Außer Atem: Das Berlinale Blog

Heroischer Kampf der Arbeiterklasse: Ken Loachs 'Spirit of 1945'

Von Thekla Dannenberg
11.02.2013. Natürlich hat niemand einen solch zärtlichen Blick auf die britischen Arbeiter wie Ken Loach, aber bei Sam Watts übertrifft sich Loach selbst. In wunderbarstem Arbeiterklasse-Akzent lässt er diesen 90-jährigen Mann erzählen, wie er in den dreißiger Jahren mit seinen sieben Geschwistern in einem Slum in Liverpool aufwuchs, wie er mit vier Brüder in einem Bett voller Ungeziefer schlief. Immer wieder starben Geschwister von ihm an Hunger, Kälte oder Krankheit. Mit etwas über 20 Jahren las Watts sein erstes Buch, "The Ragged-Trousered Philanthropists", die Bibel der Arbeiterklasse, und er begriff, dass England gar kein armes Land ist, sondern das größte Empire der Welt, ein Land voller Reichtum, der nur anders verteilt werden müsste. Klar war Sam Watts dabei, als Labour sich 1945 daran machte, das Land umzukrempeln.


Natürlich hat niemand einen solch zärtlichen Blick auf die britischen Arbeiter wie Ken Loach, aber bei Sam Watts übertrifft sich Loach selbst. In wunderbarstem Arbeiterklasse-Akzent lässt er diesen 90-jährigen Mann erzählen, wie er in den dreißiger Jahren mit seinen sieben Geschwistern in einem Slum in Liverpool aufwuchs, wie er mit vier Brüder in einem Bett voller Ungeziefer schlief. Immer wieder starben Geschwister von ihm an Hunger, Kälte oder Krankheit. Mit etwas über 20 Jahren las Watts sein erstes Buch, "The Ragged-Trousered Philanthropists", die Bibel der Arbeiterklasse, und er begriff, dass England gar kein armes Land ist, sondern das größte Empire der Welt, ein Land voller Reichtum, der nur anders verteilt werden müsste. Klar war Sam Watts dabei, als Labour sich 1945 daran machte, das Land umzukrempeln.

Ken Loach zeigt in seiner Dokumentation "The Spirit of 1945", wie Clemens Atlee mit seiner ersten Arbeiter-Regierung des Landes die große Umverteilung in Angriff nahm, oder zumindest die große Verstaatlichung aller wirtschaftlichen Schlüsselbereiche: das Gesundheitswesen, die Industrie und das Transportwesen. Mit viel Archivmaterial von demonstrierenden Arbeitern und Fäuste schwingenden Politikern, aber vor allem mit Interviews alter Labour-Veteranen erinnert er daran, wie die Arbeiterbewegung, die so erfolgreich den Krieg gewonnen hatte, nun ihren Sieg dazu nutzte, den Frieden zu gestalten. In die zeitlichen Abstände verwischendem Schwarzweiß erinnern Krankenschwestern, Kohlekumpel oder Dockarbeiter an Not und Ausbeutung, bevor sie mit viel Emphase die große Errungenschaften der nationalen Verstaatlichungen preisen.

Los ging es 1945 mit dem Gesundheitssystem. Das alte System war von den Reichen für die Reichen, umreißt eine Krankenschwester ungefähr den Mechanismus. Zwar kamen die Ärzte zu allen Kranken nach Hause, aber anschließend kam ihr Schuldeneintreiber. Als nächstes war der Bergbau dran, die alten Gewerkschafter schütteln sich noch heute in der Erinnerung an die alten tyrannischen Minenbesitzer. Im gleichen Schema folgen Docks, die Stromversorgung, British Rail, die Telekommunikation, das Wasser. Das bietet wenig Überraschungen und ist auf Dauer doch etwas ermüdend. Wenn 1979 dann Loachs Gottseibeiuns in Gestalt von Margaret Thatcher die Bühne betritt, fährt man zwar kurz zusammen, aber dann spult sich das Programm quasi rückwärts noch einmal ab: Die Minen werden privatisiert, die Stahlindustrie, die Busse, British Airways und Rolls Royce. Die Bilder der stolzen britischen Schlüsselindustrien werden nun verschwommen und pixelig, wo sie zuvor so kraftvoll und energiegeladen waren wie im Sowjetkino. Mit Thatcher kamen die Probleme und die Drogen nach Nordengland, vorher gab es das dort nicht, sagt der Gewerkschafter.



Heute müssen die alten Kämpfer also wieder ihre Faust erheben, denn wie Sam Watts herrlich selbstbewusst posaunt: "Das ganze System ist verdorben und korrupt. Je schneller man es beseitigt, umso besser." Dann sehen wir demonstrierende Arbeiter auf der Straße, während arrogante Banker mit den Händen in den Hosentaschen aus ihren Glastürmen herabblicken. So erbaulich und herzerwärmend wie Loachs Spielfilme wirkt diese Geschichtslektion nicht, sondern leider so trocken wie schlicht. Natürlich würde Ken Loach niemals untersuchen, wann Verstaatlichungen und wann Privatisierungen sinnvoll wären, wie man den öffentlichen Sektor sinnvoll modernisiert und ob der Staat automatisch den Interessen der Arbeiterklasse dient. Aber dass er nur Menschen präsentiert, die in über siebzig Jahren ihre Sicht auf die Dinge keinen Deut verändert haben, sondern den immer gleichen Stiefel durchziehen, das tut der Arbeiterklasse vielleicht ein bisschen unrecht. Trotzdem großer Applaus von links vorn.

Thekla Dannenberg

"The Spirit of 1945". Regie: Ken Loach. Großbritannien 2013, 94 Minuten (alle Vorführtermine)