9punkt - Die Debattenrundschau

Aber die Stimmung ist hin

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2024. "Einfrieren" ist nicht der richtige Weg, sagt der Historiker Jörn Leonhard, Autor des Buchs "Über Kriege und wie man sie beendet", in der SZ. In Zeit-Online warnt die italienische Philosophin Donatella di Cesare vor einer "Orbanisierung Italiens". Die FAZ schildert einen seltsamen Streit zwischen russischen Faschisten, die glauben, sie seien Antifaschisten. Auf den Seiten der Naumann-Stiftung erzählt die deutsch-israelische Journalistin Sarah Cohen-Fantl, warum sie mit ihrer Familie nach Israel zurückzieht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.04.2024 finden Sie hier

Europa

Buch in der Debatte

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Im vergangenen Jahr hat der Historiker Jörn Leonhard das Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" veröffentlicht. Mit einem "Einfrieren" jedenfalls nicht, sagt er im SZ-Gespräch mit Blick auf die Ukraine: "Putin könnte die Pause nutzen, um weiter aufzurüsten..." Den Europäern macht er Vorwürfe: "Es ist unerträglich, dass die Europäer und eben auch Deutschland der Ukraine - also allen Menschen, die in der Ukraine leben, leiden und sterben - Versprechungen gemacht haben, die nicht eingehalten wurden, etwa bei der Lieferung von Munition. Wenn der Glaube an die verlässliche Hilfe schwindet, dann kann auch die Bereitschaft zur Verteidigung gegen den Aggressor insgesamt zusammenbrechen. Und dann könnte der Krieg tatsächlich schnell zu Ende gehen - mit einem Sieg Russlands. "

Die italienische Philosophin Donatella di Cesare muss sich vor Gericht verantworten, weil sie den italienischen Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida mit einem "Gauleiter" verglichen hatte. Im Zeit-Online-Interview warnt sie vor einer "Orbanisierung Italiens": "Giorgia Meloni will im Grunde in Italien eine dritte Republik gründen - mit starken autokratischen Zügen. Die erste Republik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vom antifaschistischen Grundsatz getragen, auf den sich fast alle in Italien einigen konnten. Die zweite Republik begann mit dem Berlusconismus 1994 und neuen populistischen Elementen. Meloni will den antifaschistischen Grundsatz nun endgültig überwinden. Sie stellt für mich eine Kehre dar. Zurzeit ist etwa eine konstitutionelle Reform in Planung: Es gibt den Vorschlag, den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, was eine Schwächung des Parlaments bedeuten würde. Dazu insistiert Meloni dauernd auf der ethnischen Reinheit des Volkes, die auf gar keinen Fall kontaminiert werden dürfe. In ihrer Version von Italien gibt es eine unmittelbare Beziehung zwischen der Regierungschefin und dem Volk. Wozu die Presse? Wozu die Journalisten? Wozu die Intellektuellen? Ich und das Volk, das ist das Modell."

Die aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza offenbaren eine Spaltung innerhalb Europas Rechter, konstatieren die Politikwissenschaftler Oliviero Angeli und Jakub Wondreys in der Welt: "Die Trennlinie zwischen Rechtsextrem und Rechtsaußen lässt sich ideologisch vor allem unter zwei Gesichtspunkten erklären: Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Rechtsextreme Parteien machen in der Regel kein Hehl aus ihren antisemitischen Neigungen. Weitaus salonfähiger als der Antisemitismus, von dem sie sich zumindest vordergründig emanzipiert haben, ist für Rechtsaußenparteien hingegen Islamfeindlichkeit. So nutzten einige dieser Parteien - wie in der Vergangenheit die postfaschistische Alleanza Nazionale in Italien - ihre Hinwendung zu Israel demonstrativ als Zeichen internationaler Verlässlichkeit. Auch deshalb stehen Parteien wie die Alternative für Deutschland und VOX in Spanien fest an der Seite Israels und deuten den Konflikt in Gaza vor allem als Krieg gegen Islamismus."

Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne die Bredouillen Erdogans: Bei den Kommunalwahlen hatte er jüngst auch verloren, weil ihm die Islamisten Israel-Nähe vorwarfen. Darum empfing er jüngst den Hamas-Führer Ismail Haniyya. Aber nun dies: "US-Präsident Biden empfing Erdogan in den viereinhalb Jahren seit seinem Amtsantritt aller Erwartungen Ankaras zum Trotz bisher nicht im Weißen Haus. Nachdem Ankara seine Blockadehaltung in der Nato aufgegeben hatte, war es ihm in Folge der Wiederannäherung gelungen, einen Termin für den 9. Mai im Weißen Haus zu bekommen. Die um einige Punkte in der Wählergunst willen veröffentlichten Bilder der Freundschaft mit Haniyya aber gefährdeten diesen Termin nun."

