9punkt - Die Debattenrundschau

Die Fassade des Antiimperialismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2023. Die FAZ sieht einen neuen Kriegeradel in Russland entstehen, mit großzügigen Abfindungen nach dem Tod. Politico beklagt die Heuchelei Lateinamerikas, das westlichen Imperialismus kritisiert, bei russischem aber schweigt. Im Interview mit der SZ wünschte sich der Politologe Thomas Biebricher, die CDU/CSU würden Strategien gegen rechts suchen statt gegen links-grün. In der taz fordert der Philosoph Stefan Gosepath, das Erben abzuschaffen. Manuela Lenzen erklärt im Interview mit der FR, wie sie KI Moral beibringen würde. In der SZ gibt der Historiker Andreas Eckert Frankreich eine Mitschuld am Putsch im Niger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.08.2023 finden Sie hier

Europa

In Russland entsteht gerade so etwas wie ein neuer Kriegeradel, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Dazu gehören neben der im Stile der NS-Ästhetik betriebenen Verherrlichung des Krieges ganz handfeste Vorteile: "Der emigrierte Ökonom Wladislaw Inosemzew rechnete unlängst auf dem Portal Riddle Russia vor, dass ein russischer Zeitsoldat, dessen Sold vor dem Einmarsch in die Ukraine mit umgerechnet 630 Euro unter dem Durchschnittsgehalt lag, seit Ende 2022 etwa 3000 Euro verdient. Das ist mehr als das Dreifache des russischen Durchschnittseinkommens. Mobilisierte verdienen dabei inzwischen so viel wie Vertragssoldaten. Stirbt ein Soldat, haben die Angehörigen Anspruch auf eine Einmalzahlung des Präsidenten von jeweils knapp 50.000 Euro, eine Versicherungssumme von etwa 30.000 Euro, die reguläre Entschädigung für den Tod eines Militärangehörigen von 47.000 Euro sowie umgerechnet 10.000 Euro seitens der regionalen Behörde." Da kommt im Tod ganz hübsch was zusammen.

Auf dem Gipfel der EU mit der CELAC, der Community of Latin American and Caribbean States, kam es zu keiner gemeinsamen Verurteilung Russlands wegen des Ukrainekrieges. In Politico kritisiert Frida Ghitis scharf die Zurückhaltung gerade der Staatsmänner, die sonst nicht müde werden, Kolonialismus und Imperialismus zu verurteilen: "Die russische Invasion in der Ukraine hat offenbar die Fassade des Antiimperialismus in einigen Entwicklungsländern eingerissen und die zugrundeliegende Heuchelei offenbart, mit der versucht wurde, Antiamerikanismus und Antiwestlichkeit in eine elegante, hochmütige und scheinbar kohärente Ideologie zu kleiden. Sicherlich haben Kolonialismus und Imperialismus auf beiden Kontinenten einen schrecklichen Tribut gefordert, und einige dieser Wunden eitern noch immer. Aber wenn Imperialismus falsch ist, warum sollte man ihn dann nicht verurteilen, wenn Russland der Verursacher ist? Das hat natürlich auch einen pragmatischen Aspekt. Viele Länder betrachten den Krieg einfach als das Problem eines anderen und ziehen es vor, keine Partei zu ergreifen. Aber wenn man bedenkt, dass Russlands Angriff auf die Ukraine und seine Weigerung, Getreide über das Schwarze Meer zu transportieren, die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen lässt und die Not der verarmten Menschen auf der ganzen Welt noch verschlimmert, dann ist dieser Krieg in der Tat jedermanns Sache."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Im SZ-Interview mit Tim Frehler spricht der Politologe Thomas Biebricher, Autor des Buches "Die internationale Krise des Konservatismus" über das Fehlen einer Strategie von CDU/CSU gegen rechts. Es sei "gefährlich" auf den Kulturkampf gegen Links-Grün statt auf konservative Themen zu setzen, meint er: "Das sind attraktive Themen, mit denen man gut mobilisieren und Aufmerksamkeit bekommen kann. Aber in dem Moment, in dem die Wähler merken: 'Die reden ja nur, die tun gar nichts', gehen sie einen Schritt weiter und landen bei der AfD. Ich kenne auch international kaum Beispiele, wo so ein Kurs mittelfristig von Erfolg gekrönt war - wenn man sich nicht eben selbst radikalisiert hat, wie etwa die britischen Tories." Stattdessen sollten die beiden Parteien schauen, "wie Helmut Kohl den Diskurs über die 'geistig-moralische Wende' geführt hat. Das war Anfang der 1980er-Jahre, Wirtschaftskrise. Da hat die Union gesagt: Erinnern wir uns doch daran, wie wir das Land nach dem Krieg schon einmal aus Ruinen wieder aufgebaut haben, wie wir damals zusammengestanden haben. So könnte man ja jetzt auch kommunizieren."

