9punkt - Die Debattenrundschau

Es geschah am helllichten Tag

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2024. Norbert Röttgen und Anton Hofreiter  prangern in der FAZ den "katastrophalen Defätismus des Kanzlers" an. Vor zwanzig Jahren begann in Spanien die Ära der Fake News, konstatiert die taz mit Blick auf den Terroranschlag von Madrid am 11. März 2004. Antisemitismus kann gar nicht links sein, dekretiert Wolfgang Benz in der FR - das hat er in Geschichte gelernt.  KI könnte fürs Übersetzen so schlimm sein wie Taschenrechner fürs Kopfrechnen, fürchten FAS und FAZ in mehreren Artikeln. Aber Thomas Rabe von Bertelsmann ist zuversichtlich: "Nehmen Sie das Beispiel Pumuckl."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.03.2024 finden Sie hier

Europa

Oha, wer schreibt denn da über den "katastrophalen Defätismus des Kanzlers"? Wenn der Text nur von Norbert Röttgen wäre, würde man ihn abhaken. Aber er ist von Norbert Röttgen und Anton Hofreiter! Die beiden unterstellen Scholz in der FAZ, als "Friedenskanzler" wiedergewählt werden zu wollen, zur Not über der Leiche der Ukraine. Die beiden kritisieren dann vor allem, dass Scholz seine Entscheidungen stets von Amerika abhängig macht. "Die Botschaft an Putin: Ohne die USA geht es in Deutschland nicht. Dieser katastrophale Defätismus kam auf der letzten USA-Reise des Kanzlers zu einem verbalen Höhepunkt. Er buchstabierte Putin aus, was seines Erachtens passiere, wenn die USA als wichtigster Unterstützer der Ukraine ausfallen: Dann sei die Ukraine verloren. Wie man dem Aggressor solche Botschaften senden kann, wenn schon jetzt die reale Gefahr besteht, dass Trumps Helfershelfer im Kongress keine weitere Ukraine-Hilfe zulassen werden, bleibt Scholz' Geheimnis."

Vor zwanzig Jahren begann in Spanien die Ära der Fake News, schreibt taz-Korrespondent Rainer Wandler, und erinnert an die schrecklichen islamistischen Bombenattentate in Madrid vor genau zwanzig Jahren, die 193 Menschenleben kosteten: "Die Regierung unter José María Aznar erklärte die baskische Separatistenorganisation ETA zum Drahtzieher des Terrors und hielt selbst dann noch daran fest, als längst alle Indizien und Erklärungen aus dem ETA-Umfeld dagegen sprachen. Das ging so weit, dass das staatliche Fernsehen ein Exklusivinterview mit Präsident George W. Bush nicht ausstrahlte, weil der US-Präsident von al-Qaida im Zusammenhang mit den Bomben von Madrid sprach. Aznar und sein enges Umfeld riefen bei den Chefredakteuren der großen Tageszeitungen des Landes an, um auf die ETA als Urheber hinzuweisen." Für die spanische Linke (und Wandler) war aber die spanische Regierung selbst an den Attentaten mit Schuld, weil sie den amerikanischen Krieg im Irak unterstützte. Hier die Presseschau des Perlentaucher vom 12. März 2004: Auch Herfried Münkler tippte auf die ETA!

Was Hans-Christian Rößler in der FAZ zum 11. März 2004 schreibt, erinnert ein bisschen an Deutschland und den NSU: "'11-M hätte vermieden werden können' heißt das neue Buch des spanischen Terrorexperten Fernando Reinares. 'Es war nicht nur ein Versagen der Polizei, sondern des gesamten spanischen Systems zur Terrorismusbekämpfung', sagte der Professor an der Rey-Juan-Carlos-Universität: Verschiedene Polizeieinheiten hätten die wichtigsten Terroristen schon in den Jahren zuvor gekannt und gegen sie ermittelt. Zudem seien weder die Gesetzgebung noch der Geheimdienst für die neue dschihadistische Herausforderung gerüstet gewesen, sagte Reinares der FAZ. Zwischen den Diensten habe Misstrauen geherrscht, es habe an Koordination gemangelt."
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Ideen

