Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 2. Tag

Von Ekkehard Knörer
06.02.2004. Erstaunliche Hüte und die Semiotik der Liebe auf Koreanisch zeigt E J-Yong in seiner Verfilmung der "Gefährlichen Liebschaften". Der Held von Genjirou Aratos "Akame 48 Waterfalls" ist von vollendeter Passivität. Da macht es fast nichts, dass er immer am falschen Ort ist.
Die Semiotik des Liebens auf Koreanisch: E J-yong hat mit "Chosun Nam Nyo Sang Yeol Jisa - Untold Scandal" Choderlos de Laclos' "Gefährliche Liebschaften verfilmt. (Panorama)

Keine Sorte Film, sollte man meinen, gibt es, die das blühende koreanische Kino in den letzten Jahren nicht hervorgebracht hätte. Vom brisanten Politthriller wie "Joint Security Area" über das durchgeknallte Sci-Fi-Epos wie "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" bis zu den so bildgewaltigen wie gewalttätigen Kunstfilmen Kim Ki-Duks ("The Isle" oder, vor zwei Jahren in Berlin, "Bad Guy"), alles, denkt man, ist jetzt da gewesen. Und dann gelingt die Verblüffung doch wieder: Mit "Untold Scandal" nämlich hat sich der junge Regisseur E J-yong nichts anderes vorgenommen als die Verfilmung des französischen Klassikers "Gefährliche Liebschaften" von Choderlos de Laclos, dem Filmliebhaber vertraut in der Version von Stephen Frears.

Yong verlegt die Geschichte aus dem 18. Jahrhundert dabei keineswegs in die Gegenwart, sondern transportiert sie, ohne mehr als nur ein paar Knöchelchen ihres Skeletts zu verändern, ins Korea des 18. Jahrhunderts, die Zeit der Chosun-Dynastie. Das ist ein Wagnis, und mehr als das, eine wahre Tollkühnheit, denn wenn ein Roman einen historisch wie kulturell spezifischen Ort hat, dann Laclos' Vorlage, die das französische Rokoko an jenem Gipfelpunkt erwischt, an dem die durchgeklügeltste Semantik und Semiotik des Liebens, die die Geschichte - jedenfalls nach der Antike - kennt, sich in der souveränen Handhabung doppelmoralischer Raffinessen an den Rand des noch Handhabbaren komplizierte. Voraussetzung der neuen Wertgesetze des Liebens ist dabei gerade die Skrupellosigkeit, die mit den Skrupeln derer spielt, die noch Skrupel kennen: die Überschreitung der moralischen Standards gibt den Kitzel und die Entkopplung von Sex und Liebe im ehelichen Alltag treibt den Preis für den Zusammenfall beider - was, versteht sich, nur außerhalb der Ehe denkbar ist - in schwindelnde Höhen.

Der Plot der "Gefährlichen Liebschaften" ist so einfach wie infam: Ein Mann des Hofes liebt eine Frau des Hofes, die ihm zur Aufgabe stellt, die unschuldigste und unzugänglichste Frau, die sich in Reichweite befindet, zu verführen. Der Preis ist sie selbst. Das ist im Grunde auch die Geschichte von "Untold Scandal", statt mit der Marquise de Merteuil und Valmont bekommt man es hier mit Lady Cho und Cho Won zu tun, die Verstrickungen aber bleiben - im Grundriss - dieselben. Man muss nun über die koreanische Chosun-Dynastie nichts wissen, um zu ahnen, dass dergleichen sich dort wohl kaum zutragen konnte - und in jedem Fall ist derartiges aus dieser Zeit nicht überliefert. Auf diesen letzteren Tatbestand bezieht sich der Titel, darauf bezieht sich auch ein kurzer Vorspann, der die Zweifel beiseiteräumt, indem er sie teilt und damit, im eingeräumten Unwahrscheinlichen, die Lücke öffnet für die skandalösen Vorgänge, die er schildert.

Und man sehe und staune, das ganze höfische Intrigenspiel wird entfaltet, nun aber im koreanischen Gewand, mit erstaunlichsten Hüten, asiatischen Kleidern undsoweiter. Man sitzt meist auf dem Boden - und schon das macht einen gewaltigen Unterschied. Das Tempo ist verlangsamt, statt Dynamik setzt E J-yong auf Statik, die Entwicklung ist mehr ins Einzelbild verlagert, ins Zucken der Mundwinkel, ins Hochziehen der Braue. "Untold Scandal" ist ein Kostümfilm (der sich mit Absicht über historische Akuratesse hinwegsetzt), ein Ausstattungsfilm, ein Schauspielerfilm, ein Augenfilm. Auch ein Ohrenfilm, denn auf der Tonspur kommentiert er seine gewagte interkulturelle Zwischenlage selbst. Meist umspielt er die koreanischen Intrigen mit europäischer Musik, viel Bach, nur einmal reißt er den Betrachter aus dieser schnell vertrauten Melange und setzt ein koreanisches Musikensemble an einen See, das die vertraute Geschichte im unvertrauten Gewand fürs westliche Ohr geradezu schockartig verfremdet. Das ist der Zwischenton, der bleibt.