Erben ist eine "ungerechte Lotterie", meint im Interview mit der taz der Philosoph Stefan Gosepath und plädiert dafür, das Erben abzuschaffen. Am liebsten ganz, aber um des lieben Friedens willen würde er das Elternhaus ausnehmen. Den elterlichen Betrieb eher nicht: "Wenn man die Vererbung von mittelständischen Betrieben oder Familienunternehmen nimmt, stellen die in kleinen Dörfern oder Gemeinschaften natürlich Machtfaktoren dar. Hier wird also im Prinzip Macht doch noch vererbt. Dass das hart verteidigt wird, müsste einem eigentlich zu denken geben als guter Demokrat."

Am Freitag hatte bereits die NZZ darüber berichtet, dass das Online-Magazin Hyphen zwar Ahmad Mansours anwaltlicher Forderung nachkommen will, den fehlerhaften Text von James Jackson zu löschen, allerdings nur, wenn Mansour eine Verschwiegenheitsklausel unterschreibt (Unser Resümee). Solche Klauseln seien "üblich", meint Hyphen-Anwalt Oliver Graef auf SZ-Anfrage, berichtet Thorsten Schmitz ebenda. Nun liegt zwar der Unterlassungsvertrag ohne Schweigeklausel vor, der Text ist allerdings noch immer online in seiner Ursprungsversion abrufbar. Und: "Einen Schaden hat Jacksons Artikel dennoch bereits verursacht: Mansour sagt, nach Veröffentlichung des Artikels seien viele Menschen in seinem Dorf Tira davon überzeugt, er sei ein 'Verräter, Zionist, Islamhasser'. Aus Sicherheitsgründen könne er vorerst seine dort lebenden Eltern und Geschwister nicht mehr besuchen."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Die Wissenschaftsjournalistin Manuela Lenzen hat mit "Der elektronische Spiegel" gerade erst ein Buch veröffentlicht, in dem sie sich ganz nüchtern mit Künstlicher Intelligenz auseinandersetzt. Im FR-Gespräch mit Lisa Berins erläutert sie unter anderem, wie versucht wird, KI Moral zu lehren: "Mittlerweile füttert man die Systeme mit Texten oder etwa menschlichen Diskussionen zu verschiedenen Themen. Aus menschlich generierten Geschichten sollen sie lernen, was moralisch ist und was nicht. Einige Fortschritte konnten schon erzielt werden, die Systeme können jetzt zum Beispiel durchaus unterscheiden, dass man Zeit totschlagen darf, Menschen aber nicht." Aber: "Wenn in den Trainingsdaten Einseitigkeiten oder Fehler sind, werden diese übernommen. Und es ist tatsächlich so, dass viele Datensätze nicht sehr divers sind - gute, vielseitige und aktuelle Datensätze zu generieren, ist für die Unternehmen arbeitsintensiv und teuer. Die Systeme verstehen auch nicht, dass wir die zukünftige Welt anders haben möchten als die vergangene. Sie stricken die Strukturen der Vergangenheit in die Zukunft weiter. Ein Problem mit den großen Sprachmodellen ist zudem, dass ihre Antworten zwar plausibel klingen, aber nicht unbedingt wahr sind."

"Das neue Google könnte das offene Netz töten und das alte Google gleich mit", glaubt Titus Blome in der SZ. Denn Google plant, seinen KI-Assistenten "Bard" in seine Suche zu integrieren: "Künftig solle eine Suchanfrage nicht mehr nur zu einer langen Liste blauer Website-Links führen. Stattdessen wird der Chatbot Bard die Ergebnisse lesen und dann freundlich und präzise zusammenfassen. Google will von einer Suchmaschine zu einer Antwortmaschine werden. (…) Die Klicks für die Webseiten sind plötzlich gefährdet. Die KI-Wende bei Google zwingt das Internet zur Umstellung. Treibt die Google-Antwort nicht mehr im gleichen Maße wie die Google-Suche die Klicks auf die Webseiten, bedeutet das für viele von ihnen das Aus. Betreiber müssten auf Abonnements und Paywalls umsteigen, um sich von Werbung zu lösen und ihre Inhalte vor der KI abzuschirmen. Die, die das nicht können, gehen unter. (…) Der Wert der alten Suchmaschinen liegt darin, wie viel sie einbeziehen. Der Wert der neuen Suchmaschinen wird darin liegen, was sie ausschließen. Sie werden spezialisierter sein und sich nur auf spezifische Teile des Webs konzentrieren. Das Internet der Zukunft wird vermutlich demselben Prinzip folgen. Denkbar wäre, dass es sich in einen chaotischen und einen kuratierten Teil spaltet."
Archiv: Internet

