9punkt - Die Debattenrundschau

Digitale Feudalherren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2023. In der FR erzählt der serbische Journalist Marko Vidojkovic, wie sein Land gleichgeschaltet wird.  Die FAZ erinnert an den kurzen Georgien-Krieg vor 15 Jahren: Für Russland hatte er kaum Konsequenzen, die Bundesregierung war dagegen. Die New York Times fragt: Warum wird in Amerika so viel gestorben?  Die Jungle World untersucht das Wilkomirski-Syndrom an Fabian Wolff. Und laut Alexander Görlach in der Welt endet Wandel durch Handel in China.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2023 finden Sie hier

Europa

Der serbische Journalist Marko Vidojkovic erhielt nach Veröffentlichung seines Romans "Trash" mehr als hundert Morddrohungen, inzwischen musste er Serbien verlassen. Die Attacken von Präsident Aleksandar Vucic und Premierministerin Ana Brnabic seien zuletzt unerträglich geworden, erzählt er im FR-Gespräch mit Evelyn Schalk: "In Serbien hat mich meine Regimekritik zum Ziel zahlreicher akkordierter Kampagnen gemacht. Sie wollen an mir ein Exempel statuieren. Das Regime kontrolliert fast alle Medien, sämtliche öffentliche TV-Frequenzen und über 90 Prozent der Tageszeitungen und Magazine. Wenn sie eine Kampagne gegen jemand starten, wird man auf sämtlichen Titelseiten gleichzeitig attackiert, darauf folgen Tausende Angriffe über die sozialen Netzwerke. Dann kommt es auf dein 'Vergehen' an. Wenn man, wie ich, als Verräter gebrandmarkt wird, weil man es wagt, über den Völkermord in Srebrenica zu sprechen oder die Serbisch-Orthodoxe Kirche kritisiert, landen bald darauf Morddrohungen im Postfach oder werden gleich live im nationalen TV ausgesprochen. Ich bin seit 2004 öffentlich tätig, ich habe auch die Regierungen von Vojoslav Koštunica und Boris Tadic scharf kritisiert. Aber ich hatte nie Angst um mein Leben."

Der Rapper Médine, der gern auch mal dschihadistische Parolen ausgibt, wird beim Parteitag der französischen Grünen auftreten. Auch die Linkspartei des Populisten Jean-Luc Mélenchon zeigt sich gern mit dem Rapper. "Ich habe mich oft gefragt, warum sich grüne Linke dem islamistischen Wurm als eine so saftige Frucht anbieten" schreibt Caroline Fourest in Franc Tireur. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Grünen im Gegensatz zu La France insoumise (die aus wahltaktischem Zynismus zu diesen Bündnissen konvertiert ist) Naivität und postkoloniale Reue mit einer Dummheit kultivieren, die sie für jeden Schurken, der behauptet, Opfer von Rassismus zu sein, einnehmbar machen. Was die totalitäre Gefahr betrifft, haben sie schlichtweg keinen Kompass außer ihrer ihrer Gegnerschaft zum Rassemblement National. Ihre Unfähigkeit zu erkennen, dass die extreme Rechte mehrere Gesichter haben kann, in diesem Falle mit Bart, macht sie zu perfekten nützlichen Idioten der islamistischen und der rassistischen extremen Rechten. Diese Einladung ist ein gefundenes Fressen für sie alle."

Vor 15 Jahren eröffnete der georgische Präsident Michail Saakaschwili das Feuer auf die Stadt Zchinwali, nachdem er Russland vorgeworfen hatte, das Gebiet Südossetien durch den Roki-Tunnel besetzen zu wollen. Russland besetzte die Gebiete tatsächlich und Saakaschwili sitzt als Gespenst seiner selbst in Georgien im Gefängnis. In Tbilissi wird am 15. Jahrestag gestritten, berichtet Friedrich Schmidt in der FAZ. Für Russland aber hatten der Angriff und die fortgesetzte Besetzung von 20 Prozent des georgischen Staatsgebiets kaum Konsequenzen: "Alsbald setzte die EU die wegen des Krieges unterbrochenen Verhandlungen über ein Partnerschaftsabkommen mit Russland fort, und die Nato rang sich dazu durch, die ebenfalls wegen des Krieges ausgesetzten Sitzungen des Nato-Russland-Rates schrittweise wieder einzuführen. Von Sanktionen oder einem anderen 'Preis' für Russland war rasch keine Rede mehr, nicht zuletzt auf Bestreben der damaligen Bundesregierung hin."

