9punkt - Die Debattenrundschau

Im Alltag fühlen sie sich schwach

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2024. Putin siegt auf ganzer Linie: Der Westen lässt die Ukraine im Stich - wogegen sich ein Aufruf wendet - und die Wahlen in Russland gewinnt Putin ja sowieso. In der FAZ erklärt Bülent Mumay den neuen türkische Religionsunterricht an Pappmodellen. In der Jüdischen Allgemeinen antwortet Esther Schapira zornig auf einen Spiegel-Artikel, der Israel einen "Vernichtungsfeldzug" vorwirft. Charlie Hebdo schlägt nun auch für Universitäten Schuluniformen vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.03.2024 finden Sie hier

Europa

"Herr Scholz, kommen Sie Ihrer Pflicht nach!", ist der unter anderem von Ralf Fücks unterschriebene offene Brief überschrieben, den die Welt heute bringt und in dem gefordert wird, weitere Waffen in die Ukraine zu liefern. Eine Niederlage der Ukraine erhöhe die Gefahr eines Angriffs Russlands auf Deutschland: "Putins erklärtes Ziel ist die Vorherrschaft über Europa, und er sieht Russland bereits im Krieg mit dem Westen, einschließlich Deutschland. Die Scholzsche Friedenspose läuft daher Gefahr, zum Appeasement zu geraten. Auch wenn dies hauptsächlich darauf abzielt, den sinkenden Umfragewerten seiner Partei entgegenzuwirken, sollten sich die Deutschen klar darüber sein, dass partei-politische Spiele in der Sicherheitspolitik unsere kollektive Abschreckung schwächen. Abschreckung funktioniert über die Fähigkeit zur Verteidigung und den offensichtlichen Willen zu deren Einsatz. Das Versäumnis, Stärke und Bereitschaft zu demonstrieren, hat den gegenteiligen Effekt, weshalb Scholz' 'Friedens'-Ansatz so schädlich ist: Er steigert das Risiko eines größeren Krieges."

"Die Lage auf dem Kriegsschauplatz ist für Kiew mittlerweile so schlecht, dass die Ukraine mit großer Wahrscheinlichkeit künftig in Verhandlungen mindestens ein Fünftel ihres Landes an Moskau verlieren wird und zugleich weder der Nato noch der EU beitreten darf", sekundiert ebenfalls in der Welt Christoph B. Schiltz, der dafür die "Abwarteritis" des Westens verantwortlich macht: "Welchen Sinn hätte dann aber noch der Tod weiterer zehntausend ukrainischer Soldaten, die schlecht ausgerüstet als Kanonenfutter in einen aussichtslosen Krieg ziehen? Das Einfrieren des Ukraine-Kriegs muss daher jetzt tatsächlich erwogen werden - nicht, weil es die beste Lösung wäre. Sondern, weil Scholz & Co. das ukrainische Volk trotz aller Dramatik auch künftig nicht ausreichend unterstützen werden."

Für die Seite 3 der SZ berichtet Silke Bigalke aus Moskau kurz vor den "Wahlen". Während auf Propaganda-Konzerten Patriotismus und Jubel für Putin herrschen, versinkt die russische Bevölkerung vor allem in Ohnmacht, erfährt Bigalke von Lew Gudkow, wissenschaftlicher Leiter des letzten unabhängigen Umfrageinstituts in Russland: "Die meisten Russen betrachten Putin als alternativlos, das ist nicht erst seit Kriegsbeginn so. Der Präsident hat nie einen Konkurrenten neben sich groß werden lassen. Gleichzeitig beobachtet Gudkow 'eine sehr starke Hoffnung, besser gesagt eine Illusion' innerhalb der Bevölkerung, dass Putin sie aus allen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Krisen herausführen werde. Im Alltag fühlten sie sich schwach, der Willkür der Behörden ausgeliefert. Sie sehnten sich nach Sicherheiten, sagt der Meinungsforscher. 'Deshalb richten sie all ihre Komplexe auf die Figur eines Anführers und statten ihn mit Eigenschaften aus, die er gar nicht hat.'"