Politik

In der SZ zeichnet der Afrika-Historiker Andreas Eckert, dessen "Geschichte der Sklaverei" vor zwei Jahren erschien, die kolonialen und neokolonialen Verflechtungen Frankreichs in Niger nach, an denen auch Macrons antikoloniale Politik scheiterte: "Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann Frankreich in seinen Kolonien nach Uran zu suchen. Erste Vorkommen wurden 1956 in Gabun gefunden, bald darauf auch in Niger, wo vor fünf Jahrzehnten die systematische Förderung einsetzte. Die Bilanz ist niederschmetternd. Niger erhielt nur etwa zwölf Prozent vom Wert des geförderten Urans, das zugleich zeitweise ein Drittel zur Stromerzeugung Frankreichs beigetragen hat und somit den Mythos der 'energieunabhängigen' Stromerzeugung durch Atomkraft in einem neuen Licht erscheinen lässt. Der Areva-Konzern hat in den Produktionsgebieten eine veritable Umwelt- und Gesundheitskatastrophe verursacht. Wohin man schaut, radioaktive und chemische Verschmutzung, radioaktive Abfälle, die in den lokalen Bauwerken recycelt werden, Verseuchung von Luft, Boden und Wasser durch Radon, Grundwassermangel. Die durch Radioaktivität verursachten Erkrankungen der Bergleute und der Bevölkerung werden verschwiegen, Opfer warten bisher vergeblich auf Entschädigung."

"Noch im Mai dieses Jahres ließ sich Orano zusichern, auch über 2028 hinaus die größten afrikanischen Uranminen abschöpfen zu können. Im Gegenzug verpflichtet sich der Pariser Konzern zu lächerlich anmutenden 40 Millionen Euro, die in 'soziale Projekte' fließen sollen", sekundiert Annika Joeres, die Frankreich auf ZeitOnline ebenfalls eine Mitschuld an den Verhältnissen in Niger gibt. Schon bei früheren Geschäften mit Orano, ehemals Areva, vermuteten nigrische Experten, "die damaligen Präsidenten hätten sich im Gegenzug Frankreichs politische Unterstützung gesichert. Ganz offensichtlich profitiert Frankreich noch heute von seinem Ex-Kolonialstaat und dessen Bodenschätzen - das nigrische Volk hingegen kaum: Das Land mit dem existenziellen Brennstoff für die französischen Atomkraftwerke produziert selbst kaum Strom: Nur jeder fünfte Mensch kann eine Glühbirne anschalten oder das Internet nutzen. Nach Daten der Weltbank lebt fast die Hälfte der rund 30 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in extremer Armut, 70 Prozent der Kinder unter 14 Jahren müssen arbeiten, die große Mehrheit kann weder lesen noch schreiben. (…) Diese Deals zulasten der heimischen Bevölkerung sind es auch, die dem gerade abgesetzten Präsidenten zur Last gelegt werden. 'Gerade die jungen Menschen werfen den Politikern des Landes vor, das Land auszurauben und es an Frankreich auszuliefern', sagt die Historikerin und Niger-Expertin Camille Lefebvre."
Archiv: Politik

Geschichte

Osteuropa mit seiner Vielzahl an Kulturen und Religionen, geht langsam unter, meint der Historiker Jacob Mikanowski, der auch ein Buch, "Adieu, Osteuropa", zu dem Thema geschrieben hat, im Interview mit Zeit online. Der eine Teil integriert sich in den Westen, der andere bleibt im Einflussbereich Russlands und kämpft mit den Gespenstern der Vergangenheit. Glorifizieren möchte Mikanowski das alte Osteuropa nicht: Die Kultivierung unterschiedlicher Ethnien, Religionen und Sprachen diente den Herrschern in der Regel dazu, eine gemeinsame Opposition zu verhindern. Man lebte nebeneinander in "gegenseitiger Ignoranz... Die ältere Form der Segmentierung, in der Juden, Christen und Muslime Nachbarn sein konnten, ohne etwas über die Religion und Sprache des anderen zu wissen, verschwand nach 1945 im Zuge der Stalinisierung. Aber es stimmt: Die zwischenstaatliche Diversität blieb in Osteuropa bestehen. Jugoslawien versuchte beispielsweise seine sechs Landesteile so weit wie möglich anzugleichen, schaffte dies es aber nicht. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Slowenien und Mazedonien waren beim Zerfall Jugoslawiens beispielsweise größer als zu seiner Gründung. Der Kommunismus erzeugte in vielen osteuropäischen Ländern gewisse visuelle Ähnlichkeiten, etwa durch Repräsentativbauten, aber die Unterschiede zwischen Deutschland und Rumänien, zwischen der Tschechoslowakei und Bulgarien blieben nichtsdestotrotz riesig."
Archiv: Geschichte