Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Nekrolog, ein Gedanken-Tsunami

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28.01.2022. Die nmz erlebt das Musiktheater der Zukunft mit der Uraufführung von 130 unausgeführten Skizzen Jani Christous. Zeit online fragt sich vor dem Hintergrund der Berliner Avantgardefestivals Ultraschall und CTM, was an Neuer Musik wirklich neu ist. Auch die FAZ attestiert der Neuen Musik eine Krise, hört aber doch auch erfreulich laute, schmutzige und lebendige Musik. Im Gespräch mit der NZZ erklärt Architekt Jacques Herzog, warum er kein Problem damit hat, in autoritären Staaten wie China zu bauen. Der Standard watet durch das fleischig rote Kleid einer Wiener Ausstellung zum Einfluss Freuds auf den Surrealisten Dali
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.01.2022 finden Sie hier

Bühne

"Once to be realised". Foto: Thomas Aurin

An der Deutschen Oper Berlin fand - von den Zeitungen bislang unbemerkt - die Uraufführung von "Once To Be Realized" statt, ein "Multi-Komponierenden-Projekt aus 130 unausgeführten Skizzen" des Komponisten Jani Christou. nmz-Kritiker Roland H. Dippel war hin und weg: Das ist "Musiktheater der Zukunft", ruft er. "Eine Pianistin hängt nach schroffen, direkt auf den Saiten im Hohlraum des Flügels erzeugten Tönen wie leblos über der Brüstung der Kantine. In einem Hof blasen Musiker bei unwirscher Feuchtigkeit in Rohre, die man auf den ersten Blick für Alphörner halten könnte. Auf dem Hauptpodium in der Tischlerei sitzen die Musiker zu Gesangssplittern aus der altgriechischen Tragödie in Bereitschaft - mit Glitzersteinchen auf den Augenlidern. Eine Sängerin zieht im erdbeerfarbenen Kleid ihre Kreise, andere Akteur*innen verharren weit hinten um einen Tisch. So viel Spielaktion, Raumerkundungslust und vor allem so viele Ortswechsel gab es in dieser Häufung von Personal und Mitteln selten bei einer Biennale-Produktion. Ein Nekrolog, ein Gedanken-Tsunami und demokratisches Konzept-Event aus einem Guss. ... Analyse und Intuition, Genius und Genuss, Überraschung und Überwältigung - all diese Angebote prasseln auf das zur Begeisterung gewillte Publikum."

Weitere Artikel: Victor Efevberha stellt in der taz die Hamburger Schauspielagentur Black Universe Agency vor, die auf die Vermittlung schwarzer Schauspieler spezialisiert ist. Christoph Weissermel berichtet in der FAZ vom gebeutelten Theaterbetrieb in den USA. Christine Dössel singt in der SZ ein kleines Liebeslied an die Schauspielerin Nicole Heesters, die demnächsten 85 wird.

Besprochen werden eine "Elektra" am Grand Théâtre in Genf (von Ulrich Rasche "im Bühnengeiste von Einar Schleef" inszeniert, freut sich Joachim Lange in der nmz, Rasche macht aus der Strauss-Oper "etwas, das man so noch nie gesehen hat", lobt auch Thomas Schacher in der NZZ), Benjamin Brittens "Peter Grimes" mit Jonas Kaufmann in der Titelrolle an der Oper Wien (Standard) und Tonio Kleinknechts Adaption von Manns "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" für das Theater Aalen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Jens Balzer lustwandelt für ZeitOnline durch die Veranstaltungsangebote der parallel stattfindenden Berliner Avantgarde-Festivals CTM - eher dem Techno zuzuordnen - und Ultraschall - eher der Neuen Musik zuzuordnen. Wobei er sich bei letzterem schon fragt, was an der Neuen Musik noch wirklich neu ist. "George Lewis hat eben erst wieder einen programmatischen Essay zur Erneuerung der Neuen Musik vorgelegt, in dem alles drinsteht, was gegenwärtig in einem Essay zur Erneuerung jedweder Kunstsparte drinstehen muss: Dekolonisierung, Intersektionalität, Initiativen von Nicht-Majoritären." Dazu passend hat Lewis sein Stück "Amo" mitgebracht, das auf einem Text von Anton Wilhelm Amo beruht, einem schwarzen Philosophen im Preußen des 18. Jahrhunderts. Diese sei zwar "kurzweilig anzuhören, aber was man nach dieser Bearbeitung des Textes davon noch versteht, ist - nichts. So überladen ist die Produktion und so selbstbezüglich die Virtuosität der Ausführenden, dass der Ausgangspunkt der Komposition darin völlig verschwindet. Es könnte hier auch um jeden anderen Text, jedes andere Thema, jede andere politische Einstellung gehen. Aber mit dem Label 'Dekolonisierung' gibt sich das Festival immerhin den Anschein politischer Aktualität."