Bülent Mumay setzt in der FAZ seine Chronik Erdoganscher Übergriffe auf das türkische Leben fort. Im Schuluntericht gewinnt die Religion eine immer größere Bedeutung. An einer Schule haben Schüler neulich mit Hilfe von Pappschafen gelernt, wie man ein Opferlamm köpft. "Weil Erdogan in den letzten sechs, sieben Jahren die religiöse Bildung an staatlichen Schulen stark vorangetrieben hat, ziehen mittlerweile viele Familien Privatschulen vor. Dorthin schicken sie ihre Kinder unter großen finanziellen Anstrengungen, um sie vor den reaktionären Bildungstendenzen zu bewahren. Die Statistik zeigt die Auswirkungen: Inzwischen werden 35 Prozent der Grund- und Mittelschulen und 68 Prozent der Gymnasien in Istanbul privat betrieben. Das Palastregime will diese Tendenz nicht dulden. Letzte Woche verkündete das Bildungsministerium per Dekret, nur noch staatlich abgesegnete Bücher und Bildungsinhalte erhielten eine Genehmigung."
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Kulturpolitik

Die Rückgabe von Raubkunst aus jüdischem Besitz läuft bekanntlich schleppend. Jetzt haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, dass die Beratende Kommission, deren Empfehlungen unverbindlich waren, durch ein Schiedsgericht ersetzt werden soll. Doch auch dieser Prozess ist mit Unwägbarkeiten verbunden, fürchtet Andreas Kilb in der FAZ: Und "das eigentliche Problem künftiger Restitutionsregelungen wird in der Erklärung vom Mittwoch nicht einmal gestreift. Etwa siebzigtausend Kunstobjekte aus ehemals jüdischem Besitz, darunter 1.800 Gemälde, sind in der 'Lost Art'-Datenbank für Deutschland aufgeführt. Der Großteil von ihnen befindet sich in Privatsammlungen oder Museen, die von privaten Stiftungen betrieben und von Bund, Ländern oder Kommunen gefördert werden. Eine Rückgabeforderung würde automatisch die Frage aufwerfen, wer die Besitzer für den Verlust ihrer oft gutgläubig erworbenen Kunstwerke entschädigen soll. Darüber jedoch haben sich Claudia Roth, die Kulturminister und die kommunalen Spitzenverbände offenbar keine Gedanken gemacht."
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Stichwörter: Raubkunst, Roth, Claudia

Gesellschaft

Frederik Eikmanns stellt in der taz zwei Studien zu Antisemitismus an Hochschulen vor - einer von ihnen wurde gestern von  Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ergebnisse sind nicht überraschend, besonders israelbezogener Antisemitismus ist weit verbreitet: "Die Forscher*innen hatten online rund 2.000 Studierende befragt. Rund 8 Prozent stimmen allgemein antisemitischen Aussagen zu, weitere 10 Prozent teilweise. Ähnlich sind die Zustimmungsanteile auch auf israelbezogenen Antisemitismus. Hoch sind die Zustimmungswerte unter muslimischen Studierenden, hier stimmt mehr als ein Drittel antisemitischen Aussagen zu, auch in der Gesamtbevölkerung stimmten ähnliche viele Muslim*innen zu. Wer im Ausland seine Hochschulberechtigung erworben hat, ist zudem im Schnitt öfter antisemitisch (18 Prozent) eingestellt als Personen, die das deutsche Schulsystem durchlaufen haben (7 Prozent). Unabhängig von der Konfession steigt mit zunehmender Religiosität auch die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen."

Laut Charlie Hebdo werden jetzt auch an Pariser Elite-Unis Schuluniformen eingeführt.

