Außer Atem: Das Berlinale Blog

Blick auf ein kompliziertes Material: Kidlat Tahimiks 'Balikbayan #1' (Forum)

Von Nikolaus Perneczky
13.02.2015. Wäre ein Meisterwerk der improvisierten Weltumrundung, wenn er es denn überhaupt sein wollte: Doch noch ein Versuch, über Kidlat Tahimiks "Balikbayan #1 Memories of Overdevelopment Redux III" zu schreiben.


Der erste Mensch, dem es gelang, die Erde persönlich zu umrunden, war gar nicht der portugiesische Weltumsegler Ferdinand Magellan, sondern sein philippinischer Sklave Enrique. So jedenfalls geht die apokryphe Geschichte, die Kidlat Tahimiks überragendes Alterswerk "Balikbayan #1: Memories of Overdevelopment Redux III" erzählt. An Enriques Seite (schelmisch verkörpert von Tahimik im Lendenschurz) wird dieses Gründungsnarrativ der globalisierten Moderne gründlich gegen den Strich gelesen: Die global vernetzte Welt ist hier keine Erfindung westlicher Imperialisten, sondern geht auf Impulse aus der "unterentwickelten" Peripherie zurück.

Wie in Patricio Guzmáns diesjährigem Wettbewerbsbeitrag "El botón de nácar", so kommunizieren marginale und vermeintlich vormoderne Lebensweisen auch in Tahimiks Film mit globalen und sogar kosmischen Maßstäben. Anders als Guzmán hält Tahimik jedoch an keinem Reinheitsideal fest. Im Gegenteil ist sein Schaffen auf allen Ebenen - narrativ, ikonografisch, materialästhetisch - haltlos und unentwirrbar hybrid. Enrique ist in keinem (jedenfalls in keinem einfachen) Sinn eine authentische Figur, sondern anteilig Filipino und anteilig Karikatur des Primitiven, ohne dass Tahimik es auf so etwas wie Ideologiekritik abgesehen hätte. Alles ist immer schon viel zu sehr mit allem anderen verwickelt, als dass man feinsäuberliche Unterscheidungen, etwa zwischen vorkolonialer Wahrheit und kolonialistischer Projektion, treffen könnte.

In Wirklichkeit, das kommt verkomplizierend noch hinzu, ist "Balikbayan #1" gar nicht der Film über den Sklaven von Magellan, den ich hier zu beschreiben versucht habe, sondern (wie Tobias Hering es nach der Vorführung im Gespräch mit dem Regisseur nannte) eine Reinkarnation dieses Films oder, noch einmal anders gewendet, ein Dokument seines Scheiterns, das zugleich die Umstände dieses Scheiterns einholt und für eine politische Kritik verfügbar macht. "Balikbayan #1" integriert analoges Filmmaterial, das Tahimik Anfang der 1980er gedreht hat und in das sich die Spuren einer schwierigen Produktions- und Archivgeschichte eingebrannt haben, gemeinsam mit neu gedrehten Digitalaufnahmen zu einer rekursiven Bildschleife, die der Linearität des manifesten Plots - in drei Jahren um die Welt - auf hintersinnige Weise zuwiderläuft.

Als das Meisterwerk, das er ist, möchte ich "Balikbayan #1" nur deshalb nicht bezeichnen, weil der Begriff gegen alles geht, wofür Tahimik steht. Dem professionalisiert souveränen Umgang mit der Technologie Kino ist er ein ganzes Leben lang absichtlich aus dem Weg gegangen. Dagegen stellt er, in einem Text aus dem Jahr 1986, sein eigenes Ethos des improvisierten "two-cups-of-gas filmmaking" in kleinen Energiemengen und ohne Option auf längerfristige Vorausplanung. "Balikbayan #1" ist der vorläufige Kulminationspunkt dieses einzigartigen Projekts - ein "film in process", wie es einmal heißt, und zugleich der beste aktuelle Film, den ich auf der diesjährigen Berlinale gesehen habe.

Nachdem der Abspann abgerollt war, stürmte Tahimik im (von seiner Frau Katrin genähten) Magellan-Kostüm auf die Bühne des Delphi, um sich einen spöttisch gemeinten Doktor der Kinematographie zu verleihen. Dann riss er sich den Magellan vom Leib. Darunter trug er einen Lendenschurz. "Balikbayan #1" ist die Art von politischem Kino, die auch die Vorführbedingungen unmittelbar reflexiv werden lässt. Auf Tahimiks Hinweis, dass er nun, da er den Film erstmals in einem ordentlichen Kino gesehen hat, den Ton neu abmischen wolle, erwiderte der Moderator: "German technology is brutal."

Kidlat Tahimik: "Balikbayan #1 Memories of Overdevelopment Redux III". Mit Kidlat Tahimik, George Steinberg, Kawayan de Guia, Wigs Tysman, Katrin de Guia, Kabunyan de Guia, Danny Orquico, Marlies v. Brevern, Mitos Benitez, Marita Manzanillo, Jeff Cohen, Craig Scharlin. Philippinen 2015, 146 Minuten. (Vorführtermine)