Auch Jan Brachmann attestiert in seinem FAZ-Bericht vom Ultraschall-Festival der Neuen Musik eine seit langem handfeste Krise, vor der sie sich in gesellschaftspolitische Diskurse fliehe. "Gleichwohl ist der aktuelle Jahrgang bei Ultraschall ein insgesamt erfreulicher. Milica Djordjević verteidigt in 'Quicksilver' für Orchester einmal mehr ihre Freiheit des vitalen, schöpferischen Akts" und wirke wie "ein orchestrales Urschreistück: eruptiv, laut, schmutzig und lebendig, dabei klug kurz disponiert." Auch Yiran Zhao konnte begeistern, ihre Arbeit "Piep" sei "ein geradezu anrührendes Duett (ausgeführt von Christian Dierstein und Dirk Rothbrust) zweier Kontrolltöne sendender Zeitmesser, die sich fast wie Liebende in der Oper stimmlich ineinander verknäulen, um am Ende selig zu entschweben." Hier gibt es zahlreiche Konzerte des Festivals zum Nachhhören.

Sehr sympathisch findet es Julian Weber von der taz, "dass sich die alte Eiche Neil Young dem unethischen Treiben von Spotify in den Weg gestellt hat" - der kanadische Musiker protestiert damit gegen den Spotify-Podcast von Joe Rogan, der seine Reichweite dafür nutze, Verschwörungstheorien zu Corona zu verbreiten. Der Streamingdienst selbst hat derweil verlautbart, dass er 20.000 Podcast-Episoden gelöscht habe, die zweifelhafte Informationen zu Corona verbreiteten. "Vielleicht ist es ein verlorener Machtkampf, für viele gilt Young aber als moralischer Sieger", schreibt Michele Coviello in der NZZ. Youngs Reaktion halle "wie ein guter Verstärker auf der Bühne nach. Auch andere Künstler haben ihre Musik vom Streaming-Dienst entfernen lassen und zu einem Boykott von Spotify aufgerufen." Die Geschichte "wirft kein gutes Licht auf Spotify", meint Nadine Lange im Tagesspiegel und rät zum Wechsel zu Tidal, wo nicht nur die Klangqualität besser ist, sondern im Laufe des Jahres auch ein für die Künstler faireres Tantiemensysteminstalliert werden soll.

Um sich an Ernst Stankovsky zu erinnern, muss man schon recht alt sein. Stankovsky moderierte von 1969 bis 77 eine ZDF-Show, die heute in einem Ausmaß undenkbar wäre, dass es wirklich fast schon traurig ist: In "Erkennen Sie die Melodie?" war das Publikum aufgerufen, Operetten-, aber auch Musical- und Opern-Arien zuzuordnen! SZ-Autor Holger Gertz hat gemerkt, dass Stankovsky unglaublicherweise noch lebte, auch wenn er jetzt im Alter von 93 Jahren gestorben ist: "Wer sich die Hinterlassenschaften und letzten Spuren von 'Erkennen Sie die Melodie?' heute etwa auf Youtube anschaut, erkennt, dass der Wiener Stankovski - Sohn eines Kommerzienrats und Meisterfriseurs - ein nobler, stilvoller, spitzgliedriger und bestfrisierter Gastgeber war. Ein Conférencier, geschaffen für Zylinderhüte und weiße Schals, dem man jederzeit anmerkte, dass er mehr war als ein Quizmeister." Eine kleine Zeitreise:



Außerdem: Für die Welt spricht Mara Delius mit Jan Müller und Dirk von Lowtzow über das neue Tocotronic-Album. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Manfred Prescher über Lou Reeds "Hey babe, take a walk on the wild side". Clemens Haustein wirft für die FAZ einen Blick auf die Stellenpläne der deutschen Orchester: Die Zahl der Stellen bleibt stabil, doch die Absolventenzahlen sinken dramatisch - krisenbehaftet ist derzeit auch das Abonnentenwesen.

