9punkt - Die Debattenrundschau
Diese Bilder müssen gezeigt werden
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Auch Fania Oz-Salzberger gibt auf Twitter Erläuterungen zu diesem Video. Hier als Screenshot einer jener Antwortposts, gegen die sie sich wehren muss.Trigger alert -
- Bring Them Home Now (@bringhomenow) May 22, 2024
The video of the female observers' abduction, is a wake-up call to the civilized world. We must condemn those actions and we can not abandon the hostages held captive for 229 days.
This video, captured by the body cameras of Hamas terrorists on October 7th,… pic.twitter.com/wuRxpsTBtA
Auf Twitter kursiert auch ein anderes Video, das die Situation vor dem oben gezeigten Video zeigt und das wir nur per Link einbinden. Den Frauen wird in diesem Moment klar, dass sie in der Falle sitzen und die israelische Armee sie nicht retten wird. Einige der Frauen, die hier zu sehen sind, sind in dem oben gezeigten Video bereits tot.
Ob das oben gezeigte Video wirklich an die Öffentlichkeit gehört, ist umstritten. Der französische Philosoph Raphael Enthoven befürwortet es auf Twitter: "Diese Bilder müssen gezeigt werden... Um den Begriff des 'Widerstandes' oder des 'legitimen Aufstands' besser ermessen zu können. Man muss diese Bilder zeigen, weil es Menschen gibt, die sagen, dass der 7. Oktober nicht einmal Terrorismus war."
Bei CNN begündet Ayelet Levy Shachar, Mutter der Geisel Naama Levy, warum sie der Veröffentlichung des Videos zugestimmt hat - unter anderem, weil israelische Regierungsmitglieder es nicht hatten sehen wollen. Die Angehörigen der Geiseln wollen den Druck auf die Regierung weiter erhöhen:
"This cannot be a side story... this video, we agonized over having it published."
- Bianna Golodryga (@biannagolodryga) May 22, 2024
"Is it true that some members of the [Israeli] govt refused to watch?"
"Some of them refused and said we want to sleep ok at night," says Dr. Ayelet Levy Shachar, mother of hostage, Naama Levy. pic.twitter.com/0uEp14XMd3
Antiisraelische Studenten der Humboldt Universität haben gestern das Institut für Sozialwissenschaften besetzt. Ihre Parolen sahen so aus:
Gerade vor dem Hintergrund des heute publizierten Videos von der Entführung der jungen israelischen Soldatinnen sind die Parolen, die heute von Studierenden an die Wände der sozwis. Fakultät der Humboldt Universität während der Besetzung geschmiert wurden, umso verstörender. 1/ pic.twitter.com/bAsjClhaHB
- Anastasia Tikhomirova (@athmrva) May 22, 2024
Die Leitung der Humboldt-Uni erklärt sich laut dpa (hier in der SZ) zum "Dialog" bereit.
Währenddessen sieht sich Israel mit einer Klage des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Und die EU-Länder Irland, Spanien und Norwegen entschließen sich, Palästina als Staat anzuerkennen, ohne dass dieser Anerkennung ein Friedensschluss oder eine Vernichtung der Hamas vorangeht. "Die Anerkennung zäumt das Pferd von hinten auf. Zu viele Fragen bleiben offen", meint Lisa Schneider in der taz. Eine der vielen von den friedensbemühten EU-Staaten offen gelassenen Fragen: "Was soll mit den politischen Kräften in Palästina geschehen, die - im Gegensatz zur PLO - bis heute Israel nicht als Staat anerkennen? Was passiert, wenn diese Kräfte - wie bereits 2006 mit dem Wahlerfolg der Hamas geschehen - das Ruder in Palästina übernehmen? Und: Soll Palästina ein demilitarisierter Staat sein? Oder das Recht auf eigene Streitkräfte haben?" Aber die Hamas hat bereits ihre Freude über die Anerkennung bekundet, berichtet eine Autorenteam in der taz: "Die Anerkennung sei ein wichtiger Schritt 'zur Gründung eines palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt'."
