Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 6. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer, Anja Seeliger
10.02.2004. In seinem Wettbewerbsfilm "Samaritan Girl" lässt Kim Ki-duk ein Kinderspiel in einer möderischen Katastrophe enden. Eine schöne Milchkuh ist der Star in Manuel Gutierrez Aragons "La vida que te espera" (Wettbewerb). Daniel Burman erzählt in seinem Wettbewerbsbeitrag "El abrazo partido" die halbe Weltgeschichte in einer argentinischen Ladenpassage. Sudhir Mishras "A Thousand Dreams Such as These" ist ein Ereignis der unspektakulären Art - ein um Realismus bemühter Bollywoodfilm.
Erlösung für die verlorenen Seelen: Kim Ki-duks Wettbewerbsfilm "Samaritan Girl"

Ein Kinderspiel. Zwei Freundinnen, Jae-Young und Yeo-Jin, vielleicht sechzehn, beste Freundinnen oder vielleicht mehr. Sie planen eine Reise nach Europa, sie brauchen Geld, Jae-Young prostituiert sich, Yeo-Jin managt das ganze, Männer, die junge Mädchen suchen, gibt es genug. Von der Schule ins Hotel, im Hotel ins Bett mit den Männern und stets hat Jae-Young ein Lächeln auf den Lippen, während Yeo-Jin unten Schmiere steht. Ihr ist nicht wohl bei der Sache, sie ist eifersüchtig, Jae-Young Sympathie für ihre Freier ist ihr unheimlich. Dann geht es schief. Yeo-Jin übersieht die Polizei, Jae-Young springt aus dem Fenster und kurz darauf ist sie tot. Ende des ersten Teils und der zweite beginnt damit, dass Yeo-Jin in einem verzweifelten Akt der Wiederholung, die das Geschehene rückgängig machen soll, die Männer aufsucht, mit denen Jae-Young geschlafen hat. Sie schläft mit ihnen, sie gibt ihnen das Geld zurück. Ein Lächeln auf den Lippen. Ein Kinderspiel.

Mit einem Blick auf eine blutige Leiche wechselt die Perspektive. Blut wird zum Leitmotiv des nun Folgenden. Den Blick wirft der Vater, der Polizist ist. Zufällig fällt dieser Blick, derselbe Blick in gewisser Weise, aus dem Fenster, in ein Hotelzimmer, er sieht seine Tochter in den Armen eines Freiers. Er wird nicht mit seiner Tochter darüber sprechen, bis zum Ende nicht. Stattdessen wacht er über sie, ganz wie er ihr jeden Morgen, um sie zu wecken, die Kopfhörer aufsetzt und sanfte Musik anstellt. Er ist ein liebevoller Vater, der zum Rächer wird, der handeln muss, weil er keine Worte hat, der sich verletzt, um seine Tochter zu retten. Deutlich die religiösen Konnotationen, auf der Fahrt zur Schule erzählt der Vater Wundergeschichten. Eine Gruppe Kinder, die sich im Wald verlief, sie sahen Maria und fielen in den Schlaf. Im Schlaf aber hatten sie eine schreckliche Vision vom Ende der Welt.

Auch Yeo-Jin wird einen schrecklichen Traum haben, am Ende. Vater und Tochter fahren zum Grab der Mutter, sie sprechen kaum ein Wort, vor allem nicht über das, was geschehen ist. Eine Pilgerfahrt, eine Bußfahrt. Kim Ki-duk erzählt das nüchtern, in Naturbildern, rückt seinen Figuren nicht zu nahe und unternimmt nichts, die Traumatisierungen seiner Figuren ins Pathos der Überwältigung zu übersetzen. Er urteilt nicht, nicht über die Tochter, nicht über den Vater, die sich in einen moralisch nicht mehr aufzulösenden Konflikt aus Verzweiflung, Schuld und Wiedergutmachung verstricken. Aber er kennt Gnade und Erlösung für seine verlorenen Seelen.

Noch einmal ein Perspektivwechsel kurz vor dem Ende, im Moment, in dem die schlimmste Wendung ausbleibt. Eine Totale aus weiter Entfernung, Yeo-Jin am Ufer eines Flusses, kaum noch erkennbar. Schnitt: Ein Blick aus noch weiterer Ferne. Wer hier blickt, ist ein christlicher Gott, sein Blick ist ein barmherziger. Und siehe: Es war gut.