Außerdem: Die Sparpläne von Innenministerin Nancy Faeser sehen vor, dass Budget der Bundeszentrale für politische Bildung um 20 Millionen Euro, also um mehr als ein Fünftel des bislang bei 96 Millionen liegenden Etats, zu kürzen, berichtet Peter Laudenbach in der SZ.
Archiv: Europa

Medien

Giovanni Di Lorenzo ist ein Mann von heroischer Konsequenz: Die Leser der Printausgabe werden vor der peinlichsten Affäre der Zeit seit Jahren nach wie vor geschützt: Kein Wort über Fabian Wolff schon in der zweiten Ausgabe. Was ahnen die Damen und Herren Leser schon vom Proletariat in der Online-Garage, das die Affäre verursachte!

In der Jungle World sucht Larissa Schober nach einer psychologischen Erklärung für Wolff und allgemeiner das Wilkomirski-Syndrom: Es wird  für sie möglich durch eine Erinnerung an den Holocaust, die vor allem auf Empathie setze. Sie bedeute auch ein "Ausblenden deutscher Täterschaft ": "Wir erinnern uns lieber an erfahrenes Leid als an angetanes - denn Letzteres wirft die Frage nach der Verantwortung und nach Gegenstrategien auf. Die Identifikation mit den Opfern stellt gerade in einer Täter:innengesellschaft wie der deutschen ein Problem dar, da sie sich gut zur moralischen Entlastung eignet. Damit einher geht die Gefahr der Übernahme von Erinnerung: Durch die Identifikation mit Opfern können sich Betrachter:innen die moralische Überlegenheit, die der Opferstatus auch bedeutet, sozusagen leihen, ohne mit dem tatsächlichen Leid konfrontiert zu sein."
Archiv: Medien

Politik

Die Idee, dass sich durch Globalisierung und Freihandel auch Werte transportieren lassen, ist nicht nur durch den Krieg gegen die Ukraine, sondern auch durch Xi Jinpings Überwachungsdiktatur an ihre Grenzen gekommen, notiert der China-Kenner und ehemalige The-European-Herausgeber Alexander Görlach in der Welt. Gerade für Deutschlands Wirtschaft könnte die Abhängigkeit von China weitreichende Folgen haben, fährt er fort: "Dass Europa und besonders die Exportnation Deutschland gut beraten wären, sich so schnell wie möglich auf die neue geopolitische Realität einzustellen, zeigt der Fall Australien. Als Canberra im Frühjahr 2020 von Peking forderte, unabhängige Wissenschaftler die Ursprünge der Corona Pandemie in China erforschen zu lassen, verhängte Xi Jinpings Nomenklatura heftige Wirtschaftssanktionen gegen das Land und erhöhte unter anderem die Zölle auf Wein, Holz, Baumwolle und Fleisch-Exporte. Im Jahr 2021 erweiterte Peking die Sanktionen, nachdem Australien eine besonders enge militärische Allianz mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien geschlossen hatte. In Xis imperialen Träumen hat die chinesische Marine auch die Macht, das ferne Australien zu dominieren." Im Protektionismus sieht Görlach allerdings auch keine Lösung.
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Überwachung

Der Schriftsteller Giuliano da Empoli war unter anderem politischer Berater des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, in diesem Jahr hat er mit "Der Magier im Kreml" einen Roman über die Propaganda in Russland geschrieben, drei Jahre zuvor veröffentlichte er mit "Ingenieure des Chaos" ein Sachbuch über die Social-Media-Strategien der Rechtspopulisten. Im Welt-Gespräch warnt er vor einer neuen Ära der Massenmanipulation durch künstliche Intelligenz: "China ist in dieser Hinsicht derzeit ein wirklich beeindruckendes Beispiel, und zwar viel mehr als Russland. Und es ist auch das beunruhigendste, aufgrund der Art und Weise, wie die neuen Technologien eingesetzt werden, um eine perfekte Diktatur zu erschaffen." Die sozialen Netzwerke erscheinen ihm zudem wie ein "'Failed State', in dem sogar die elementarsten demokratischen Rechte nicht mehr garantiert sind. Ein immer wichtiger werdender Teil unserer öffentlichen Debatte spielt sich innerhalb eines dekadenten Systems ab, das von digitalen Feudalherren beherrscht wird."
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Gesellschaft

Warum wird in Amerika so viel gestorben, fragt der New York Times-Kolumnist David Wallace-Wells in einem Artikel, der vor allem aus einer Kaskade bestürzender Statistiken besteht. Amerika war einmal das Land mit einer der höchsten Lebenserwartungen. Nicht erst seit Corona hat sich diese Vorreiterstellung, verglichen mit ähnlich wohlhabenden Ländern, in eine blamable Dritte-Welt-Position verwandelt. Wallace-Wells bezieht sich auf eine Studie über "Missing Americans", die im Mai publiziert wurde. Beispiel Drogen: "Im Jahr 2020 meldete die Europäische Union insgesamt 5.800 Todesfälle durch Überdosierung bei einer Bevölkerung von etwa 440 Millionen. Im selben Jahr meldeten die Vereinigten Staaten mit einer Bevölkerung von 330 Millionen 68.000. Im Jahr 2021 stieg die Zahl in den USA auf 80.000 und im Jahr 2022 auf 107.000. Nach Angaben des Institute for Health Metrics and Evaluation gibt es in den Vereinigten Staaten 22-mal so viele waffenbedingte Tötungsdelikte wie in den Ländern der Europäischen Union. Zwischen 2019 und 2021 stieg die Gesamtzahl der Todesfälle durch Schusswaffen in den USA - einschließlich Selbstmorden und Unfällen - um 23 Prozent auf 48.830 Todesfälle. Für Europa sind umfassende Daten schwer zu bekommen, aber die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass die Gesamtzahl der Todesfälle durch Schusswaffen in der Europäischen Union jährlich bei etwa 7.000 liegt."

