Außer Atem: Das Berlinale Blog

Hat theatrale Dimensionen: Reha Erdems 'Jin' (Generation 14plus)

Von Lukas Foerster
09.02.2013. Eine 15-jährige, alleine in den Bergen, alleine mit der Natur. Felsen, Wiesen, Bäume, der Himmel mal strahlend blau, mal nebelverhangen, mal wolkenverzogen, oft stürmt und regnet es. Viele Naturtotalen, begleitet von flächiger, sinfonischer Musik. Die 15-jährige heißt Jin, also Geist; man kann das auf ihren legalen Status beziehen: Ein Mädchen ohne Papiere, eine junge Kurdin, die einmal Teil einer militanten Gruppierung war, jetzt aber allein, zwar bewaffnet, aber ohne Auftrag, ohne Ziel die Natur durchstreift. In die Welt, in den Film hineingeworfen, bleibt Jin eine ganze Weile lang einsame Überlebenskünsterin. Ein bloßer Zufall gibt ihrer Bewegung schließlich eine Richtung, ein Ziel (und einen möglichen Ausweg aus der geisterhaften Existenzform), dem Film eine Geschichte: Sie beschließt, nach Izmir, in die Großstadt, in den Westen der Türkei zu reisen. Und dafür muss sie zunächst einmal Geld auftreiben.


Eine 15-jährige, alleine in den Bergen, alleine mit der Natur. Felsen, Wiesen, Bäume, der Himmel mal strahlend blau, mal nebelverhangen, mal wolkenverzogen, oft stürmt und regnet es. Viele Naturtotalen, begleitet von flächiger, sinfonischer Musik. Die 15-jährige heißt Jin, also Geist; man kann das auf ihren legalen Status beziehen: Ein Mädchen ohne Papiere, eine junge Kurdin, die einmal Teil einer militanten Gruppierung war, jetzt aber allein, zwar bewaffnet, aber ohne Auftrag, ohne Ziel die Natur durchstreift. In die Welt, in den Film hineingeworfen, bleibt Jin eine ganze Weile lang einsame Überlebenskünsterin. Ein bloßer Zufall gibt ihrer Bewegung schließlich eine Richtung, ein Ziel (und einen möglichen Ausweg aus der geisterhaften Existenzform), dem Film eine Geschichte: Sie beschließt, nach Izmir, in die Großstadt, in den Westen der Türkei zu reisen. Und dafür muss sie zunächst einmal Geld auftreiben.

Reha Erdem ist eine Ausnahmefigur im aktuellen türkischen Autorenkino. Mit den spröden Realismen seiner international bekannteren Kollegen Nuri Bilge Ceylan und Semih Kaplano?lu hat er nichts am Hut, seine Filme sind geprägt von einem stilistischen Maximalismus, breiten bildgewaltig und ohne Scheu vor Symbolismen mystisch aufgeladenen Geschichten aus, die orchestral ausgestalteten Tonspuren tun ihr übriges. Technisch brilliant sind seine Filme alle, bei einigen darf man sich jedoch schon fragen, ob all der Zauber nicht für etwas fragwürdige, grenzesoterische Zwecke missbraucht wird. "Jin", der Eröffnungsfilm der Jugendsektion Generation 14+, ist zum Glück ein ganz anderer Fall, ein Film, der nicht nur großartig ausschaut, sondern sich auch ehrlich anfühlt. Vielleicht liegt das daran, dass Erdem seinen ganzen Film um seine junge Hauptdarstellerin herum entwirft. Die wird, vielleicht auch stellvertretend für den sicher distanziert im Kino sitzenden Zuschauer, mit seiner inszenatorischen Energie konfrontiert – und gibt eben nicht klein bei, sondern behält ihren eigenen Willen.

Jin macht auf ihrer Reise Begegnungen: mit Tieren, mit Menschen und mit Geschossen. Mit den Tieren kommt sie im Allgemeinen am besten klar, wenn ihr ein Bär krumm kommt, faucht sie zurück. Auch Esel tauchen auf, lebendige und tote, später exotischere Tiere erkennbar digitalen Ursprungs: Die Natur ist als gefilmte nicht mehr etwas Vorgängiges, Vorgefundenes, sondern etwas Synthetisches. Bei Erdem hat sie sogar, nicht erst in "Jin", sondern auch in Vorgängerfilmen wie "Times and Winds" oder auch "Kosmos", eine regelrecht theatrale Dimension. Allerdings nicht in dem Sinne, dass sie sich komplett instrumentalisieren lassen würde. Eher scheinen die Gezeiten und selbst die Felsformationen und Bäume, insbesondere aber die Tiere, einem geheimen Skript gemäß geformt, das neben der nominellen, menschlich besetzten Haupthandlung herläuft, ohne sich offen zu ihr zu erklären.



Die Begegnungen mit Menschen gehen meist weniger gut aus. Insbesondere für die Männer, denen Jin begegnet, ist sie, als zierliche junge Frau und vermeintliche Terroristin, gleich im doppelten Sinne Freiwild. Mit ein wenig Fauchen ist es da nicht immer getan, aber Jin weiß sich auch mit anderen Mitteln zu helfen. Sie befindet sich in einer Situation, in der sie sich soziale Kontakte nur leisten kann, wenn sie in jedem Moment die totale Kontrolle behält. Später im Film ergibt sich tatsächlich eine solche Gelegenheit, eine Begegnung, die auch den türkisch-kurdischen Bürgerkrieg, auf den der Film ansonsten reichlich pessimistisch zu blicken scheint, ein wenig neu perspektiviert.

Neben Tieren und Menschen gibt es als Drittes: Geschosse. Unsichtbar bleiben - und zwar ziemlich konsequent - die Menschen und Waffen, die diese Geschosse abfeuern. Aus einem undarstellbaren Außen treten sie ins Bild hinein, immer wieder, meist ohne jede Ankündigung. Dennoch werden sie nicht einfach zu einem Stück Natur, schon deshalb nicht, weil ihnen die theatrale Dimension fehlt: als reine Kontingenz, ohne Muster und ohne Sinn, als bloßes Störfeuer, dringen sie in den Film ein. Eigentlich sind sie ebenfalls Geisterwesen, wie Jin. Nur eben: böse Geister. Denn schließlich bleiben nicht nur die Schützen, sondern auch die fliegenden Geschosse selbst unsichtbar für den Film, der lediglich ihren Einschlag registrieren kann: als Staubwolke, als ein Stück absplitternden Fels. Oder als Einschusswunde.

Lukas Foerster

"Jîn". Regie: Reha Erdem. Mit Deniz Hasgüler, Onur Ünsal, Sabahattin Yakut u.a., Türkei 2013, 122 Minuten. (Alle Vorführtermine)