Bilder, die von zwei Fotografen aufgenommen worden waren, zeigten, dass die Soldaten den getöteten Demonstranten Nagelbomben in die Taschen steckten, um sie als Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu denunzieren. 'An diesem Tag haben wir die jungen Leute verloren', sagte Pfarrer Edward Daly, der später Bischof von Derry wurde. 'Sie gingen weg und schlossen sich der IRA an.'"

Seit 1998 herrscht Frieden in Nordirland und die Macht ist geteilt, betont der Guardian, das Land hat sich verändert. Nur leider geht es nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts. Warum zum Beispiel wird bei den Gedenkfeiern am Sonntag der irische Premier anwesend sein, aber nicht der britische? "Von einem weitsichtigen Ansatz scheinen wir wieder wegzukommen. Nirgendwo wird dies momentan deutlicher als in Bezug auf das Nordirland-Protokoll des Brexit-Austrittsabkommens... Nicht alles, was mit Nordirland zu tun hat, sollte ausschließlich der britischen Regierung angelastet werden. Aber wenn sich die britische Regierung nicht konstruktiv, konsequent und ehrlich in Nordirland engagiert, drohen reale Gefahren, so wie es jetzt der Fall ist."

In der FAS gibt Anna Vollmer unterdessen gern zu, dass sie der Kombination aus Exzentrik und Arroganz, die die britische Upperclass an den Tag legt, durchaus etwas abgewinnen kann. Aber die Eskapaden von Boris Johnson und Prince Andrew zeigen die Grenzen auf: "In seinem Buch 'One of them' beschreibt der Schriftsteller Musa Okwonga seine Erfahrungen in Eton, der Schule, die auch Cameron und Johnson besuchten. Verfolgt man nun die Interviews und Statements von Johnson und seinen Mitstreitern, kommen einem unweigerlich Passagen des Buches in den Kopf. Da geht es zum Beispiel um 'The Bill', ein Register der Vergehen einzelner Schüler. 'In Eton', schreibt Okwonga, 'sind sogar deine Fehler legendär, was dir den Eindruck vermittelt, dass jede einzelne Sache, die du tust, wirklich bedeutend ist.'"
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Politik

Im taz-Interview fordert der polnische Politikwissenschaftler Piotr Buras von der Bundesregierung mehr Konfliktbereitschaft, mehr Abschreckung und überhaupt mehr Handeln gegenüber Russland: "Olaf Scholz hat die Russlandpolitik zur Chefsache erklärt. Er ist dieser Aufgabe aber überhaupt nicht gerecht geworden. Deutschland erhebt keinen Führungsanspruch mehr in der Russlandpolitik. Egal, wie man zur Politik Angela Merkels stand - es war unumstritten, dass sie die federführende Person in der EU-Russlandpolitik war. Sie hat sich aktiv um den Konsens in der EU gekümmert. Diese Lücke versucht nun Emmanuel Macron zu füllen. Das Problem ist nicht, dass die deutsche Politik so viel schlechter als die Politik anderer europäischer Länder ist. Da sind sicher einige unschlüssig. Das Problem ist, dass Deutschland eine viel größere Verantwortung zukommt." So sieht das auch Julia Friedrich vom Global Public Policy Institute in einem weiteren taz-Artikel.

Weiteres zum Thema: In der SZ denkt Kurt Kister zwar nicht, dass Deutschland der Ukraine Waffen liefern muss, spürt aber durchaus einen "Hauch von Sarajewo". Die NY Times berichtet, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenski den USA inzwischen vorwirft, eine Kriegspanik zu schüren, die dem Land nicht unbedingt helfe. In Atlantic weist David Frum auf die Spaltung der amerikanischen Republikaner hin: Während die Konservativen alten Schlages Präsident Joe Biden unterstützen, machen sich die Rechten um Peter Thiel, Tucker Carlson, Steve Bannon und Mollie Hemingway  für Wladimir Putin stark. Zu diesen rechten zählt Frum inzwischen auch Glenn Greenwald.

In der NZZ weist Stephan Bierling darauf hin, dass noch immer 39 Gefangene in Guatanamo interniert sind. Und da die USA selbst nicht wissen, wie sie aus dem Gefängnis herauskommen, wird die Situation immer verfahrener und bitterer: "Viele sind heute ältere Männer mit körperlichen Gebrechen, einer ist in seinen Siebzigern. Das Verteidigungsministerium ersuchte den Kongress 2019 bereits um 88,5 Millionen Dollar, um eine neue Gefängniseinheit mit Rollstuhlrampe, Pflegestation und Hospizabteilung zu bauen und zu betreiben."
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Ideen

Der israelische Soziologe Natan Sznaider kann dem Postkolonialismus nichts abgewinnen und empfiehlt im taz-Interview mit Till Schmidt aber, seine Aktivisten nicht zu ernst zu nehmen. Wissenschaftlich sei das ja alles nicht: "Ich glaube, dass ich mir den Luxus der Gelassenheit in diesen Debatten erlauben kann. Es gibt hier in Israel existenzielle Probleme wie die Bedrohung durch den Iran und wie man mit der Besatzung umgehen soll. Ich nehme die Debatten, wie auch die aktuelle um die Documenta aber natürlich ernst - und betrachte mit Sorge, wie Teile der sich weltoffen verstehenden deutschen Kulturelite ein doch sehr geschlossenes Weltbild haben."

