Außer Atem: Das Berlinale Blog

Denis Cotes 'Vic+Flo haben einen Bären gesehen' (Wettbewerb)

Von Lukas Foerster
11.02.2013. Die 61-jährige Vic kommt aus dem Knast, sie ist vorzeitig, aber auf Bewährung entlassen, eigentlich sitzt sie lebenslänglich. Unterkommen wird sie in einem Haus von Verwandten, das einst Teil eines landwirtschaftlichen Betriebs war, aber jetzt eindeutig nicht mehr Teil einer Wertschöpfungskette ist. Auf dem Weg dorthin, an der Bushaltestelle, unterhält sie sich, in der ersten Szene des Films, mit einem Kind in Pfadfinderuniform, das mit seinem Trompetenspiel Geld verdienen will. So schlecht, wie Du spielst, meint Vic, bekommst du keinen Cent. Gib mir doch Geld, damit ich einen Anreiz bekomme, besser zu werden, sagt das Kind. In allen Beziehungen, auch solch flüchtigen, wie dieser ersten, an der Bushaltestelle, gibt es mindestens zwei Perspektiven. Denis Cotes "Vic et Flo ont vu un ours" zeigt eine ganze Reihe von Beziehungen; und keine einzige davon kann man in einer Perspektive erfassen.


Die 61-jährige Vic kommt aus dem Knast, sie ist vorzeitig, aber auf Bewährung entlassen, eigentlich sitzt sie lebenslänglich. Unterkommen wird sie in einem Haus von Verwandten, das einst Teil eines landwirtschaftlichen Betriebs war, aber jetzt eindeutig nicht mehr Teil einer Wertschöpfungskette ist. Auf dem Weg dorthin, an der Bushaltestelle, unterhält sie sich, in der ersten Szene des Films, mit einem Kind in Pfadfinderuniform, das mit seinem Trompetenspiel Geld verdienen will. So schlecht, wie Du spielst, meint Vic, bekommst du keinen Cent. Gib mir doch Geld, damit ich einen Anreiz bekomme, besser zu werden, sagt das Kind. In allen Beziehungen, auch solch flüchtigen, wie dieser ersten, an der Bushaltestelle, gibt es mindestens zwei Perspektiven. Denis Cotes "Vic et Flo ont vu un ours" zeigt eine ganze Reihe von Beziehungen; und keine einzige davon kann man in einer Perspektive erfassen.

Flo findet etwas später in den Film. In der ersten Einstellung nach ihrer Ankunft sieht man sie nicht, da steckt sie gemeinsam mit Vic, ihrer Partnerin, unter der Bettdecke. Auch Flo hatte ein bewegtes Vorleben, das sie bald einholt. Sie ist jünger als Vic und viel hält sie nicht von der Idee, ihre immer noch besten Jahre abgeschnitten vom Rest der Welt auf einer stillgelegten Salzfarm zu verbringen. Anders als Vic schläft sie auch mit Männern, einen reißt sie sich bald nach ihrer Ankunft in der örtlichen Kneipe auf.

Zwei beschädigte Leben in der unglamourösen frankokanadischen Provinz: Wunden lecken zwischen Mischwäldern, Landstraßen, schmucklosen Funktionsbauten. Und anderen Landbewohner. So unterschiedlich die Menschen sind, die im Film auftauchen, so wenig man sie unter Schlagworten wie white trash subsumieren könnte, so sehr eint sie (mit Ausnahme von Flo vielleicht) die Distanz zum urbanen, glatten Lebensstil. Toll ist der Film nicht zuletzt darin, wie er Menschen und Sprechweisen in Bild und Ton setzt, die im Kino sonst kaum präsent sind – und wenn doch, dann höchstens als "soziale Attraktionen". Denis Côtés Kamera interessiert sich für Gesichter um derer selbst willen; der Film ist durchzogen von quasi-Porträtaufnahmen, die oft außerhalb des Handlungsflusses stehen; die den narrativen Drive momenthaft suspendieren, wie, um den Zuschauer immer wieder daran zu erinnern: Das sind die Menschen, von denen hier erzählt wird, sie haben eine Existenz auch außerhalb der Zusammenhänge, die um sie herum aufgebaut werden. Die einzige Rückblende in Vics Gefängnisaufenthalt erzählt zum Beispiel nicht einmal den Hauch einer Geschichte, besteht lediglich aus einer Montage von Großaufnahmen einiger Häftlinge.



Ansonsten geht es dem Film - dem bisher besten, außergewöhnlichsten des Wettbewerbs - durchaus darum, aus den Gesichtern wieder fragmentarische Geschichten zu formen; sie zu fiktionalisieren, ohne sie in diesen fiktionalen Existenzen dann gleich wieder festzubinden. Zu den beiden zentralen Figuren treten weitere: Vics Bewährungshelfer Gillaume vor allem, ein junger Mann mit weichem Gesicht, der wirkt, als hätte er, in genauem Gegensatz zu Vic und Flo, den von ihrer Vergangenheit körperlich und psychisch gezeichneten Frauen, nicht nur keine Leichen im Keller, sondern gleich überhaupt keine soziale Existenz. Flo kommt nicht klar mit diesem weichem Gesicht, einmal will sie Guillaume dazu bringen, in eine Mülltonne zu steigen, damit er sich auch einmal schmutzig macht, oder auch nur, um ihn auf seine Körperlichkeit hinzuweisen. Doch Guillaume wehrt sich, nicht nur in dieser Szene, gegen Flo und ihre Versuche, sein Leben für ihn zu definieren. Und dann taucht noch eine dritte Frau auf, Marina nennt sie sich und ihr aggressiver Flirt mit Vic ist nur der Beginn eines Spiels, das erst harmlos ausschaut, aber einiges an Eskalationspotential offenbart. Vielleicht, weil Marina sich nicht auf die Perspektivumkehr einlässt. Das mutige und selbst im Kontext der von Anfang an offenen Dramaturgie überraschende Ende des Films - das, ein fast schon absurder Zufall, der hier nur nebenbei erwähnt sei, ein entscheidendes Detail aus Arslans "Gold" aufgreift - nimmt einem dann sehr nachhaltig den Atem.

Lukas Foerster


"Vic+Flo ont vu un ours" (Vic+Flo haben einen Bären gesehen). Regie: Denis Côté. Mit Pierrette Robitaille, Romane Bohringer, Marc-André Grondin. Kanada 2013, 90 Minuten. (Alle Vorführtermine)