Ekkehard Knörer

"Samaritan Girl". Regie: Kim Ki-duk. Mit Uhl Lee, Ji-min Kwak, Min-jung Seo u.a., Korea 2004, 95 Minuten (Wettbewerb)



Spanier lieben anders: Manuel Gutierrez Aragons Wettbewerbsfilm "La vida que te espera"

In den Bergen Kantabriens, im Tal Valle del Pas, lebt der knurrige Bauer Gildo mit seinen beiden hübschen Töchtern Val und Genia. Die jüngste geht noch zur Schule, die ältere hilft dem Vater mit dem Vieh, die Mutter ist tot. Hat sich totgearbeitet. Der Star in der Familie ist die schwarzweiß gefleckte Vanessa, eine noch kapriziösere Kuh als Diane Keaton.

Man kennt die Geschichte: mürrische Bauern, die ihre Töchter knechten, der falsche Liebhaber, Drama. Dazwischen geschnitten Panoramabilder einer wunderschönen Landschaft. All dies ist "La vida que te espera", der spanische Wettbewerbsbeitrag von Manuel Gutierrez Aragon, auch. Und doch hält einen dieser Film bei der Stange. Sein Personal ist so fremd. Die ältere Tochter mag unter der Fuchtel ihres Vaters stehen. Doch als sie einen Mann findet, der ihr gefällt, zieht sie ihn so schnell ins Stroh, dass ein amerikanischer Student sie wegen sexueller Nötigung verklagen würde. Der Liebhaber ist jedoch Spanier, ein glatzköpfiger Frisör, also gefällt es ihm. Er möchte nur eins gern noch wissen: wer hat seinen Vater ermordet, einen alten Miesepeter, der jedes Jahr mit Gildo bei einem Wettbewerb um die milchreichste Kuh konkurrierte.

Die beiden Töchter sind überzeugt, dass es ihr Vater war. Und sie werden als nächste dran glauben müssen. Der Zuschauer ist verblüfft. Auch wenn Gildo etwas muffelig ist - wie ein Mörder kommt er einem eigentlich nicht vor. Es folgt ein Verwirrspiel zwischen den Personen, die sich alle gegenseitig verdächtigen. Am Ende geht der falsche Mann für das Verbrechen ins Gefängnis. Das schlechte Gewissen der anderen löst sich sehr schnell in Lachen auf: Liebe, Geld und wenig Arbeit - kurz: eine glänzende Zukunft wartet auf sie.

Das schönste an diesem Film ist, dass man eigentlich nie weiß - auch am Schluss nicht - ob man eine Tragödie oder eine Komödie sieht.

Anja Seeliger

"La vida que te espera". Regie: Manuel Gutierrez Aragon. Mit Juan Diego, Luis Tosar, Marta Etura u.a., Spanien 2003, 108 Minuten (Wettbewerb)



Daniel Burman erzählt in "El abrazo partido" die halbe Weltgeschichte in einer argentinischen Ladenpassage (Wettbewerb)

Ein netter Film, mit dem der argentinische Filmemacher Daniel Burmann da in den Wettbewerb gekommen ist. "El Abrazo Partido" führt in die gemütliche, leicht schäbig gewordene Welt einer Geschäftspassage in Buenos Aires. Hier sind die Makaroffs, die Levins und die Saliganis nach den langen Odysseen ihres stürmischen Lebens gelandet, selbst für die Kims mit ihrem Feng-Shui-Laden ist hier Platz, obwohl die Koreaner eigentlich eine eigene Passage nebenan haben. Schön gemütlich also - weswegen die Jungen vor allem eins wollen: Nichts wie raus! Den Sprung schafft nur der Rabbi, er kann nach Miami. Die anderen müssen träumen: von der üppigen Blondine im neuen Internetladen, von kanadischem Honig oder von Europa.

So auch Ariel (Daniel Hendler), der endlich flügge werden will. Bisher war er ein lieber Junge und verkaufte mit seiner Mutter Damenunterwäsche. Jetzt heißt es: "Ich muss Pole werden, dringend!" Er hat schließlich eine polnische Großmutter, die er nun sogar besucht, wo er an ihren Pass ran will. Denn mit etwas Glück könnte der Weg über das polnische Konsulat nach Europa führen. Ariels Mutter hätte allerdings lieber, dass er zu seinem Vater nach Israel geht. Der hatte Argentinien verlassen, um für Israel im Yom-Kippur-Krieg zu kämpfen. So hieß es jedenfalls über zwanzig Jahre lang, bis sich zeigt, dass es vor allem eheliche Kämpfe waren, die da zwischen Israel und Argentinien ausgefochten wurden.