Die amerikanischen Politologen William J. Dobson und Christopher Walker erklären in einem ganzseitigen Essay für die "Gegenwart"-Seite der FAZ, was sie unter "scharfer Macht" (sharp power) verstehen, Techniken der Einflussnahme von Autokratien, um Demokratien zu unterminieren. Die Demokratien hätten ihre Stärke - Transparenz und Meinungsfreiheit - bei weitem nicht entschieden genug verteidigt. "Weil die Demokratien die Augen vor den korrupten Praktiken autoritärer Regime verschlossen, Selbstzensur übten oder den diktatorischen Machthabern erlaubten, die Bedingungen der Zusammenarbeit zu diktieren, verloren sie und ihre zentralen Institutionen an Boden. So öffneten sich Universitäten in offenen Gesellschaften viel zu bereitwillig den von staatlicher Seite getragenen Konfuzius-Instituten zur Förderung der chinesischen Kultur und Sprache oder ließen auf andere Weise zu, dass autoritär gelenkte Initiativen die akademische Integrität untergraben konnten."

Antisemitismus kann gar nicht links sein, sondern war immer rechts, "das wissen wir aus der Geschichte, aus dem Geschichtsunterricht", erklärt allen Ernstes der Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz im FR-Interview mit Michael Hesse. "Die Linke ist ideologisch an sich nicht antisemitisch, weder in der religiösen Spielart des Antijudaismus noch in der rassistischen des Antisemitismus. Wenn man generell gegen Juden Stellung bezieht, ist das Antisemitismus. Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die unbedingte, einseitige und völlig unhinterfragte Parteinahme für oder gegen die eine oder die andere Seite das Problem darstellt."

Im Standard-Interview mit Oliver Geyer spricht Alexander Kluge, der vor Kurzem mit Stefan Aust das Buch "Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit" herausgebracht hat, darüber, wie man der drohenden Gefahr durch die AfD besser begegnen solle. "Wenn ich das Erstarken der AfD betrachte, dann muss ich zurückgehen in das Jahr 1929. Da hätte man den Hitler verhindern können. 20.000 Lehrer und Lehrerinnen in der Erwachsenenbildung hätten den Mann (...) das Handwerk legen können. Dann hätten wir 1945 nicht im Keller sitzen müssen. Auch heute können wir uns um das kümmern, was 2032 nicht passieren soll." Konkreter wird er leider nicht.
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Internet

Zwei Artikel aus der FAS zum Thema KI in den Kulturindustrien sind nachzutragen. Ein ganzes Autorenteam berichtet über die Ängste der Übersetzer vor den oft sehr guten, aber manchmal auch nur tückisch-plausibel klingenden Übersetzungen von Deepl und anderen Diensten. Die FAZ-Autoren argumentieren, wie man seinerzeit beim Aufkommen von Taschenrechnern argumentierte - man macht sich Sorgen ums Kopfrechnen: "Es geht bei der Frage von Qualität und Legitimität von KI-Übersetzungen nicht einfach um die beruflichen Perspektiven einer altmodischen Zunft. Sondern um eine grundsätzliche Beziehung zu Sprache und Kultur, die durch ihre Automatisierung verloren zu gehen droht, weil sie ja nur durch intellektuelle Techniken lebendig bleibt. Die Debatte um die Zukunft dieser Praxis wird nicht nur die Übersetzer beschäftigen, die bilden nur die unfreiwillige Avantgarde." Wie trügerisch KI-Übersetzungen sein können, weist die Autorin und Übersetzerin Anja Utler in der heutigen FAZ an Beispielen nach.

