Außer Atem: Das Berlinale Blog

Kühl bis ans Herz

Von Ekkehard Knörer
07.02.2008. Der italienische Filmregisseur Francesco Rosi wird auf der Berlinale mit dem Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Die Berlinale liebt politisches Kino. Bei Rosi kann man lernen, wie das geht. Und erfahren, welche Wirkung die Kombination aus sachlicher Akten-Montage und neorealistischer Ästhetik auch nach 40 Jahren noch hat. (Sogar bei youtube findet man das)
Der Film, der Francesco Rosi im Jahr 1962 auf einen Schlag berühmt machte, trägt den deutschen Titel "Wer erschoss Salvatore G.?" Das führt in die Irre, denn der Film ist kein Whodunit. Die Frage des Titels wird gestellt, sie wird beantwortet, aber viel wichtiger ist: Sie ist nicht die einzige, sie ist vor allem gar nicht die entscheidende Frage des Films. Das Besondere ist vielmehr gerade die Vielzahl der Fragen, die gestellt werden. Und noch wichtiger ist: die entscheidenden, die wichtigsten Fragen, die nach den wirklichen Hintergründen der Geschichte, die Rosi erzählt, bleiben auch am Ende offen.


"Wer erschoss Salvatore G.?"

Im Original heißt der Film, der Francesco Rosi im Jahr 1962 berühmt machte, einfach "Salvatore Giuliano". Irritierend genug, denn der Titelheld ist während des ganzen Films nicht von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Schon die erste Einstellung zeigt ihn hingestreckt auf dem Boden, erschossen. Die Ermittlungen beginnen und etwas wie eine Ermittlung ist auch Rosis Film. Salvatore Giuliano - es hat ihn wirklich gegeben - war ein sizilianischer Schwarzmarkthändler, der 1943 auf der Flucht einen Polizisten tötete, sich in den Bergen verschanzte und eine Karriere als Freiheits- und Widerstandskämpfer begann. Von den Einheimischen unterstützt, versammelte er eine Gruppe von Mitstreitern um sich und ging durch als Held. Im Jahr 1947 kommt es dann aber zu einem Massaker: Giuliano und seine Leute schießen in eine am 1. Mai versammelte Menge von Anhängern der Kommunisten. Elf Menschen sterben, viele weitere werden verletzt. Wie konnte das passieren? Was sind die Hintergründe dieser Tat?

Das sind die eigentlichen Fragen von Francesco Rosis politischem Kino der sechziger und siebziger Jahre. (Nur von ihnen soll die Rede sein; mit der Hinwendung zu anderen Stoffen und Verfahren ab "Christus kam nur bis Eboli" im Jahr 1979 verändern seine Filme ihren Charakter und werden deutlich weniger interessant.) Die Fragen nach Hintergründen und Zusammenhängen sind die Leitfragen der einzigartigen filmischen Methode, die Rosi mit "Salvatore Giuliano" entwickelt und vielleicht sogar schon vervollkommnet hat. Rosi selbst hat diese Methode als "Cine-inchiesta" bezeichnet; "inchiesta" ist ein Begriff aus der Justiz und bezeichnet die Verfahren der "Untersuchung" eines Falles. Tatsächlich hatte Francesco Rosi Jura studiert, bevor er als Assistent unter anderem von Luchino Visconti das Filmemachen lernte. Visconti war damals, das darf man angesichts seiner späteren Wendungen zur Opulenz nicht vergessen, der vielleicht radikalste Vertreter des italienischen Neorealismus.


"Wer erschoss Salvatore G.?"

Mit Hilfe dieser beiden Koordinaten, Recht und Neorealismus, lässt sich Francesco Rosis Kino recht genau verorten und beschreiben. Hier werden Fälle aufgerollt, Fakten gesammelt, Spuren verfolgt und nach Möglichkeit Täter ermittelt. Und all das wird dargestellt. Nicht nur die Ergebnisse der Ermittlungen, fiktionale Rekonstruktionen, in denen Zweifel beiseite geräumt werden, sondern stets und vor allem die Ermittlungen selbst. Das erinnert zunächst wieder an die Whodunits der Detektivliteratur, aber es bleibt ein großer Unterschied zu deren Konventionen: es fehlt die Zentralfigur des Ermittlers. An seine Stelle tritt das filmische Erzählen, das, was es zu wissen, zu vermuten und aus den Vermutungen zu schließen gibt, sozusagen als filmische Akte präsentiert. Durchaus geordnet, wie eben eine Ermittlungsakte geordnet ist, aber immer so, dass man sich einem widersprüchlichen Chor der Stimmen, einer Vielzahl der Bilder, sich verzweigenden Nachforschungssträngen konfrontiert sieht.