Besprochen werden die Ausstellung "The World of Music Video" in der Völklinger Hütte (Tsp), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Tsp) und das neue Album der Eels ("alles ist schrecklich, alles ist gut", meint Karl Fluch im Standard).

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Architektur

Im Gespräch mit der NZZ erklärt Jacques Herzog vom Architekturbüro Herzog & de Meuron, warum er kein Problem damit hat, in autoritären Staaten wie China zu bauen: "Es waren fast alle scharf auf die großen Projekte für Museen und Sportstätten, eine richtige Goldgräberstimmung. Damals gab es viel Gier, heute gibt es viel Heuchelei." Gebaut wird in China eh bald vor allem von chinesischen Architekten, meint er. "Die Frage, ob wir westlichen Architekten etwas für einen fremden Staat bauen dürfen, damit er sich selbst in ein besseres Licht rücken kann, ist auch unter diesem Aspekt eher lächerlich - ich halte dies für eine arrogante Frage. ... Wie gesagt, ich will mich so engagieren, wie ich es als Architekt zu können glaube. Wir wollen mit Herzog & de Meuron so weit gehen, dass Architektur einen Beitrag zur Gesellschaft und zur Art und Weise, wie wir leben, leisten kann. Ob sich das dann erfüllt oder nicht, können wir nicht bestimmen. Ich lehne es aber ab, dass wir mit China keine Bauprojekte entwickeln dürfen, während alle Welt mit China Handel betreibt."
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Kunst

Salvador Dali, Composicio amb tres figures. Academia neocubista. 1926. Museu de Montserrat, Barcelona. © Salvador Dali / Fundacio Gaia-Salvador Dali

Eine Wiener Ausstellung im Unteren Belvedere untersucht den Einfluss Freuds auf die Bildsprache Salvador Dalis. Zur offiziellen Eröffnung reist sogar das spanische Königspaar an, erzählt im Standard Katharina Rustler, die die Orangerie kaum wiedererkannte: "Für die Schau wurde der längliche Saal von Margula Architects offen gestaltet und in ein fleischig rotes Kleid gehüllt: Wände und Fußboden scheinen fast amorphe Züge anzunehmen. Wie in einem Fiebertraum können in fünf Stationen die Einflüsse von Freuds Theorien auf Dalís malerische Bildwelten nachvollzogen werden: ein Blick in die Abgründe bizarrer Träume, absurder Fantasien und Ängste. Zahlreiche Ausstellungsobjekte wie Briefe, Zeichnungen, Bücher, Magazine und Filme belegen die Obsession. In der Unterzahl sind die Gemälde: Insgesamt gibt es 16 Originale Dalís zu sehen."

Paris wird langsam wieder zur neuen Kunstmetropole, dem Brexit sei Dank, berichtet Ingo Arend in der SZ. "Zwar ist der Umfang des französischen Kunstmarktes noch eher gering. Im letzten 'Art Market Report' der Art Basel und der UBS-Bank schätzte die Ökonomin Clare McAndrew ihn mit 3,1 Milliarden Dollar (Großbritannien 9,9 Milliarden) auf gerade mal sechs Prozent des weltweiten Volumens. Doch die Signale für die zunehmende Bedeutung von Paris mehren sich: Einem Bericht der Online-Zeitung Artnet zufolge wuchs etwa die Auktionsindustrie an der Seine im Jahr 2020 um 49 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 'In den letzten Jahren ist eine neue Dynamik entstanden, die Paris auf dem Kunstmarkt seinen früheren Glanz zurückgibt' hat Cécile Verdier, Präsidentin von Christie's Paris, beobachtet."