Viel zuversichtlicher klingt da der Bertelsmann-Chef Thomas Rabe im Gespräch mit einem Team von den Wirtschaftsseiten der FAS! "KI wandelt Text zu Audio oder umgekehrt, sie übersetzt, sie fasst Texte zusammen und personalisiert Werbung. Nehmen Sie das Beispiel Pumuckl. Für die Neuauflage der Serie haben wir die Stimme des Schauspielers Hans Clarin mit KI imitiert..." Rabe führt dann  aus, dass man sich aber mit der Familie von Clarin abgesprochen habe (wie das finanziell aussieht, fragen die Interviewer nicht). Und dann sagt Rabe genau den Satz, den man von einem Boss der Kulturindustrie erwarten würde: "Im Zentrum steht für Bertelsmann das Urheberrecht. Es geht darum, dass unsere Rechte und unsere Daten nur mit unserer Zustimmung genutzt werden dürfen..." Nein, Bertelsmann ist nicht der Urheber!
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Stichwörter: KI, Künstliche Intelligenz

Kulturpolitik

Die Rechtspopulisten um Jaroslaw Kaczynski wüteten nicht nur im polnischen Staatsfernsehen, sondern bekanntlich auch in den Kulturinstitutionen. Der neue Kulturminister Bartlomiej Sienkiewicz nimmt sie jetzt unter die Lupe, berichtet Gabriele Lesser in der taz: "Alle durchlaufen zurzeit ein intensives Audit: Sind die Ausgaben für Betrieb und Personal gerechtfertigt? Oder handelt es sich um verkappte Partei-Institutionen, in denen ehemalige Politiker auf lukrativen Posten die Oppositionszeit überdauern sollen? Welche Aufgaben haben sich Polens Museen und Institute für die nächsten Jahre vorgenommen? Auf einer ersten Pressekonferenz kündigte Sienkiewicz monatliche Fortschrittsberichte an. Doch er beruhigte auch: "Viele polnische Museen, Institute und Festivals haben den Kulturkampf der PiS in den letzten acht Jahren weitgehend unbeschadet überstanden. Bis auf einige spektakuläre Fälle haben wir bereits überall die Anschlussfinanzierung gesichert."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Polen

Politik

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Der in Großbritannien lehrende Steve Tsang hat erstmals ein Buch über die Ideologie Xi Jinpings herausgebracht. Trotz des Werts, den Xi auf sein "Denken" legt, ist außerhalb der unterwürfigen Literatur in China gar nicht so viel darüber bekannt, sagt er im Gespräch mit taz-Korrespondent Fabian Kretschmer. Zwar diagnostiziert Tsang bei Xi ähnliche Phantomschmerzen in Bezug auf die kommunistische Zeit wie bei Wladimir Putin, aber letztlich ist Xis Ambition bei weitem größer: "China möchte nicht die USA als globalen Hegemon ersetzen. Xi bemüht sich aber, die liberale internationale Ordnung umzugestalten - in eine sinozentrische Weltordnung, in der China die herausragende Weltmacht darstellt. Wenn die USA dies akzeptieren, dann wird Chinas Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich Chinas Vormachtstellung zu beugen, ist das eine andere Sache. Ob China diese Ambition erreichen kann, ist aber ein großes Fragezeichen."

Die Mehrheit der Iraner sind gegen eine Hijab-Pflicht, sagt die  Historikerin Janet Afary im Gespräch mit Till Schmidt von der FAS. Am 8. März 1979 hatten Hunderttausende Frauen und Männer für die Universalität der Frauenrechte demonstriert. "Junge Menschen interessieren sich heute viel mehr für die moderne Geschichte Irans", freut sich Afary, "und knüpfen an die Bewegung von 1979 an. Sie gehen dabei sogar bis zur Konstitutionellen Revolution von 1906 bis 1911 zurück - und damit zur frühen Demokratie in Iran, die dem Land ein Parlament, eine Verfassung und einen ernsthaften Versuch zur Trennung von Religion und Staat brachte. Aktuell gibt es einen beeindruckenden Drang, sich mit der Geschichte der Frauen und mit den fortschrittlichen Traditionen des iranischen Feminismus zu befassen. Auch um daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen."

Die Schriftstellerin Joana Osman, Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter, erläutert in der SZ, warum es sich beim "Krieg der Narrative" nicht um einen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern handelt: "Der Konflikt wird nicht zwischen der israelischen und der palästinensischen Zivilbevölkerung ausgetragen, sondern er wird von Menschen geführt, die Sieg wollen, gegen Menschen, die sich Frieden wünschen. Beide Arten von Menschen gibt es auf beiden Seiten."