Der Völkerrechtler Stefan Talmon begrüßt die Klage des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu im Gespräch mit Francesco Collini von Spiegel online: "Es gibt erhebliche Anhaltspunkte für die vorgeworfenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich selbst bin der Meinung, dass in diesem Fall das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Aushungerns der Zivilbevölkerung vorliegt. Diese Meinung wird auch von vielen anderen Juristinnen und Juristen geteilt."
Ideen
"Geschichte lehrt uns zu differenzieren und zu kontextualisieren. Vergleichen ist hierbei ein wesentlicher Teil. Aber vergleichen heißt nicht gleichsetzen", meint im Interview mit der SZ der Historiker Frank Trentmann, der grundsätzlich dafür ist, neben den Opfern des Holocaust auch derer des Kolonialismus zu gedenken. Denn jetzt laufe einiges falsch in der viel gerühmten deutschen Erinnerungskultur: "Bei Gedenkstättenbesuchen von Schulklassen mit Kindern mit Migrationshintergrund kommt es häufig zu paternalistischen Konstellationen: Wir Deutschen haben eine erfolgreiche Erinnerungspolitik etabliert. Jetzt erklären wir euch, wie man sich richtig an den Vernichtungskrieg und den Holocaust erinnert. Aber das wird Menschen gesagt, die zum Teil selbst Fluchterfahrungen in der Familie oder Rassismus am eigenen Leib erfahren haben und von denen viele ja nun auch deutsche Staatsbürger sind. Ihnen wird es schwer gemacht, sich dazu zu äußern, weil sofort der Vorwurf kommt: Halt, stopp, stellt euch nicht auf eine Stufe mit den ermordeten Juden. Da muss die Erinnerungspolitik flexibler werden und sich stärker mit aktuellen Krisen, Kriegen und Fluchtbewegungen auseinandersetzen."
Gesellschaft
Im Interview mit der Berliner Zeitung wünscht sich die Berliner Autorin Sineb El Masrar eine gelassenere Diskussionskultur in Deutschland - ein Thema, dem sie sich auch in ihrem neuen Buch "Heult leise, Habibis" widmet: Zu viel Emotion, zu viel Angstmacherei beherrsche oft die Debatten. Beispiel Gazakrieg: "Man kann mit diesen Menschen sprechen, aber wenn jemand in seinen Wahnvorstellungen bleiben will, kann man mit dieser Person nur über ihre persönlichen Probleme reden. Wir müssen diese Menschen nach ihrer Geschichte fragen: Was hat dieser Konflikt mit dir zu tun? Wieso bist du hier? Was treibt dich an? Und letztlich wird man merken, dass es nicht um Gaza geht. Den Menschen im Gazastreifen ist mit solchen Aktionen nicht geholfen. Die Motivation dieser Leute ist eine durch und durch egoistische. Es geht allein um ihr Gefühl, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Und genau damit muss man sie konfrontieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diese Menschen sich endlich mit ihren persönlichen Problemen auseinandersetzen müssen. Die Weltpolitik ist nur ein Mittel zum Zweck und dieses Verhalten ist verantwortungslos."
Auch Eva Menasse ruft heute in der Zeit zu mehr Gelassenheit auf.
Europa
In seiner FAZ-Kolumne erzählt Bülent Mumay, wie Recep Tayyip Erdogan die Meinungsfreiheit in der Türkei immer weiter einschränkt. Nun nimmt er sich ein Vorbild an Russland und Georgien: "Das geplante Gesetz gegen ausländische Einflussnahme, wie Russland es bereits 2012 erlassen und wie es in den letzten Tagen Georgien erschüttert hat, wird die Türkei voraussichtlich in ein offenes Gefängnis verwandeln. Wer in der Türkei 'im Auftrag oder im strategischen Interesse eines ausländischen Staates oder einer ausländischen Organisation zum Schaden der Sicherheit oder der außenpolitischen Interessen des Staates' recherchiert oder forscht, wie es vage heißt, ist mit bis zu sieben Jahren Haft bedroht." Wenn das Gesetz durchkommt, "wäre möglich, dass ich angeklagt werde, weil ich diese Kolumne für die FAZ, 'eine ausländische Organisation', geschrieben und 'gegen die Türkei gerichtete Propaganda' betrieben habe."