Darum wird "Salvatore Giuliano" in der zweiten Hälfte zum Gerichtsfilm. Eine gute halbe Stunde lang erleben wir, was vor Gericht geschieht. Und wie diese Filme im Ganzen stets in sich verzweigende Pfade zerfallen, in Bewegungen des Hin und Her, des Vor und Zurück, in Konfrontationen zwischen Gegnern, in Gruppendiskussionen, Voice-Over-Stimmen und ausführliche Rekonstruktionen überlieferter Szenarien, so sind auch ganze Passagen wie die im Gericht zu kunstvoller Unordnung arrangiert. Es gibt bei Rosi stets ein gewisses Maß an Durcheinander, an Überlagerungen des Widersprüchlichen und gerade in diesen Überlagerungen bleibt mit voller Absicht ein insistenter Rest, der verhindert, dass die Filme, die sehr wohl und mit sehr genauer Recherche Missstände und skandalöse Zustände vorführen, diese schlechterdings von der sicheren Seite aus anprangern. Es ist diese Methode, mit ihrem zur Bildpolitik geronnenen eisernen Willen, alle großen Vereinfachungen, Zuspitzungen und Identifikationsmanöver zu vermeiden, die dann auch Rosis große Trilogie des Verbrechens aus den Siebziger Jahren - "Il caso Mattei - Der Fall Mattei" (1972), "Lucky Luciano" (1973), "Cadaveri eccelenti - Die Macht und ihr Preis" (1976) - ausmachen wird.


Gian Maria Volonte in "Lucky Luciano" (bei youtube ein kleiner Beweis von Volontes Fähigkeiten als Schauspieler in "Der Fall Mattei". Sehen Sie nur, wie er tanzt!)

Geschildert werden darin höchst zwiespältige Figuren wie der italienische Ölbaron Enrico Mattei (Bilder) und der Mafia-Boss Lucky Luciano. In "Der Fall Mattei" und "Lucky Luciano" spielt der eigentlich zu jeder Virtuosität fähige Gian Maria Volonte die Hauptrolle; Rosi nötigt ihn aber zur Zurückhaltung. Der Titelheld bleibt eine Figur unter vielen, auch Laien - wie in "Lucky Luciano" etwa der tatsächliche, im richtigen Leben wie im Film letztlich scheiternde Ermittler - bekommen neben ihm das Recht zur Präsenz. Das Kino des Francesco Rosi produziert keine Helden - weder im Guten noch im Bösen. Es schlägt sich auch nicht umstandslos auf eine Seite. Es nimmt die Position weder des Staatsanwalts noch des Verteidigers ein, aber eigentlich auch nicht die des Richters. Oder vielleicht die des Richters in einem Geschworenengericht. Der nicht selbst urteilt, sondern dafür sorgt, dass die Verfahren korrekt sind, dass die Vertreter der Parteien die vorgesehenen Grenzen nicht überschreiten. Des Richters, der manipulative Tricks verhindern will, für Angemessenheit sorgt und dafür auch, dass die Verfahren der Darstellung und Präsentation sauber bleiben.

Und das ist vielleicht der wichtigste Punkt, der Punkt auch, in dem sich Rosis Kino von der großen Mehrheit dessen unterscheidet, was sonst so als politisches Kino gehandelt wird. Die rhetorischen Verfahren seiner Filme sind und bleiben bis zum Ende der siebziger Jahre dem Neorealismus treu. Und damit einem Verfahren, das den schweifenden Blick dem zupackenden vorzieht, der Methode einer - durchaus akribischen - Inszenierung, die geschehen lässt und nicht geschehen macht. Immer wieder gibt es in Rosis Filmen die Schwenks der Kamera über die Landschaft, über Dörfer und Städte, einen Kamerablick, der sucht, als wollte er nur konstatieren, aber nicht behaupten und auch nicht so tun, als finde er gerade, was er in Wahrheit von vorneherein weiß. Auch seine Darsteller filmt Rosi auf ähnliche Weise: als wären sie Teil einer Landschaft, die es aus der Distanz zu beobachten, aber nicht in Szene zu setzen gilt.