Mit großem Misstrauen betrachtet Michael Miersch in seinem Blog die Formelhaftigkeit deutscher Politikersprache in Bezug auf Israel, etwa die Rede von der "Staatsräson". "Eine weitere unter Politikern beliebte Formel ist der Holocaust-Bezug. Hier wird es völlig aberwitzig. Israel muss demnach von Deutschland unterstützt werden, weil die Deutschen Millionen Juden ermordet haben. Quasi als Sühne. Auch dies leuchtet vielen jungen Menschen nicht ein, was ich gut verstehen kann. Ein falsches Argument kann man oftmals entlarven, indem man einmal das Gegenteil formuliert: Hätte die Deutschen nicht Million Juden ermordet, könnte uns Israel egal sein. Ist es nicht vielmehr so, dass Israel jegliche Hilfe verdient, weil es eine Insel der Freiheit und Demokratie in einem Meer totalitärer Militärdiktaturen, Königreiche und Theokratien ist, eine Frontlinie des Westens?"
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Gesellschaft

Auch Patrick von Braunmühl weiß nicht, wer seinen Vater Gerold ermordet hat. Mit Stefan Hunglinger von der taz spricht er über seine Erwartungen an einen Prozess gegen die "dritte Generation" der RAF: "Mein Interesse ist die Aufklärung. Damit meine ich nicht nur, dass ich unbedingt wissen muss, wer meinen Vater erschossen hat, sondern auch die Begleitumstände. Wer war in dieser dritten Generation? Wie hat sie sich entwickelt? Wie hat sie ihre Opfer ausgesucht? Es gibt da viele offene Fragen und die Aufklärung kommt mir insgesamt zu kurz in der Debatte. Teilweise auch bei den Behörden. Dass die Behörden die Fahndungsfotos nicht mit Bildern im Internet abgeglichen haben, finde ich schon erstaunlich. Meine Hoffnung wäre jetzt, dass der bevorstehende Prozess zu mehr Erkenntnissen über die dritte Generation der RAF führt." Scharf kritisiert er auch die Behörden: "Das staatliche Interesse, den Fall heute noch aufzuklären, scheint mir eher begrenzt zu sein."
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Religion

Ziemlich skeptisch registriert Hamed Abdel-Samad in der NZZ die Ramadan-Beleuchtung in manchen deutschen Großstädten. "Andersgläubige mögen sich fragen, ob sie einen Fehler machen, weil sie friedlich sind, keine Ansprüche erheben, keine Weihnachtsmärkte angreifen und sich nicht laut genug über Rassismus beschweren. In Deutschland leben Menschen aus mehr als 150 Nationen. Würde jeder von ihnen die öffentliche, staatlich finanzierte Zurschaustellung seiner religiösen oder nationalen Symbole als Voraussetzung für seine Integration fordern, dann könnte der Staat keine anderen Aufgaben mehr erfüllen, weil er ständig damit beschäftigt wäre, die Seelen der Migranten zu massieren."
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Geschichte

Kerstin Schweighöfer berichtet in der FAZ über die Eröffnung des Holocaust-Museums in Amsterdam (die Gäste mussten sich den Weg durch ein Spalier propalästinensischer Demonstranten bahnen, die sich an der Anwesenheit des israelischen Staatspräsidenten störten): "Anders als viele andere Holocaustmuseen wurde das Amsterdamer Institut bewusst hell und lichtdurchflutet gestaltet. 'Die Farbe des Holocaust ist weiß', sagt (Mitbegründer Emile) Schrijver. 'Es war nicht dunkel, es geschah am helllichten Tag.' Auch in den Niederlanden schauten viele Menschen weg. Ein zweiter Unterschied zu ähnlichen Museen besteht darin, dass sich das Amsterdamer Institut an einem historischen Ort befindet. Es musste nichts inszeniert werden. Die Schouwburg war der Ort, an dem Denunzianten ihr Kopfgeld abholen konnten. Sieben Gulden fünfzig für jeden aufgespürten Juden."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Holocaust-Museum, Amsterdam