Außer Atem: Das Berlinale Blog

Oper ist Aufopferung! Lav Diaz' "In Zeiten des Teufels" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
20.02.2018.


Sie singen langsam, und sie singen alles dreifach. Von Anfang an zwingt dieser Film die Zuschauer in einen extrem gemächlichen Rhythmus. Die Philippinen sind ja nicht gerade das Land der großen Ströme - aber vielleicht sind es schon die Tropen, die diese Langsamkeit nahelegen. Lav Diaz erzählt die Zeit der Verfolgung angeblicher Kommunisten unter Ferdinand Marcos als eine Oper. Irgendwo fiel das Wort "Rockoper", aber das wäre bei weitem übertrieben. Lärm wird in diesem Film nicht gemacht: Sie singen a cappella, manchmal zu mehreren, selten mit Ansätzen zu homophoner Mehrstimmigkeit. Es ist häufig ein Singsang, aber nicht rezitativisch, durchaus metrisch und mit Reim und Strophen.

Wie durch eine Lupe lässt diese Musik einen Blick auf die Sprache zu - ist es Filipino? -, eine asiatische Sprache mit vielen eingestreuten europäischen Wörtern, meist spanischen Ursprungs. Sie wirkt klanglich gar nicht so exotisch, man erkennt die Reime, es hat etwas geradezu Didaktisches.

Oper ist ohnehin ein Medium der Verlangsamung: Man vergleiche die Textmengen des Don Karlos und der Verdischen Veroperung des Schiller-Dramas. Oper schematisiert, beim bloßen Lesen ist sie Vergröberung, und entrückt zugleich das Geschehen ins Mythische, auch Märchenhafte, ja, Unwahrscheinliche: Wie wahrscheinlich ist es schließlich, dass die Menschen ihre Konflikte singend ausagieren? Das schimmernde, aber nie ästhetisierende Schwarzweiß der Kamera und die oft extremen Weitwinkel-Einstellungen in den engen Häusern tragen zu dieser Entrückung bei.

Meiner Meinung nach spielt Lav Diaz mit den Mustern und den Erwartungen des Operngenres, die er zunächst geduldig aufbaut und dann in einem Finale von überwältigender Traurigkeit niederreißt.

Auch das Personal kommt einem vertraut vor wie aus einer romantischen Spieloper des 19. Jahrhunderts: Im Mittelpunkt steht ein junger Dichter namens Hugo als zentrale, wenn auch bei weitem nicht einzige Lichtgestalt. Er ist eher der Katalysator des Geschehens als sein Akteur: Zu Anfang sieht man ihn in einer glücklichen, westlich wirkenden Kneipenszene mit jungen Künstlerfreunden, wie er einen Text rezitiert.

Seine Frau Lorena bricht auf in eine abgelegene Provinz im Dschungel, wo die Bevölkerung von Milizen drangsaliert wird. Sie ist Ärztin und eröffnet eine Krankenstation. Eingehend schildert Diaz in seinen bekannten langen Einstellungen die Szenerie, den struppigen Wald, die armen Menschen, die bei Lorena auf der Warte-Veranda sitzen - die Häuser sind nach allen Seiten offen, zugleich luftig und ungeschützt - und geduldig auf ihre Intervention warten, die Soldaten, die triumphal und dumm verkünden, eine neue Religion zu gründen, um den Leuten Angst vor den Geistern zu machen, und die immer mal wieder einen jungen Mann erschlagen und eine Mutter ihres Sohns berauben.



Hugo bleibt zurück, wird zum Trinker, verliert sich in Wehleidigkeit und wird von einer anderen Frau, die auf seine Gegenliebe verzichtet - ja, Oper ist Aufopferung! - wieder aufgebaut und hergerichtet, so dass er dann doch zu Lorena in den Dschungel aufbricht, zu spät, wie sich zeigen wird.

Allein diese Figur des Hugo ist reinstes 19. Jahrhundert: die Idee eines Dichters, der diesem Volk, das kaum so etwas wie eine gemeinsame Sprache hat, eine Stimme gibt. Auch die Idee seiner fast schon totalen Passivität: Er ist umgeben von Frauen. Ihr Gesang ist es im Grunde, der ihn durchströmt, den er zur Sprache bringen soll: Musen, Nornen, Pasionaras. Am grandiosesten erweist sich diese Opernhaftigkeit in einer Episode auf seiner Reise: Ihm fällt eine Frau auf, die intensiv aus dem Fenster starrt. Und die Norne - oder wie man diese immer wieder auftretende singende Erzählerin und Kommentatorin auch nennen soll - singt ihm die Geschichte dieser Frau zu: Ihr Sohn Porfirio ist von den Schergen ermordet worden. In ihrem Wahn hält sie nach ihm Ausschau, immer wieder nach ihm rufend. Diese Szene mit ihrer weit schwingenden elegischen Erzählung hätte für Auber, Lortzing oder Weber ausgedacht werden können. Der Name der Frau ist übrigens Maria.

Vor Ort wird sich zeigen, dass die Milizen Lorena längst haben verschwinden lassen. Auch das übrige Personal ist höchst gefährdet: der weiße Philosoph, der die Unhaltbarkeit dieser Zustände besingt. Und die hexenhafte Sinta, die allein in einer Waldklause lebt und deren kehlige Rufe in den Wald sogar die Soldaten nervös aufhorchen lassen. Als der Dichter auf Sinta trifft, die mit den wahren Kräften der Natur im Bunde steht, löst sich seine Starre, und er kann wieder schreiben. Die Blätter fliegen nur so in den Wald.

Aber das Finale ist nicht mehr 19. Jahrhundert, sondern 20. Jahrhundert in seiner Grausam- und 21. Jahrhundert in seiner Illusionslosigkeit: So wie die heilige Lorena werden auch all die anderen Lichtfiguren erledigt, der Aufklärer ebenso wie die Naturmystikerin und am Ende der Dichter, in dem sich all diese Kräfte bündeln sollten. Es triumphiert der gnadenlos alberne Refrain der singenden Soldaten, und das Ende hinterlässt das Publikum ohne Trost.

Die Norne hatte schon mehrfach gewarnt: Es bleibt von diesem Aufbegehren "ein gebeugtes Antlitz, ein Name, der verschwindet", also nichts eigentlich, außer eben diesem Lied und diesem Film. Es bleibt auch ein mitten in den Film gestreutes Bild, vielleicht nur ein Traumbild, das erst nach dem Ende zu verstehen ist - von einem kleinen Jungen, der unter den Blicken einer Hexe die in den Wald verstreuten Blätter des Dichters als Papierflieger starten lässt.

Ang Panahon ng Halimaw - In Zeiten des Teufels. Regie: Lav Diaz. Mit Piolo Pascual (Hugo Haniway), Shaina Magdayao (Lorena), Pinky Amador (Aling Sinta / Kwago), Bituin Escalante (Kwentista), Hazel Orencio (Teniente). 234 Min · Schwarz-Weiß. (Vorführtermine)