Lino Ventura in "Die Macht und ihr Preis" (bei youtube begutachtet Charles Vanel die exzellenten Kadaver und Lino Ventura wird in die Zange genommen.)

Diese Kombination aus sachlicher Akten-Montage und neorealistischer Ästhetik produziert den vielfach beschriebenen Rosi-Effekt der Kühle. Es gibt viel Aufgeregtheit zu sehen in seinen Filmen, viel Empörendes, das für Empörung sorgt. Der nicht urteilende Richter aber, als den sich die Filme selbst geben, bleibt stets kühl bis ans Herz. Das soll nicht heißen, dass es kein Pathos gibt im Kino des Francesco Rosi. Es ist aber ein Pathos, das auf der Rückseite der eigenen Darstellungsmethoden liegt. Es ist das stille Pathos der Verzweiflung, das sich in dem Moment einstellt, wenn man die Akten studiert hat und den Ordner zuklappt, reicher an Erkenntnis, reicher an Einsicht in die Netze der Korruption und des Verbrechens. Freilich taugt ein solches - durchaus zu Recht als links verstandenes - Kino aus dem Geist der Bestandsaufnahme kaum zur Agitation. Die Frage "Was tun?" nämlich lässt Rosi in eher systematischer als bloß rhetorischer Weise offen.

Die wohl verdiente Hommage an das Kino des Francesco Rosi ist für die Berlinale nicht ungefährlich. Rosis Filme geben einem nämlich nicht zuletzt das Werkzeug in die Hand, den schauderhaft unterkomplexen Politikbegriff, mit dem das Festival seit ein paar Jahren hausieren geht, gründlich zu zerlegen. Denn unter dem fröhlichen Sozialdemokraten Dieter Kosslick ging und geht ja alles als politisch durch, was auch nur irgendwie politisch tut. Das meiste davon besitzt aber weder die ethische Redlichkeit noch die ästhetische Intelligenz, mehr zu leisten, als nur die eigene gute Absicht zu bekunden. So liegen noch zwischen Rosis Kino und den oft manipulativen Politthrillern des diesjährigen Jury-Präsidenten Constantin Costa-Gavras Welten.

Im Grunde ist das Kino des Francesco Rosi also ein trojanisches Pferd, das die Berlinale sich in der ihr eigenen Naivität an den Potsdamer Platz geholt hat. Es gibt allen Grund, die Götter der Filmkunst, oder wer auch immer die Verantwortung trägt, zu dieser List der Vernunft zu beglückwünschen.

Ekkehard Knörer

Mehr bei youtube:

Le Mani Sulla Citta (1963)
https://www.youtube.com/watch?v=79vVDpYn36I
https://www.youtube.com/watch?v=EEMrBQ1DQgQ

Uomini contro (1970)
https://www.youtube.com/watch?v=y5FPHZmmN9I

Cristo si e fermato a Eboli (1978/79)
https://www.youtube.com/watch?v=zMUKRndOAWE

Tre fratelli (1980/81)
https://www.youtube.com/watch?v=LrARSE8x5fc


Veranstaltungen zu Francesco Rosi:

Am Mittwoch, den 13. Februar, 18 Uhr, führt der Filmkritiker und Redakteur von Positif Michel Ciment ein Gespräch mit Francesco Rosi (Französisch mit englischer Übersetzung) in der Deutschen Kinemathek. Der Eintritt ist frei.
Anlässlich der Hommage und der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Francesco Rosi präsentiert die Ausstellung "Immagini di una vita. Francesco Rosi" eine Auswahl an Bildern, die aus der Privatsammlung Francesco Rosis stammen und die wichtigsten Etappen seiner filmischen Karriere dokumentieren. 9. - 23. Februar 2008 in der AB project Galerie. Mehr Informationen zur Ausstellung hier.

Mehr über die Rosi-Hommage auf den Internetseiten der Berlinale hier. Die Vorführungstermine findet man über die Programmsuche.