Unnötig zu sagen, dass die hochfliegenden Pläne misslingen - der kanadische Honig und die Internet-Blondine sind komplette Fehlinvestitionen. Aber immerhin: Freund Mitelman bekommt statt eines litauischen Passes eine litauische Schönheit, Bruder Joseph eine europäische Bienenkönigin, und Ariel fliegt statt nach Europa freudig Arme seines Vaters.

All diese kleinen Dramen um verpatzte Geschäfte, untreue Geliebte und verlorene Väter erzählt Burmann mit Tempo und Witz, die Kamera wirbelt einen mehrmals durch die Passage wie durch die halbe Weltgeschichte. Am Ende freut man sich, dass sie wieder hergestellt ist, die kleine, etwas schäbige, aber heile Welt. Aber man hätte es auch ganz gut verkraften verkönnen, wenn einem der eine oder andere Witz mal im Halse stecken geblieben wäre.

Thekla Dannenberg

"El abrazo partido". Regie: Daniel Burman. Mit Daniel Hendler, Adriana Aizenberg u.a., Argentinien/Frankreich 2004, 100 Minuten (Wettbewerb)



Ein Ereignis der unspektakulären Art: Sudhir Mishras Film "A Thousand Dreams Such as These" (Forum)

Der Plot zu "A Thousand Dreams Such as These" ist für gewöhnlich eher der Stoff, aus dem man Fernsehserien macht, und nicht die schlechtesten. Über ein Jahrzehnt hinweg verfolgt der Film das Schicksal seiner drei Hauptfiguren, flankiert sie mit den Horizont erweiterndem Nebenpersonal und verquickt das ganze in durchaus überzeugender Manier mit der politischen Situation der Zeit, zu der es spielt. Das erste Bild, 1969, zeigt einen maoistischen Aufmarsch in Delhi, politisierte Studenten im Aufruhr. Man sieht und hört die Diskussionen, die man aus dem Westen kennt. Wieviel Gewalt gegen ein faschistoides Regime darf erlaubt sein? Soll man weiter studieren, soll man in die Provinz gehen, wo die Unterdrückung am schlimmsten ist?

Verhandelt, ausgetragen, narrativiert werden diese Fragen im Dreieck zwischen Vikram, Siddhart und Geeta. Vikram, der Geeta liebt, die Siddhart liebt. Eine Frau zwischen zwei Männern, die beinahe Freunde sind - oder: über der geteilten Liebe Freunde werden. Es ist die Art von Dreieck, die nicht nur Bollywood sehr liebt, weil sich darin im Erfüllung suchenden, fehl gehenden, abgewehrten oder beinah zugelassenen Begehren die Emotionen der Figuren wie der Zuschauer auf die angestrebte Siedetemperatur hochkochen lassen. Bollywood-typisch ist dabei vor allem der Entwurf der Konkurrenz der Männer als Freundschaft - und der Entwurf von Freundschaft als etwas der Liebe beinahe Ebenbürtigem. Allerdings ist "A Thousand Dreams Such as These" kein Bollywood-Film. Er ist um Realismus bemüht, näher an der englische Geschichte aufarbeitenden BBC-Serie "Our Friends in the North" als an, nur zum Beispiel, Raj Kapoors Bollywood-Dreiecks-Klassiker "Sangam". Kein Song & Dance, nirgends.

Politik, historische Streckung ins Fernsehserienformat, Bollywood-Struktur ohne Bollywood-Form, das alles in einem Film, der nicht mehr als gut zwei Stunden dauert: Zuviel des Guten? Vielleicht. Zwischendurch jedenfalls verliert der Film den Faden, wechselt ein paarmal zu oft und zu hektisch zwischen den Geschehnissen in Neu Delhi und der Provinz Bihar hin und her, verstrickt seine Hauptfiguren in die eine oder andere überflüssige Wendung, verliert ein paar Momente lang seinen Sinn für die rechte Proportion zwischen Historie und Privatschicksal. Er geht weder in die eine noch in die andere Richtung in die Tiefe, ist und bleibt (und will gar nichts anderes sein als) ein Kompromiss zwischen Melodram und Geschichtsaufarbeitung. Verluste sind zu beklagen, gewiss.

Im ganzen aber ist der mit viel französischer Unterstützung entstandene Film fraglos ein Gewinn. Fürs indische Kino vor allem, das für dergleichen bisher kaum Platz hatte. Zwischen dem unverschämten Kommerz Bollywoods, der allerdings auch manch rauere Variante kennt, und dem auf dem indischen Markt ganz chancenlosen Kunstkino - dem sogenannten Parallel Cinema - war jahrzehntelang kaum ein Freiraum auszumachen für Produktionen wie diese. Filme also, die nicht das Überlebensgroße suchen und nicht den Anspruch großer Kunst, sondern die Qualitäten einer guten Fernsehserie. Sorgfalt in der Charakterzeichnung, politisches Bewusstsein, realistisches Spiel: all das bietet "A Thousand Dreams Such as These". Wer ihn mit westlichen Augen sieht, wird über dem Vertrauten dieser Kombination das Außergewöhnliche kaum bemerken, das er im indischen Kontext darstellt. Ein Ereignis der unspektakulären Art also, aber dennoch: ein Ereignis.