Ekkehard Knörer

"Chosun Nam Nyo Sang Yeol Jisa - Untold Scandal". Regie: E J-Yong. Mit Bae Yong-Jun, Lee Mi-Sook, Jeon Do-Youn, Cho Hyun-Jae, Lee So-Youn u.a., Korea 2003, 123 Minuten (Panorama)



Die Krankheit, die Nostalgie heißt: "Fan Chan - My Girl" aus Thailand (Forum)

Filme, die auf Wiedererkennen setzen, und zwar voll und ganz, sind für ein Kunstverständnis, das das Nicht-Erkennbarmachen des Vertrauten favorisiert, der reine, banale Kitsch. So auch der Vorwurf gegen weite Teile der Popliteratur: On connait la chanson - na und? "My Girl", einer der erfolgreichsten Blockbuster in der thailändischen Filmgeschichte, setzt auf die Wiedererkennungseffekte, ein Nostalgieprodukt. Kein Zufall, dass gerade Musik, Thai-Pop, nicht nur die unwillkürliche Erinnerung, als die die Geschichte einer Kindheit dann etwas willkürlich daherkommt, triggert, sondern überhaupt Stück für Stück von der Tonspur zu verschwinden sich weigert.

Und damit die Bildspur dominiert, die diese Geste nur immer zu wiederholen scheint. On connait la chanson, man kennt die Bilder, man kennt die Geschichten, man kennt die Gefühle. Und zwar nur zu gut. Ein Junge, der ein Außenseiter ist und im Kampf um die Anerkennung durch die roher geratenen Gleichaltrigen zuletzt die Freundschaft zu einem Mädchen aufgeben muss. Es wird Fußball gespielt, es gibt hübsche Nebenideen wie die von den beiden Friseuren: ein Künstler (der Vater des Mädchens), ein laissez-faire-Bürokrat (der Vater des Jungen), Romeo & Julia in der Sommerschlussverkaufsvariante und um jeden Ernst ermäßigt. Man kann die hintereinander weg plätschernden Episoden um Fußball und Seilspringen, Werben und Kindheitsende nett finden, ja, man muss sie sogar nett finden. Konsensgeschichten, Konsensgefühle von alles in allem dann vielleicht doch verheerender Harmlosigkeit.

In dieser Harmlosigkeit ist jeder Schrecken ausgeblendet. Es ist in diesen Bildern kein Platz für den Schmerz, für Einsamkeit, für Verlustangst und das schiere Entsetzen, das im Erwachsenwerden steckt. Erst recht wer die frühen Kindheitsfilme von Hou Hsiao-hsien kennt, ist für die Gefühligkeiten, die in "My Girl" so kompetent vollstreckt werden, verloren, vom ersten Bild. Und bis zum letzten, das der Verweigerung des Erwachsenwerdens den Segen gibt. Ein Film, der ein Symptom ist für die Krankheit, die Nostalgie heißt, kein Versuch, sich einer Analyse zu nähern.

Ekkehard Knörer

"Fan Chan - My Girl". Regie: Komgrit Threewimol, Songyos Sugmakanan, Nithiwat Tharatorn, Vijja Kojew, Vithaya Thongyuyong, Adisorn Tresirikasem. Mit Chalee Trirat, Chawin Chitsomboon, Focus Jeerakul, Wongsakorn Rasameetat. Thailand 2003, 117 Minuten. (Forum)



Immer am falschen Ort: Ikushima in Genjirou Aratos "Akame Shijyuyataki Shinjyumisui - Akame 48 Waterfalls" (Panorama)