Dass sich Frank Walter Steinmeier bei seinem Türkei-Besuch mit Orhan Pamuk, Menschenrechtlern und dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu traf, war eine wichtige Geste, dass er hingegen die demokratisch gewählten Vertreter der Kurden ignorierte, "ist nicht allein mit Blick auf die türkische Innenpolitik ein schweres Versäumnis", ärgert sich Deniz Yücel in der Welt: "Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Krieg im Gazastreifen herrscht in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft eine aggressive antiisraelische Stimmung, wovon auch Steinmeier einen Eindruck bekam. Fast überall, wo er in den vergangenen Tagen auftauchte, kam es zu propalästinensischen Protesten. Nicht aber von den Kurden. Sie haben den islamistischen Terror in Gestalt des 'Islamischen Staates' am eigenen Leib erlebt, den IS unter hohem Blutzoll niedergerungen, um hernach vom Westen wieder einmal verraten zu werden. Womöglich traf Steinmeier aus diplomatischer Rücksichtnahme keine Vertreter der Kurden. Ein Treffen wäre ein Zeichen gewesen, sie zu übergehen ist es ebenfalls."

FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt schildert seltsame Verwerfungen im russischen Geistesleben. Der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, kurz RGGU, deren Präsident heute der rechtsextreme Eurasianist Alexander Dugin ist, soll eine "Politische Hochschule Iwan Iljin" angegliedert werden, benannt nach dem nationalistischen Exilphilosophen und Sympathisanten der Nazis. Dummerweise ist Iljin auch ein Lieblingsphilosoph Wladimir Putins, der Iljins Gebeine 2005 exhumieren ließ und nach Moskau zurückbrachte. Gegen die Benennung der Hochschule nach diesem "Faschisten" begehren nun die Kommunisten in der Duma auf - und bemühen dabei genau jene "antifaschistische" Rhetorik, die Putin gegenüber der Ukraine entwickelt hat: "'Unser Land kämpft heute auf allen Fronten mit der Erscheinung des Faschismus und Nationalismus', schrieb der Abgeordnete Wladimir Issakow in einem Gesuch an die Generalstaatsanwaltschaft, die Ansichten Iljins als 'Rehabilitierung des Nazismus' zu prüfen. Es gebe, so Issakow, 'keinen ukrainischen oder deutschen Faschismus, das ist alles eins', daher könne man Iljin nicht 'reinwaschen'."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Auf den Seiten der Friedrich-Naumann-Stiftung erzählt die deutsch-israelische Journalistin Sarah Cohen-Fantl, warum sie mit ihrer Familie nach Israel zurückzieht. Sicher, in Israel ist im Moment Krieg. Aber ist Deutschland sicher? "Zur ganzen Wahrheit gehört, dass ich auch in Berlin Angst habe... Im Grunde ist dieser Judenhass natürlich nichts Neues. Schon bei unserem Umzug vor zwei Jahren, war ich skeptisch, wie sicher es gerade für meinen Mann, der kein Deutsch spricht, in Berlin sein würde. Doch der Hamas-Überfall am 7.Oktober und seine Folgen, die von Hetzpropaganda und Lügen bis hin zu antizionistischen Parolen und einem extremen Anstieg in antisemitischen Übergriffen reichen, haben es uns unmöglich gemacht, hier weiterhin eine Zukunft zu sehen und aufbauen zu wollen."

In der Welt überlegt der Rechtsprofessor Kai Möller durchaus abwägend, weshalb dem Bundesverfassungsgericht zu raten wäre, der von einer Expertenkommission vorgeschlagenen Liberalisierung des Abtreibungsrechts (Unsere Resümees) zu folgen. Zwar sei es aus moralischer Sicht "gut vertretbar, gegen Abtreibung zu sein. Aber als verfassungsrechtliche Vorgabe ist diese Haltung verfehlt, denn sie erklärt die politischen Überzeugungen aller derjenigen, die aus guten, rechtfertigbaren Gründen für die Legalisierung der Abtreibung eintreten, für illegitim. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben in ihren Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch ihre eigenen moralischen Präferenzen dem ganzen Land aufgezwungen. Dadurch haben sie über Jahrzehnte hinweg die vielen Millionen Deutschen und ihre Repräsentanten im Bundestag, die aus vernünftigen, rechtfertigbaren Gründen eine andere Meinung hatten, um ihr demokratisches Recht gebracht, mit ihrer Mehrheit ein liberales Abtreibungsrecht zu verabschieden."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Der iranische Rapper Toomaj Salehi galt durch seine Songs und seine Präsenz auf Demonstrationen als eines der Symbole der "Frauen Leben Freiheit"-Bewegung. Das iranische Regime hat ihn jetzt zum Tod verurteilt, nachdem er schwer gefoltert worden war, berichtet Daniela Sepheri in der taz. Das Regime ließ auch ein Video mit einem erzwungenen Geständnis zirkulieren - oder versuchte es zumindest: "Das Video wurde aufwendig zusammengeschnitten, mit Bildern aus seinem letzten Musikvideo. Das Regime wollte die Protestbewegung dadurch demoralisieren. Doch Salehis Fans waren sich schnell einig: Dieser Folterbeweis sollte nicht verbreitet werden. Kaum jemand teilte das Material, sodass das Video bis heute schwer zu finden ist. Seine Anhänger*innen unterstützen ihn auch in schwierigsten Zeiten. Für sie ist er nach wie vor ein Held, ein Symbol der Protestbewegung."