Ekkehard Knörer

"Hazaaron khwaishein aisi - A Thousand Dreams Such as These". Regie: Sudhir Mishra. Mit Kay Kay Menon, Chitrangda Singh, Roshan 'Shiney' Ahuja, Saurabh Shukla u.a., Indien / Frankreich 2004, 135 Minuten (Forum)



Mario van Peebles zeigt in "Gettin the Man's Foot Outta Your Baadassss", wie sein Vater den ersten Blaxploitation-Film drehte (Panorama)

Melvin van Peebles' "Sweet Sweetback Bad Baadasssss Song" war 1971 nicht weniger als eine Revolution. Ein Film von einem schwarzen Regisseur mit einem schwarzen Hauptdarsteller (dem Regisseur), in dem Weiße die Hucke voll bekommen, ohne dass die Schwarzen dafür büßen müssen. Eine wilde Mischung aus Sex, Crime und Black Power. Keiner aus dem Establishment - mit der rühmlichen Ausnahme Bill Cosbys - wollte sich damit die Finger schmutzig machen, entsprechend heroisch die Leistung von Melvin van Peebles, der für seinen Film durch die Hölle gegangen ist; jetzt ist er übrigens in der "New Hollywood"-Retrospektive der Berlinale zu sehen. (Ein Interview mit Melvin van Peebles finden Sie hier.)

Dass der Film mit Hollywood wenig zu tun hat, alt hin, neu her, zeigt die Rekonstruktion der Entstehungsumstände des Films, die kein anderer als Melvin van Peebles' Sohn Mario in "Gettin' the Man's Foot Outta Your Baadassss" unternommen hat. Und nicht nur weil der Sohn darin den Vater darstellt, ist das ganze ein seltsamer Genre-Bastard. Ein Spielfilm, der sich immer wieder den Anschein einer Dokumentation gibt, etwa wenn die Beteiligten aus ihren Rollen treten und das Geschehen kommentieren. Jedoch sind nicht etwa die wirklichen Beteiligten von einst zu sehen, sondern die Darsteller des Spielfilms, die noch die Rolle der Doku-Talking-Heads selbst spielen. Erst ganz am Ende treten die tatsächlichen Beteiligten von einst an ihre Stelle (und ganz zum Schluss, ohne dass er etwas sagt, Melvin van Peebles).

Mario van Peebles, selbst ein halbwegs erfolgreicher Hollywood-Regisseur (u.a. "New Jack City"), hat eine Hommage an seinen Vater gedreht. Liebevoll ist der Versuch, die Umstände zu Beginn der siebziger Jahre heraufzubeschwören, keine Kuriosität und Anekdote, die Melvin van Peebles in seinen Erinnerungen berichtet, wird ausgelassen, von abwinkenden und lüsternen Hollywoodproduzenten über das Segeln unter falscher Flagge als Pornoproduktion bis hin zum letzten Hemd, das der Regisseur verwettet, um die Weltpremiere zu retten. Und doch: Etwas stimmt nicht mit diesem Film. Er bleibt leblos, zu clean, nichts vermittelt sich von der Stimmung der Zeit. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er genau jene Form von routinierter Professionalität besitzt, die unter den damaligen Umständen unmöglich bleiben musste. So stimmt, wenn es denn stimmt, jedes Detail und doch hat das Ganze einen falschen Tonfall. Das ist schade, wenn auch kein großer Schaden: Zweimal ist schließlich noch Gelegenheit, das Original zu sehen, mit dem Titel, dessentwegen keine Zeitung eine Werbung drucken wollte: "Sweet Sweetback Bad Baadasssss Song".

Ekkehard Knörer

"Gettin' The Man's Foot Outta Your Baadassss!" Regie: Mario Van Peebles. Mit Mario Van Peebles, Joy Bryant, Nia Long, Khleo Thomas, Ossie Davis u.a., USA 2003, 108 Minuten (Panorama)

"Sweet Sweetback's Baadasssss Song". Regie: Melvin Van Peebles. Mit Melvin Van Peebles, Simon Chuckster, Hubert Scales u.a., USA 1971, 93 Minuten (Retrospektive)