Weiteres: In der FR berichtet Sandra Danicke von einem Kunstskandal in Aachen: Das Kunstkollektiv Frankfurter Hauptschule hatte ein Nazisymbol an einem historischen Gebäude der Stadt angebracht. In der FAZ hofft Stefan Trinks, dass die Stadt Görlitz bald Gerhard Richters frühes Wandbild an der Giebelwand einer Schule unter Denkmalschutz stellt. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Kunst für Tiere" in den Opelvillen Rüsselsheim (FR).
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Film

"Ich Ich Ich" von Zora Rux (dffb)

Rüdiger Suchsland resümiert für Artechock das 43. Filmfestival Max Ophüls Preis, bei dem sich der Nachwuchs des deutschsprachigen Films präsentiert. Die Pandemie tut dem Spielfilm nicht gut, schreibt er: "Der Wettbewerb um den besten Spielfilm bot wie im Vorjahr das schwächste Programm in diesem an sich hochinteressanten und sehr lohnenswerten Filmfestival. Denn hier überwiegt seit einigen Jahren auch in der Auswahl das Inhaltistische, das Themenfixierte. Während in dem doch notwendig thematisch orientierten Dokumentarfilm-Programm gewagtere ästhetische Entscheidungen erkennbar sind. Während bei dieser Auswahl ganz offensichtlich also auch auf Stil, Form und Ästhetik Wert gelegt wird, scheint es bei der Spielfilmauswahl doch vor allem darum zu gehen, jene vermeintlich wichtigen Themen abzuarbeiten, die die Agenda der Leitartikel vorgibt." Immerhin Zora Rux' Spielfilm "Ich Ich Ich" konnte ihn überzeugen. Ausgezeichnet wurden vor allem queere Filme, berichtet Thomas Abeltshauer in der taz und lobt insbesondere Uli Deckers "stilistisch eigenwilligen", autobiografischen Dokumentarfilm "Anima - die Kleider meines Vaters". Für den Tagesspiegel berichtet Kaspar Heinrich. Viele der Festivalfilme kann man noch bis Ende des Monats auf der Website des Festivals streamen.

Außerdem: Simon Spiegel schreibt für Artechock eine Geschichte der Spoilerpanik. In der Presse legt Lukas Foerster dem Wiener Publikum die Actionfilm-Reihe des Wiener Metro Kinos ans Herz. Der Standard meldet, dass der österreichische Filmproduzent Karl Spiehs gestorben ist, der mit seiner Lisa Film den deutschsprachigen Trivialfilm der Sechziger bis Achtziger geprägt hat.

Besprochen werden Paul Thomas Andersons "Licorice Pizza" (Welt, Artechock, unsere Kritik), Wen Shipeis "Are You Lonesome Tonight?" (Artechock, SZ, unsere Kritik), Hauke Wendlers Dokumentarfilm "Monobloc" über den gleichnamigen Plastikstuhl (FR, mehr dazu hier), George Clooneys Netflixdrama "Tender Bar" (FAZ), die Arte-Horrorserie "Das Seil" (FAZ) und eine in den USA gezeigte TV-Doku über Hugh Hefner und den Playboy (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Alexander Menden besucht für die SZ die Kölner Stadtteilbibliothek Kalk, die der niederländische Designer Aat Vos umgebaut hat, da der Mann nun auch am Entwurf für den Umbau der Kölner Zentralbibliothek beteiligt ist. Wenn es läuft wie in Kalk, wo Vos gezeigt hat, dass eine Bibliothek "viel mehr sein kann als ein Ort zum Bücherabholen", dann würde auch die Zentralbibliothek zu einem "dritten Ort", an dem Menschen sich treffen, lesen, aber auch plaudern, spielen, Musik hören, basteln oder im Internet surfen könnten. So ein Umbau kostet allerdings, lernt Menden: 81 Millionen Euro in Köln. "Um ähnliche Umbaumaßnahmen deutschlandweit angehen zu können und finanziell zu sichern, brauche es hierzulande, 'was es in Dänemark, Norwegen und den Niederlanden schon lange gibt', so Barbara Schleihagen, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Bibliotheksverbandes: 'Bibliotheksgesetze, die den gesellschaftlichen Auftrag der Bibliotheken nicht mehr auf den traditionellen Bildungsbegriff verengen, sondern ihre zusätzlichen Funktionen als Orte der Begegnung, der kulturellen Bildung und der demokratischen Willensbildung anerkennen und umsetzen.'"

Besprochen werden unter anderem Yasmina Rezas "Serge" (Standard, SZ), Joshua Cohens "Witz" (Standard), der von Hannes Bajohr und Annette Gilbert herausgegebene Band "Digitale Literatur 2" (54books) und Johann Jakob Sprengs "Allgemeines deutsches Glossarium" (FAZ).
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