Außer Atem: Das Berlinale Blog

Ein größerer Rhythmus: François Ozons "Grâce à Dieu" (Wettbewerb)

Von Thierry Chervel
08.02.2019.


Alexandre sieht genauso aus, wie Pariser, die froh sind, nicht in der Provinz leben zu müssen, sich den Lyonnaiser Bourgeois vorstellen: brav gescheitelt, mit Barbour-Jacke, fünf Kindern, darunter nur einem Töchterchen, einer hübschen Frau, und gutem Auskommen. Alexandre ist einer, der - gibt es das wirklich noch? - seine Mutter siezt. Alexandre geht jeden Sonntag zur Messe, und seine Kinder, die vorher brav Klavier üben, gehen brav mit. Alexandre glaubt wirklich noch dran. Und seine Frau, die ihn den ganzen Film über nach Kräften unterstützt, glaubt auch dran und ist Lehrerin am katholischen Gymnasium.

Alexandre ist es, der die Sache ins Rollen bringt, die François Ozon in den mehr als zwei Stunden seines Films in erstaunlicher Nüchternheit ausbreitet. Der Rhythmus des Films hat etwas Lehrfibelhaftes - und dann und dann und dann. Die paar kurzen Rückblenden sind überflüssig. Die Musik ist unauffällig, der Ton sehr o-tonhaft, ein wenig klirrend. Die Sachlichkeit ist gewollt. Ozon erinnert damit an den Erzählduktus des katholischen Kinos, das in Frankreich eine so große Tradition hat: Robert Bresson oder Alain Cavalier gaben sich immer äußerste Mühe, in ihren Filmen nicht zu schönen. Die gute Nachricht sollte als etwas ganz Konkretes überbracht werden.

Alexandre beginnt seinen Versuch, die eigene Geschichte aufzuklären, im besten Glauben an die katholische Kirche: Er wendet sich an die Hierarchie. Der Bischof empfängt ihn auch, bekennt in virtuosen Formeln seine Betroffenheit und betet. Auch der Pater Preynat, um dessen Verbrechen es geht, trifft sich mit Alexandre, und Alexandre muss sich von ihm nochmal anfassen lassen, denn man stellt sich, gemeinsam mit der katholischen Psychologin in einen Dreierkreis, fasst sich an den Händen und betet.

Preynat ist ein Phänomen: Er leugnet nie. Er gibt immer zu, die Kinder angefasst, ihnen Küsse gegeben, unter die Turnhose gegriffen und ihren Penis berührt zu haben. Er sagt, er sei krank. Und er habe sich hilfesuchend an den Bischof gewandt. Die erwachsenen Opfer, die sich ihm konfrontieren, duzt er, spricht sie an, als hätten sie eben das Pfadfinderlager verlassen, und man hat das Gefühl, er will sie umarmen, weil er sie alle doch liebt. Das ist diese ganz spezifische religiöse Klebrigkeit.

Unter dem schlichten Stakkato des Films pulsiert noch ein anderer, größerer Rhythmus. Alexandre, der brave katholische Bankmanager mit dem Aquascutum-Mantel kapiert irgendwann, dass die katholische Kirche ihm nicht helfen wird, die Dinge ans Licht zu bringen. Das Sündergetue ist eine Einschläferungsstrategie. Auch Pater Preynat, von dem immer wieder erzählt wird, nun arbeite aber nicht mehr mit Ministranten, macht immer weiter, lässt sich immer wieder mit Kindern fotografieren, wird von seinen Oberen nie ernstlich behelligt. Alexandre beschließt also, Klage zu erheben, obwohl sein Fall verjährt ist.

Dieser größere Rhythmus in dem Film ist einer der Befreiung. Hier zeigt sich die Schönheit von Ozons Ansatz: Gerade im nüchternen Erzählen dessen,was ja tatsächlich passiert ist - alle Figuren im Film sind ziemlich eins zu eins an die Realität angelehnt - ist es ergreifend zu spüren, dass Alexandre nicht allein bleibt. Andere Protagonisten treten hinzu. Die Justiz nimmt ihre Arbeit auf. Sie findet François, dessen Fall nicht verjährt ist. Opfer ist man in der Vereinzelung, die Gemeinsamkeit erlaubt es, sich von der Geschichte zu emanzipieren. Sie gründen "La Parole Libérée", gehen an die Presse. Emmanuel kommt hinzu, und noch mehr nicht verjährte Fälle, so dass die Schuldigen neben der vagen Perspektive auf eine himmlische Gerechtigkeit, zunächst mal der irdischen Justiz zugeführt werden können. Über die tatsächlichen Ereignisse, die dem Film zugrunde liegen, berichtet Eberhard Spreng im Tagesspiegel.

Im Presseheft (hier als pdf-Dokument) erzählt Ozon, dass der Film auf seine Idee zurückging: Er habe in so vielen Film Geschichten starker Frauen erzählt, nun wolle er über verletzte Männer sprechen. Dass dieser Film nicht an ihn herangetragen wurde, erstaunt beim ersten Sehen: Der Film wirkt in seiner Treue zu den Fakten wie ein "Auftragswerk". Der Regisseur nimmt sich zurück, auch die Schauspieler stehen ganz im Dienst der Sache. Manche von ihnen sind in Frankreich sehr prominent und im Film doch ganz unauffällig. Ozon sagt in ein paar ganz einfachen Worten, wie er das diskrete, aber um so motivierendere Crescendo seines Films gebaut hat: "Der Film beginnt mit dem Kampf eines Individuums: Alexandre gegen die Institution. Dann übergibt er an François, der ein Kollektiv aufbaut. Und durch dieses Kollektiv taucht ein weiteres Opfer auf, Emmanuel."

Die Betroffenen hätten von ihm ein "Spotlight" gewollt, erzählt Ozon im Pressematerial auch. "Spotlight" erzählte eine ähnliche Geschichte aus Boston, aber aus der Perspektive von Journalisten, nicht der Opfer. Ganz so erbaulich und rasant ist "Gott sei dank" nicht. Ozons Film erinnert fast eher an die siebenteilige, geduldig rekonstruierende Dokumentation "The Keepers" (mehr hier), die man bei Netflix sehen kann - hier geht es vor allem um weibliche Opfer sexuellen Priestermissbrauchs in Philadelphia.

Ozon verschweigt nicht, dass neben der kollektiv errungenen Genugtuung, der Aschegeschmack der persönlichen Verletzung stets bestehen bleibt: Die Protagonisten werden weiter mit ihren Traumata zu kämpfen haben. Und man spürt im Sieg, der am Ende gefeiert wird, bereits einiger Risse künftiger Entzweiung. Aber auch Entzauberung ist Zauber: Das Lächeln, mit dem Alexandre auf die Frage seines Sohns antwortet, ob er noch an Gott glaube, ist nicht nur eines der Verlegenheit.

Thierry Chervel

Grâce à Dieu, von François Ozon. Frankreich 2019 , 137 Minuten. Mit Melvil Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud, Éric Caravaca, François Marthouret. (Vorführtermine)