Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 9. Tag

Von Ekkehard Knörer
14.02.2003. Oskar Roehler führt in "Der alte Affe Angst" in die Sümpfe einer Künstlerseele. Yoji Yamadas "Samurai in der Dämmerung" riecht streng. Und: Wie die Berlinale Kritiker in den Wahnsinn treibt.
"Der alte Affe Angst" (Wettbewerb)

In letzter Minute ist Pascal Bonitzers Bruno ("Petites Coupures") im Wettbewerb um die unsympathischste Hauptfigur geschlagen worden, und zwar um Längen. Die Zumutung nämlich, die der Regisseur Robert (trotzdem brillant: Andre Hennicke) in Oskar Roehlers "Der alte Affe Angst" für den Zuschauer darstellt, ist beträchtlich. Das reine Klischee des leidenden Künstlers: egozentrisch, rücksichtslos und bis zum Kragen im Selbstmitleid schwimmend. Seine Freundin Marie (Marie Bäumer) begehrt er nicht mehr. Er betrügt sie deshalb mit Nutten, für die Frau seines Lebens hält er sie dennoch. Er macht eine Therapie, ihr zuliebe, wie er einmal sagt, der Therapeut bestätigt ihn zu allem Überfluss in seinem Selbstbild.

Oskar Roehler ist entschlossen, sich ausgerechnet in eine solche Figur zu verbohren, sie bis aufs letzte Hemd auszuziehen. Das muss man nicht mitmachen wollen - und die Buhs der Presse nach der Vorführung kann man verstehen. "Der alte Affe Angst" ist ein Trip - nicht so sehr durch die Abgründe als durch die Sümpfe einer Seele. Er bleibt hautnah dran am hysterischen Hin und Her einer Beziehung zwischen kindischem Herumtollen und kreischenden Vorwürfen, hält drauf, wenn Marie mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Wanne liegt oder Robert die Prostituierte Lisa vögelt. Damit lange nicht genug des Elends. Marie ist Ärztin in einer Kinderstation, ein Kind liegt im Sterben, die Mutter ist HIV-positiv. Sie ist die Prostituierte Lisa. Allein daran wird schon deutlich, dass Roehler kein Halten kennt, im guten wie im bösen, Angst auf Schrecken häuft, finstere Schicksale nimmt, woher er sie kriegen kann.

Dann ist da noch Roberts Vater (Vadim Glowna), auch er, wundert keinen mehr, todkrank. Seinen letzten Roman (komisch, dass der Plot, den er erzählt, so frappierend an "Solaris" erinnert) kann er nicht mehr fertig schreiben. Robert fühlt sich belästigt durchs Leid des Vaters. Als er sich doch noch entschließt, ihn bei sich aufzunehmen, ist er tot.

Was noch? Ein Theaterstück mit nackten Menschen, die im Chor brüllen wie in einem schlechten Schleef-Imitat. "Wir haben Angst", rufen sie. Der Autor des Stücks ist Robert, der Autor des Films ist Oskar Roehler, und wir haben längst begriffen, was er uns zeigen will. Natürlich kennt er dennoch kein Pardon. Es geht immer weiter so, das Geschrei und der Streit, bei Nacht und bei Tage. Alle Subtilitäten sind von der ersten Minute an über Bord geworfen, "Der alte Affe Angst" will immer nur hinaus auf den Exzess - wenngleich er ihn gegen Kontrastmomente der Ruhe ausspielt, die mit klassischer Streichkonzertmusik unterlegt sind.

Was er Marie und Robert zuletzt gönnt, sieht auf den ersten Blick aus wie ein Happy End. Nach ihrem Selbstmordversuch bleibt sie unter Beobachtung, Robert kommt zu Besuch. Sie umarmen sich, die Kamera kreiselt um sie, sie tollen durchs Gras, sie flicht ihm Gänseblümchen ins Haar. Schwer zu sagen, wie ernst das gemeint ist, die Fortsetzung dieser Hölle ist nichts, das man irgendjemandem wünschen möchte.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"Der alte Affe Angst", von Oskar Roehler. Mit Andre Hennicke, Marie Bäumer, Vadim Glowna, Hilde van Mieghem u.a., Deutschland 2002, 92 Minuten.
Termine.



Zwischen den Filmen

Zu den ungenannten Helden der Berlinale gehört, für den Journalisten jedenfalls, der Getränkesponsor. In diesem Jahr heißt er Vöslauer - und hat neben schlichtem Kohlensäurewasser noch Geschmacksrichtungen wie Zitronengras oder Kräuteressenz im Angebot, die, nun ja, gewöhnungsbedürftig sind, aber dennoch greift man gerne in die im Pressebereich bereitgestellten Kühlschränke. Auch Journalisten sind Schnäppchenjäger, was es umsonst gibt lassen sie mitgehen, mit Ausnahme des Rheinischen Merkur freilich, dessen kostenlose Stapel im Laufe des Tages nur langsam abgetragen werden. Die taz und der Tagesspiegel dagegen sind weg, bevor der erste Wettbewerbsfilm vorbei ist.

