Außer Atem: Das Berlinale Blog

Fordert Ergebenheit: 'Leviathan' von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel (Forum Expanded)

Von Nikolaus Perneczky
16.02.2013.


Lucien Castaing-Taylor, zuletzt mit "Sweetgrass" (zusammen mit seiner Frau Ilisa Barbash) auf der Berlinale vertreten, und seine Ko-Regisseurin Véréna Paravel haben - an Bord eines Industrie-Fischereiboots in den Gewässern vor Neuengland - ein Monstrum von einem Experimentalfilm geschaffen. Sein andeutungsreicher Name: "Leviathan". Die halb akademische, halb künstlerische Disziplin, woraus "Leviathan" seine ästhetischen Impulse bezieht, heißt "Sensory Ethnography": eine multisensorielle Ableitung und Ausweitung der visuellen Anthropologie, die Castaing-Taylor am Department of Visual and Environmental Studies in Harvard lehrt.

Das Monströse des Films ist im Einzelnen schwer zu fassen, ist es doch erst die Verkettung der kontrastreichen und grobpixeligen Digitalaufnahmen, die den titelgebenden Leviathan zum Leben erweckt: ein mechanisches Ungetüm, das sich, organische Materie vernichtend, durch ein über weite Strecken in Dunkelheit gehülltes Meer fräst. Wenn hier von Verkettung die Rede ist, dann gewiss nicht in einem kausalen Sinn. Zwar scheint eine grobe Dramaturgie von Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung die Abfolge zu strukturieren. Aber weder sind einzelne Abschnitte oder szenische Einheiten zu isolieren, noch geht es den Filmemachern darum, ein wie immer geartetes Verständnis der industriellen Fischerei zu vermitteln.

Was Castaing-Taylor und Paravel uns stattdessen anbieten, ist Überwältigung, ozeanisches Gefühl: "Leviathan" strebt fort vom menschlichen Standpunkt, aber auch von jener subjektiven Überformung des Realen, die noch bei der Festlegung von Position oder Bewegungsvektor der Kamera mitspielt. Dies gelingt dem Film, indem er sich in ungekannter Weise dem vorliegenden Dingzusammenhang aussetzt bzw. - negativ gewendet - sich ihm bisweilen ganz ergibt. Dies eine zumindest bedenkliche Konsequenz von Castaing-Taylors und Paravels Methode, da sie auch vom Zuschauer eine gewisse Ergebenheit einfordert. Nur ein einziges Mal tritt ein Mensch in den Fokus, ein Arbeiter, ausgerechnet im Zustand totaler Erschöpfung, dem wir beim allmählichen Einschlafen zusehen. Hier zeigt sich der geeignete Wahrnehmungsmodus für "Leviathan": Man kann den Film nur in dem Maß genießen bzw. fürchten, in dem man sich selbst verliert.

"Leviathan" erschließt nicht neue Räume, sondern überlässt sich dem bestehenden Raum des Fischereiboots. Die kleinen Kameras, mit denen Castaing-Taylor und Paravel gefilmt haben, nehmen zwar viele unterschiedliche und bisweilen haarsträubende Blickwinkel ein. Dennoch wäre es falsch, ihre Beweglichkeit mit der Hypermobilität gleichzusetzen, wie sie das Signum etwa von Dziga Vertovs "Mann mit der Kamera" war. Der neue Blickwinkel überrascht und überrumpelt in "Leviathan" nur momentan, wird dann aber oft als Ausgangs- und Durchgangspunkt eines sich stur wiederholenden Bewegungsablaufs erkennbar. Am Grund dieser Bewegung liegt das wellenförmige Auf und Ab, dem das Schiff unterliegt und das alles an Bord in seinen Rhythmus einlullt. Von ihm lässt sich die Kamera - in geheimer Komplizität mit den Dingen - manchmal minutenlang völlig affizieren. Ihr Standpunkt ist weniger Einschnitt in die sichtbare Materie, als dass er sich von dieser Materie selbst einspinnen lassen würde.



Von der Sichtbarkeit gelangen wir über diese Akzentverschiebung zur Taktilität und darüber hinaus. Zu dem, was bleibt, wenn nichts oder kaum mehr etwas zu sehen ist: ein infernalisch dröhnend-scheppernd-kreischender soundscape. Einmal finden wir uns in einem Hohlraum an Deck wieder, in dem die sterblichen Überreste der Fische - Köpfe, Schwanzflossen, organisches Gewebe - darauf warten, von der nächsten Welle durch eine kleine seitliche Öffnung am Boot ins Meer gespült zu werden. Wasser schwappt in dem Hohlraum hin und her, und die Kamera mit ihm. Am äußersten Punkt wird sie selbst zur Materie, Fischkopf unter Fischköpfen.

Aber auch das Schiff selbst ist eine räumliche Begrenzung; ein Ungetüm, das sich stampfend und mahlend durch eine endlos schwarze Nacht schiebt. Eine andere Wirklichkeit kennt "Leviathan" nicht, sieht man vom unmittelbaren Umfeld des Kutters ab, das später, bei Tag, in den Blick kommt, indem die Kamera am Bug hinab ins Wasser taucht. Aber auch diese Erweiterung bringt keinen neuen Raum ins Spiel, sondern justiert die Linien des Kraftfelds nach als welches das Boot bei Tageslicht erscheint. Der Leviathan schlägt derart große Wellen, dass seine unmittelbare Umgebung - ganz so wie die Kamera -davon in Mitleidenschaft gezogen und ins große, erhabene Ganze eingefaltet wird.

Die Charakteristik der Hochseefischerei, die aus all dem hervorgeht, erschöpft sich in der zentrumslosen Konkretion dieses mechanischen Seeungeheurs, die immer wieder in ästhetische Abstraktion umschlägt. Nicht nur die manchmal blinde Nähe zu den Dingen, sondern auch die digitalen Bilder zersetzen tendenziell die Konturen des Figurativen. Auch die Abstraktion von den sozialen und ökonomischen Bedingungen der industriellen Fischerei wird in "Leviathan" in Kauf genommen. Das kann man dem Film zum Vorwurf machen. Seine eigenen Ansprüche aber erfüllt er bravourös.

Nikolaus Perneczky

"Leviathan". Regie: Lucien Castaing-Taylor, Véréna Paravel. Großbritannien / USA / Frankreich 2012, 87 Minuten.