Archiv: Gesellschaft

Politik

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Gemeinsam mit der brasilianischen Autorin und Juristin Paula Macedo Weiß hat die Brasilianerin Aurea Pereira Steberl gerade das Buch "Eine brasilianische Lebensgeschichte" veröffentlicht. Im FR-Interview spricht sie über die Frauenfeindlichkeit in Brasilien, die unter Jair Bolsonaro noch zugenommen hat: "Besonders schlecht ist es für schwarze Frauen. Der gesellschaftliche Aufstieg ist für sie nahezu unmöglich. Der Grund ist der strukturelle Rassismus in Brasilien. Sie können nur als Hausfrauen arbeiten oder niedere Tätigkeiten versehen. Die Arbeit, die sie verrichten, wird nicht geschätzt. Sie verdienen daher fast kein Geld. Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht, dass schwarze Frauen überhaupt keinen Zugang zu Bildung haben. Erst seit ein paar Jahren gibt es Quoten, durch die schwarze Frauen an Universitäten kommen. Ohne das könnten sie niemals gesellschaftlich aufsteigen. Die Frauen arbeiten dennoch mehr als in Deutschland. Die brasilianische Gesellschaft ist frauenfeindlicher als in Deutschland, dennoch arbeiten sie dort viel mehr als hier."

Vor fünf Jahren ermordete der Australier Brenton Tarrant 51 Muslime in der neuseeländischen Stadt Christchurch. In der taz befürchtet Dennis Miskić eine Zunahme des Rechtsextremismus. In der FAZ geht Till Fähnders dem Versagen der Behörden nach, die Tarrant in rechtsextremen Foren durchaus vor der Tat hätten aufspüren können. Wie Forscher auf dem Wissenschaftsblog The Conversation berichteten, "hatte Tarrant insbesondere im Jahr vor seiner Tat die Absicht kundgetan, mit einem gewalttätigen Angriff auf eine Schule oder ein Gotteshaus einen 'Rassenkrieg' heraufbeschwören zu wollen. Die Beiträge haben den Forschern zufolge eine besondere Relevanz dadurch, dass Tarrant etwa zur gleichen Zeit mehrere Waffen erworben hatte. 'Tarrant ließ also nicht nur seine Gewaltpläne 'durchsickern', sondern tat dies genau in dem Moment, als er Waffen dafür kaufte', schrieben die Wissenschaftler." Ostern 2019 fand dann als islamistische Antwort auf Christchurch das Attentat auf die christlichen Gemeinden von Sri Lanka mit 253 Toten statt, auf das die Zeitungen dann sicher zu Ostern zurückkommen.

Im Interview Nicola Abé vom Spiegel beschreibt Yuval Noah Harari die Stimmung in Israel nach dem 7. Oktober so: "Sowohl Israelis als auch Palästinenser müssen ihre schlimmsten Albträume, ihre Urangst, noch einmal neu erleben. Das Ergebnis: Jedes verbliebene Vertrauen in die andere Seite ist völlig zerstört. Beide Seiten sind nun voller Hass und Angst. Und sie sind es aus gutem Grund. Das ist ein psychologisches Problem. Der Schmerz ist jetzt so groß, dass die Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind, das kleinste bisschen Empathie für den anderen zu empfinden."
Archiv: Politik

Internet

Dass Tiktok unter anderem als Schleuder extremistischer Inhalte dient, ist inzwischen bekannt (Unsere Resümees). Die USA, wo inzwischen laut Andrian Kreye (SZ) die Hälfte aller Staatsbürger Tiktok nutzen, definiert die chinesische App aber vor allem als "Speerspitze psychologischer Kriegsführung und geheimdienstlicher Tätigkeiten" Chinas - und scheiterte am Versuch die App zu verbieten. Stattdessen soll die App laut einem Gesetzentwurf nun an ein amerikanisches Unternehmen verkauft werden, berichtet Kreye. Und auch deutsche Geheimdienstler warnen "bei Hintergrundgesprächen davor, dass China der viel wirksamere und gefährlichere Gegner im Cyberwar sei als Russland. Das müssen nicht nur Fake News oder Hassbotschaften sein, die über soziale Netze in Umlauf gebracht werden. Die gibt es auch und sie wirken wie Rostfraß auf demokratische Prozesse. Die eigentliche Gefahr sozialer Netze für die Demokratie aber sind die Dynamik und Wirkweise der Algorithmen. Da zumindest waren die amerikanischen Gesetzgeber kundig. Ein zentraler Punkt des Gesetzentwurfs H.R.7521 sieht vor, dass nicht nur die Firma, sondern auch die Algorithmen in amerikanischen Besitz übergehen müssen."