Richard Herzinger erklärt in seiner jüngsten Perlentaucher-Kolumne, was unter "Lawfare" zu verstehen ist: Kriegsführung mit juristischen Mitteln, Staaten des "Globalen Südens" überziehen Demokratien mit Prozessen vor internationalen Gerichten, um sie zu diskreditieren: "So brachte jüngst Nicaragua die Dreistigkeit auf, Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen, weil sich dieses mit seiner Unterstützung für Israel der Beihilfe zum 'Völkermord' in Gaza schuldig mache. Nicaragua wird nicht nur von einem kleptokratischen Diktator, dem ehemaligen sandinistischen Revolutionsführer Daniel Ortega, beherrscht, der Oppositionelle und Abweichler brutal verfolgen lässt. Es gehört auch zu den wenigen Staaten, die in den UN gegen die Verurteilung des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine gestimmt haben."

Laut dem "Armed Conflict Location & Event Data Project" (ACLED) nimmt die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Gewaltkonflikten seit 2007 stetig zu, schreibt Judith Vorrath von der Stiftung Wissenschaft und Politik in der SZ und erklärt: "Die Bindewirkung des humanitären Völkerrechts scheint zu schwinden. Viele innerstaatliche Konflikte sind internationalisiert. Das heißt: Mindestens ein Drittstaat unterstützt eine Konfliktpartei. Zählt man die Konflikte, in denen dies direkt durch die Bereitstellung von Kampftruppen geschah, starben seit 2015 mehr Menschen in solchen bewaffneten Konflikten als in nicht-internationalisierten, darunter prominente Fälle wie Syrien oder Jemen, aber auch die Demokratische Republik Kongo. In einigen Fällen kann man von Stellvertreterkriegen sprechen; eine Rückkehr zur Logik des Kalten Krieges ist dies aber nicht. Vielmehr ringt neben Großmächten eine wachsende Zahl von mittleren Mächten um Einflusssphären, besonders in Afrika und dem Nahen Osten. Westliche Staaten haben nicht nur an Einfluss eingebüßt."
Archiv: Politik
Stichwörter: Salehi, Toomaj

Kulturpolitik

Gestern Abend stellte Claudia Roth ihr umstrittenes Konzept für eine neue Erinnungskultur vor - als Ort hat sie das Haus der Kulturen der Welt gewählt. Leider wurde die Veranstaltung nicht so harmonisch, wie sich das Roth erhofft hatte, berichtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Kaum steht die Kulturstaatsministerin Claudia Roth auf der Bühne, geht es los: Sieben oder acht Personen mit Palästinensertüchern stürmen auf die Bühne, entrollen eine Palästinafahne und rufen 'Viva, viva Palästina' und 'Genozid'... Dann ist erstmal Ruhe, aber die Stimmung ist hin. Keine offenen Herzen, sondern Anspannung."

In der SZ gibt Jörg Häntzschel einen Überblick über die Zerstörung von Kulturstätten in Gaza: "Der schwerste Verlust in Gaza-Stadt ist wohl die Omar-Moschee, die am 7. Dezember getroffen wurde, das älteste und bedeutendste Bauwerk im Gazastreifen. Einst stand ein Tempel dort, dann eine byzantinische Kathedrale, im 7. Jahrhundert wurde die Moschee errichtet. Beschädigt wurde sie oft, von Mongolen, Kreuzfahrern und den Briten im Ersten Weltkrieg, immer wurde sie wieder aufgebaut. Nun ragt nur noch das Minarett aus dem Schuttberg. Forscher fürchten, dass auch die Bibliothek verloren ist, die eine bedeutende Sammlung islamischer Manuskripte enthielt. Weitere wichtige Gebäude in der Umgebung sind ebenfalls zerstört, wie Fotos belegen. So der Hammam al-Samra, das einzige von einstmals fünf öffentlichen Bädern in Gaza und mehr als tausend Jahre alt."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Am Freitag wird zum 60. Mal der Grimme-Preis vergeben, der Grimme Online Award, mit dem im Jahr 2003 auch der Perlentaucher ausgezeichnet wurde, fällt hingegen aus Kostengründen weg, berichtet Harald Hordych in der SZ. Beim Institut in Marl erfuhr man dies allerdings erst vor zwei Tagen. "Zur Erinnerung: Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2023 war das Institut in eine schwere finanzielle Krise geraten. Drei Millionen Euro beträgt der reguläre Etat. 323.000 Euro mehr hatte das Institut ausgegeben. Das Minus zog einen monatelangen Nervenkrieg nach sich, in dem es darum ging, ob die finanziellen Probleme nur durch einen massiven Personalabbau und rigides Sparen an den Leistungen künftig behoben werden können."
Archiv: Medien