In einem Text in der FR zum Historikerstreit 2.0 pocht die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (die sich als Initiatorin des Weltoffen-Aufrufs von Sznaider angesprochen fühlen muss) einerseits auf den Unterschied zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungkultur, andererseits auf die unterschiedlichen Stoßrichtungen der Polemiken von Dirk Moses und Wolfgang Reinhard: "Moses spricht vom 'deutschen Katechismus', Reinhard von 'Holocaust-Orthodoxie' und 'politischer Rechtgläubigkeit'. Doch Reinhard geht es nicht um die Aufnahme der Kolonialgeschichte in einen erweiterten Erinnerungsrahmen. Er plädiert tatsächlich für eine Abschaffung der Holocaust-Erinnerung. Dieses Plädoyer entspringt einer unter Historikern und Historikerinnen verbreiteten Aversion gegenüber der Erinnerungskultur, in der sie nichts anderes sehen als eine fatale Verfälschung und Verformung der Geschichte. Hier gilt es unbedingt zu unterscheiden zwischen einer allgemeinen Abwehr der Geschichtserinnerung einerseits und einer legitimen Kritik an der Art, wie sie betrieben wird, wenn zum Beispiel eine Erinnerung als Bollwerk gegen eine andere Erinnerung eingesetzt wird."
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Gesellschaft

Sabine Simon, Leiterin der Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen im Evangelischen Beratungszentrum München, weist in der SZ darauf hin, wie hilfreich die Abschaffung des Paragrafen 219a für die Beratungsstellen sein wird: "Auch die staatlich anerkannten Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege in Bayern haben - anders als die Beratungsstellen der Gesundheitsämter - keinen Zugang zu den offiziellen Ärztelisten der Regierungsbezirke. Telefonisch und händisch müssen wir Informationen recherchieren, aktualisieren und zusammentragen. So verlieren wir wichtige Zeit, die wir für Beratung und konkrete Unterstützung, etwa bei der Entscheidungsfindung, gut gebrauchen können." Und falls jemand glaubt, Frauen würden durch Werbung oder "einfache Zugänge" zur Abtreibung gebracht, listet sie noch einmal die tatsächliche Gründe auf: "Fehlende finanzielle Sicherheit, geringe bis fehlende partnerschaftliche wie öffentliche Unterstützung, fehlender Wohnraum, berufliche Risiken, gesellschaftliche und kulturelle Rollenerwartungen, das negativ besetzte Bild der Alleinerziehenden, die Angst vor einer Behinderung des Kindes."
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Geschichte

In einer Serie der SZ zum Epoche machenden Jahr 1972 erinnert Gustav Seibt an die Debatte um Willy Brandts Ostpolitik vor fünfzig Jahren, die über zwanzig Monate mit unfassbarer Härte ausgetragen wurde und begleitet war von Dauerstreit im Land, Austritten aus den Regierungsparteien und Abweichlern bei der Opposition. Besonders einschneidend sei gewesen, meint Seibt, dass sich Golo Mann als konservativer Historiker für den Grundlagenvertrag ausgesprochen habe: "Dass linke Literaten wie Günter Grass oder Walter Jens sie befürworteten, beeindruckte das Bürgertum, zumal in München, wenig. Aber Golo! Der war ja auch Bismarck-Bewunderer, geadelt durch Familie und Emigration, als Schriftsteller viel populärer als die meisten Romanciers. Im Revoltejahr 1968 hatte ausgerechnet er den Büchnerpreis erhalten, mit Studenten stritt er sich gereizt in Podiumsdiskussionen herum, sein aus der Zwischenkriegszeit mitgebrachter Antimarxismus war unbezweifelbar. Und doch focht er für die Verträge Willy Brandts! Nein, kein freudiges Ereignis seien sie, 'nur der melancholische Schlußstrich unter einen längst geschriebenen Text'."

Die FAZ bringt ein großes Gespräch mit dem Schauspieler und Autor Michael Degen über die Verfolgung seiner Familie im Nationalsozialismus, seine Zeit in Israel und seine Rückkehr nach Deutschland. Das Gespräch ist morgen im Bücher-Podcast der FAZ zu hören.
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