In den Wahnsinn getrieben hat die auf Computer angewiesene Presse dagegen in diesem Jahr das Pressezentrum, das gerade mal 36 Geräte zur Verfügung stellte für, darauf war man auch wieder stolz, mehrere tausend Kollegen. Wie die Irren rennen die ersten noch vor Ende der Wettbewerbsfilme die Treppen des Berlinale-Palasts hinunter, um einen freien Platz zu erhaschen (einmal hat mich ein älterer Herr mit weißen Haaren allen Ernstes auf der Zielgeraden zur Seite gerempelt). Wer etwas Wert auf seine Würde legt, kann dafür gut und gerne mal eine Stunde Schlange stehen. Die Kritik gilt es dann eben in zwanzig Minuten zu erledigen. Nachmittags - wie jetzt - ist aus dem schlecht klimatisierten Raum jeglicher Sauerstoff entwichen, dafür nähern sich die Temperaturen tropischen Gefilden, und der Kritiker sitzt vor dem weißen Bildschirm wie Nicolas Cage als Charlie Kaufman in Spike Jonzes "Adaptation" vor Tilda Swinton: Schweißperlen auf der Stirn und nicht ganz bei Sinnen.

Für die einen Pflicht, für die anderen Gelegenheit zum Star-Gucken und für die dritten ein Schauspiel für sich sind die Pressekonferenzen. Dass der Moderator Steven Soderbergh als Steven Spielberg vorstellt, kann schon mal passieren. Weniger verzeihlich sind die fast ausnahmslos dummen Fragen, die in den prominent besetzten Veranstaltungen gestellt werden. Man langt sich an den Kopf - aber natürlich könnte man selbst ja auch mal nach dem Mikrofon greifen und sich eine kluge Frage einfallen lassen. Viel besser verdaulich die Konferenzen ohne Prominenz, hier ist ernsthafte Verständigung über den soeben gesehenen Film schon mal möglich. Die rare Ausnahme von der Regel war in diesem Jahr die Pressekonferenz zu "Solaris", eine über weite Strecken höchst unterhaltsame One-Man-Show George Clooneys, dessen brillanter Auftritt durch den Einwurf eines Journalisten jäh gestoppt wurde, er habe den Film schlicht langweilig gefunden. Clooney schimpfte und fluchte - und war dann vor allem still bis zum Schluss. Dennoch: Eigentlich gab es während des Festivals keine amüsantere Dreiviertelstunde als diese, zwischen den Filmen. Sollte doch ein Bär aufzutreiben sein für Clooneys reife Leistung: Bester Darsteller auf einem Nebenschauplatz, vielleicht.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)



Riecht streng: Yoji Yamadas "Samurai in der Dämmerung" (Wettbewerb)

Seibei ist ein Samurai, mit dem Herzen bei der Sache ist er jedoch nicht. Seit dem Tod seiner Frau versorgt er seine beiden Töchter als alleinerziehender Vater mit kümmerlichem Gehalt (und seine demente Mutter dazu). Da kann es schon mal passieren, dass er etwas strenger riechend zur Arbeit erscheint. Stolz ist dort keiner auf ihn, sein Onkel will eine hässliche Frau an ihn verschachern, mehr darf er nicht erwarten. Allerdings gibt es da noch Tomoe, die Kindheitsfreundin, die ein Auge auf ihn geworfen hat, er aber will ihr das Leben in Armut und Arbeit nicht zumuten. Kurz, Seibei ist eigentlich zu gut, um wahr zu sein, ein Mensch ohne Ehrgeiz, der dennoch zuletzt einen bedeutenden Auftrag auszuführen hat, ob er will oder nicht.

Ein realistischeres Bild der Samurais wollte er zeichnen, meint Regisseur Yoji Yamada in der Pressekonferenz. Kann sein, dass ihm das gelungen ist. Seibei ist ein gar nicht übler Schwertkämpfer und geht einem mit allzuviel Edelmut auf die Nerven. Ansonsten ist er einer wie du und ich. Ziemlich langweilig also, kein Held für einen Film, in dem weiter nichts geschieht. Ein bisschen Liebeswerben, kleine Scherze, eine schnurrige Geschichte. Die Kamera beobachtet meist aus der typisch japanischen Tiefebene, aber einfach so, ohne formalen Ehrgeiz. Die Bilder sind illustrativ und stets geschieht, was man lange schon erwartet hat. Je länger der Film dauert, desto stärker wird der Wunsch, dem Helden und dem Film Beine zu machen: beide beharren - mit Ausnahme einer langen, langen Kampfszene - auf ihrer Behäbigkeit.

Im letzten Jahr hat man die Berlinale-Zuschauer mit dem wirr-langweiligen japanischen "Thriller" "KT" gequält, in diesem Jahr wird einem das japanische Kino durch die nicht unsympathische, aber reichlich schlichte Schmonzette vom "Twilight Samurai" verleidet. Dabei gehört Japan immer noch zu den aufregendsten Filmländern der Welt, davon kann man sich in Deutschland auf dem alljährlichen Frankfurter "Nippon Connection"-Festival überzeugen. Die Berlinale vermittelt kaum einen Eindruck davon. Es formt sich der etwas bösartige Wunsch, es möge Takashi Miike mit einem seiner Blutbäder hineinfahren in all das Kunstgewerbe des Wettbewerbs und bürgerliche Seelenqual wie gut gemeinten Biedersinn einfach mal kurz und klein hacken.

Ekkehard Knörer (Jump Cut)

"Tasogare Seibei - Samurai in der Dämmerung", von Yoji Yamada. Mit Hiroyuki Sanada, Rie Miyazawa u.a., Japan 2002, 129 Minuten.
Termine.