Er ist weiß, sein Vater war Sklave, schreibt der britische Buchautor Konstantin Kisin in der Zeit - Sklave im sowjetischen Gulag, befreit erst durch die Emigration. Sklaverei, so Kisin, war ein universales Phänomen und keine Spezialität des "Westens". Er erinnert an den "Transsahara-Sklavenhandel, bei dem muslimische Händler Afrikaner aus Subsahara-Afrika nach Nordafrika und in den Nahen Osten verkauften": "Laut Orlando Patterson, einem schwarzen jamaikanisch-amerikanischen Soziologen, der unter anderem das Buch 'Slavery and Social Death' verfasst hat, raubten diese Händler mehr Sklaven aus Afrika als die Europäer. Er schreibt auch, dass die Todesrate auf diesem Handelsweg höher war und sie erst 'gegen Ende des 19. Jahrhunderts infolge direkten Druckes durch die europäischen Kolonialmächte' sank. Das sollte uns nicht überraschen. Sklaverei war in Afrika schon jahrhundertelang weit verbreitet, bevor die europäischen Menschenhändler dort landeten." Kisin ist Autor des Buchs "An Immigrant's Love Letter to the West".

Außerdem: Michael Angele feiert in der FAZ den Fußballverein TuS Makkabi Berlin, der als erster jüdischer Verein in der Hauptrunde des DFB-Pokals steht.
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Etwas abstrakt und ehrlich gesagt etwas langweilig streiten Donatella Di Cesare und Omri Boehm in der Zeit über den Begriff der universellen Menschenrechte. Boehm erläutert am Beispiel Israels, wie er Universalismus versteht: "Genau wie die israelische Souveränität neu gedacht werden muss, muss auch das Streben nach palästinensischer Souveränität neu überdacht werden. Der Begriff der Menschenwürde kann uns dabei helfen: Bereits die Idee der Würde des Menschen setzt der nationalen Souveränität Grenzen. Wer sie wirklich ernst nimmt, muss sich auch zu der Vorstellung bekennen, dass die Menschenwürde am Anfang des Gesetzes steht, nicht die staatliche Souveränität." Di Cesare antwortet: "Meine Perspektive ist viel radikaler, Herr Boehm. Ich stelle die Souveränität des Subjekts selbst infrage. Es ist Zeit, dem Selbst endlich die 'arche', den Vorrang, zu entziehen. Vor dem Selbst kommt der Andere, dem es zu antworten gilt. Ich rede von der 'an-archischen Verantwortung'. Die Menschenwürde ist die Würde des Fremden."
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Geschichte

Auf dem Schild der monumentalen "Mutter Heimat"-Statue in Kiew wurde das sowjetische Staatswappen mit Hammer und Sichel entfernt und durch den ukrainischen Dreizack ersetzt, meldet Ulrich M. Schmid, der in der NZZ die Geschichte der sowjetischen "Mutter Heimat"-Statuen erzählt. Zwar stellte die Kategorie Heimat "aus marxistischer Sicht eine bourgeoise Kategorie dar, die von der ausbeutenden Herrscherklasse zur Rechtfertigung ihrer Eroberungskriege eingesetzt wurde", erinnert er, aber: "Stalin mochte sich bei der Mobilisierung der sowjetischen Bevölkerung nicht mehr allein auf die Klassenidentität seiner Bürger verlassen, sondern appellierte an ihre nationalen Gefühle." In der späten Sowjetzeit konnte sich dann der neue russische Patriotismus hinter dem rehabilitierten Heimatbegriff verstecken, fährt Schmid fort. "Heute verkörpern die 'Mutter Heimat'-Statuen ganz unterschiedliche postsowjetische Geschichtspolitiken. In Wolgograd bestaunen herangekarrte Provinzler aus Donezk und Luhansk die imperiale Größe Russlands. In Kiew verwandelt sich die sowjetische Siegesgöttin in eine Nemesis für die Aggressoren, die nicht mehr aus Deutschland, sondern aus Russland kommen."
Archiv: Geschichte