Amagasaki: Die Hölle, das steht schon am Bahnhof. "Ihr, die ihr hier eintretet", Dante. Ein älterer Herr mit langem blonden Haar, ist das Vergil? Nein, einen Führer gibt es nicht, wenngleich Höllenqualen der sanften Art: Ikushima, der tagein, tagaus Fleisch auf Spieße spießt und damit seinen Lebensunterhalt verdient. Der Ort, an dem er landet, ein Höllenort, kein Höllenort, eine Unterwelt, ein Zwischenraum der nicht erklärten Seltsamkeiten. Ein Altar vor dem Haus, die Nutte nebenan, die beim Sex Bahnhofsnamen ruft, der Mann mit den langen blonden Haaren gegenüber, ein Meister-Tätowierer, dem es wichtig ist, dass er Schmerz bereitet bei der Ausübung seiner Kunst. Seiko, die Chefin, die zu Besuch kommt und, vor allem, Aya, die Verführerische mit dem Bruder, der ein Gangster ist, wenngleich, vielleicht, ein gutmütiger. Seiko, die ihre Tätowierung weggebrannt hat, Aya, die sie auf dem Rücken trägt und hasst. Kalavinka, eine Figur aus dem Mythos, die mit der Stimme Buddhas singt. Stigmatisierungen und kleine Proben für Ikushima, der in die Abläufe des Hauses, der Unterwelt, in die er geraten ist, hineinverwickelt wird.

Es geht also, womöglich, um die Konstitution eines Raums. Limbo, aber mit einem Ausweg in die Erlösung, und sei er geträumt. Der Traum zu Beginn, ein kleiner Junge, der einen Schmetterling jagt und an den tosenden, berühmten Wasserfällen von Akame auf einem Felsen zwischen Gischt landet. Der Film wird, als wäre er ein Traum, der unterbrochen wurde und zuende geträumt werden muss, dahin zurückkehren. Auf dem Umweg durch den Raum, den Limbo-Raum, der allerdings, bei aller Unerklärtheit, kein Raum der Geheimnisse ist, die es aufzuklären gälte. Auch Ikushima ist, bei aller Unerklärtheit, in merkwürdiger Weise geheimnislos. Einmal besucht ihn ein Freund aus seinem Vorleben (in dezidierter Weise ist das Leben in Amagasaki tatsächlich ein Nachleben und wie in Kore-edas "After-Life" wird es um den einen Moment gehen, am Ende, der das Leben gelohnt haben wird), und wir erfahren, dass Ikushima ein Autor war und dass es eine Frau gegeben hat, mehr nicht. Die Erklärung aber enttäuscht nicht, denn sie nimmt der Figur ein Geheimnis, ohne eine zusätzliche Dimension hinzuzufügen. Ikushima ist und bleibt auch mit dieser Vorgeschichte eine leere Figur von vollendeter Passivität. Er ist geradezu definiert, es könnte sein Name sein, als der, der nicht weiß, wie ihm geschieht.

So bleibt ihm, in aller Konsequenz, eine Entwicklung versagt. Aya will ihn mitnehmen, zu den Wasserfällen, in den Tod, zurück ins Bild dieses Traums, mit dem der Film beginnt. In langen, den schönsten Minuten des Films, folgt die Kamera Ikushima und Aya auf dem Pfad entlang der Wasserfälle. In einer Nische des Raums, der Zeit, der Realität sind zum Picknick noch einmal alle Protagonisten versammelt, Aya aber und Ikushima klettern, laufen durch das Rauschen und Zischen, begleitet von einer gerade in der Steigerung der Naturgeräusche denaturalisierten Tonspur, hinauf zu den Wasserfällen, deren Bild schon zu Beginn, dann noch einmal als Poster im Schließfachraum des Bahnhofs zu sehen war. Eine Welt eigener Gesetze entwirft "Akame 48 Waterfalls", verzeichnet aber sind sie nirgends, die nicht, die die Durchlässigkeiten zwischen den Räumen regeln, und auch nicht die, die die Verknüpfungen steuern, die sich in Motivketten wie der rund um das Thema der Tätowierung manifestieren. Der Höhepunkt ist dann eine Serie von Rätselbildern, die sich der direkten Auflösung ein letztes Mal entziehen. Der hieros gamos aber als pathetische Feier eines nicht zu übertreffenden Glücks ist nicht das Ende (und damit löscht der Film gleich wieder den Kitsch, mit dem die Bilder zuvor aufgeladen schienen): Aya und Ikushima fahren mit der S-Bahn zurück in die Stadt, sie verschwindet, als wäre sie nie gewesen. Du bist hier am falschen Ort, bekommt Ikushima, der Mann ohne Eigenschaften, ein ums andere Mal gesagt. Er lässt es sich sagen, unternimmt aber nichts. An der Leere dieses subjektlosen Subjekts zerschellen alle Eindeutigkeiten: Ein Höllenort, Limbo, das Paradies oder nur eine merkwürdige Liebesgeschichte? Das diese Fragen offen bleiben, macht "Akama 48 Waterfalls" zu einem großen Film.

Ekkehard Knörer

"Akame Shijyuyataki Shinjyumisui - Akame 48 Waterfalls". Regie: Genjirou Arato. Mit Takijirou Onishi, Shinobu Terajima, Michiyo Okusu, Yuya Uchida u.a., Japan 2003, 159 Minuten (Panorama)