Auch der Perlentaucher hat ihn oft zitiert: Markus Beckedahl verlässt nach zwanzig Jahren das von ihm gegründete Blog Netzpolitik, mit dem er viele Debatten aus diesem Themenbereich in Deutschland mit prägte. Er will Neues ausprobieren, sagt er selbst. Seine Kollegen verabschieden sich von ihm: "Seine Anfänge nahm netzpolitik.org in einer Zeit, als soziale Medien und Online-Journalismus noch in den Kinderschuhen steckten. Die noch junge Blogosphäre blühte auf. Markus startete das Blog netzpolitik.org als Ersatz für eine Mailingliste und teilte Links zum Thema Internet und Politik. netzpolitik.org wurde schnell zu einem wichtigen Knotenpunkt der Blogosphäre in der zivilgesellschaftlichen Debatte um die Gestaltung des Internets." Mehr bei heise.de.
Archiv: Internet
Stichwörter: Tiktok, USA

Ideen

Buch in der Debatte

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In ihrem gerade erschienenen Buch "Die vulnerable Gesellschaft" diagnostizert die Kölner Rechtsprofessorin Frauke Rostalski eine Ethik der Verletzlichkeit, die dazu führe, dass sich Bürger zunehmend hinter dem Staat verstecken. (Unser Resümee) Die zunehmende Vulnerabilität habe auch mit Diskursverrohung zu tun, sagt sie im Welt-Gespräch: "Zum Thema Diskursverrohung habe ich in meinem Buch etwa den Ukraine-Krieg herangezogen. Relativ früh zu Beginn des Kriegs hatten einige Intellektuelle und Prominente vorgetragen, dass man vielleicht darüber nachdenken sollte, keine schweren Waffen zu liefern. Die Reaktion darauf war kein Einstieg in eine sachliche Debatte, vielmehr folgten direkte Angriffe ad personam. Und das mitunter vonseiten der Politik und der Leitmedien." Aber: "Es gibt keine demokratiegefährdenden Diskurse, solange wir uns im Rahmen des Gesetzes bewegen. Ich empfinde es als sehr problematisch, Diskurse, Personen oder Argumente abzuschneiden, weil wir damit in die Herzkammer unserer Demokratie eingreifen. Und das ist der offene Diskurs."
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Medien

Übernimmt der Spiegel das Hamas-Narrativ? Der Kommentar "Verpanzerte Herzen" der Spiegel-Autorin  Julia Amalia Heyer löst erbitterte Reaktionen aus. Heyer wirft Israel vor einen "Vernichtungsfeldzug" gegen Gaza zu führen. Die übliche Szene auf Twitter ist begeistert, Naika Foroutan feiert den Text als "brillant". Wütend antwortet Esther Schapira in der Jüdischen Allgemeinen: "Der eigentliche Skandal ist nicht ein weiterer schlechter Artikel, sondern dass es auch für widerlichsten Anschuldigungen Israels keine Beweise braucht, weil niemand befürchten muss, selbst für eklatante Fehler und Verzerrungen haftbar gemacht zu werden, weil jede Verurteilung auf Beifall zählen kann. Für das Vor-Urteil braucht es kein Wissen. Da reicht das Gefühl, das bestärkt wird durch das 'Gerücht vom Juden', wie der große Philosoph Theodor W. Adorno es so treffend beschrieb."
Archiv: Medien
Stichwörter: Hamas